| # taz.de -- Progressive Bewegungen: „Wir brauchen neue Geschichten“ | |
| > Die Autorin und Kommunalpolitikerin Mirrianne Mahn setzt sich für | |
| > Feminismus und gegen Rassismus ein. Ein Gespräch über Hoffnung und Mut. | |
| taz: Frau Mahn, der Diskursraum [1][wird] [2][zunehmend v][3][on rechts | |
| eingenommen], die Aussichten für feministische oder antirassistische Kämpfe | |
| erscheinen stark getrübt. Woran halten Sie dennoch fest? | |
| Mirrianne Mahn: Hoffnung. An der muss ich festhalten, ich habe Kinder, | |
| deshalb bleibt mir keine andere Möglichkeit. | |
| taz: Wie schaffen Sie es, hoffnungsvoll zu bleiben? | |
| Mahn: Mir gibt der Blick in die Vergangenheit immer wieder Hoffnung. Ich | |
| glaube nicht, dass ich heute hier wäre, wenn nicht andere Menschen vor mir | |
| Hoffnung gehabt und gekämpft hätten. Ich denke dann an die Frauen, die vom | |
| Sklavenschiff gesprungen sind, als es Cape Coast in Richtung USA verlassen | |
| hat, an die US-Bürgerrechtsbewegung, an Rosa Parks und andere, die | |
| irgendwann in einem Bus nicht aufgestanden sind, weil sie keinen Bock | |
| hatten und damit eine Revolution ausgelöst haben. Heute ist faktisch die | |
| beste Zeit in der Geschichte, in der ich als Schwarze Person in Deutschland | |
| leben und aktivistisch sein kann. Ich kann als Schwarze Frau in einem | |
| Parlament sitzen und wurde 2021 ohne größere Probleme in den Frankfurter | |
| Stadtrat gewählt. Vor zehn Jahren wäre das nicht ohne Weiteres möglich | |
| gewesen. | |
| taz: Was machen Sie aber, wenn zukünftige Regierungen den Fortschritt | |
| zurückdrehen? | |
| Mahn: Nicht aufgeben. Ich weigere mich zum Beispiel, auf diesen „Wohin | |
| auswandern, wenn die AfD mehr Macht bekommt?“-Zug aufzuspringen. | |
| Deutschland ist meine Heimat. Ich sehe es gar nicht ein, zu gehen. | |
| taz: Sie kämpfen also weiter. Was genau bedeutet das für Sie? | |
| Mahn: Ich finde nichts emanzipatorischer, als die eigene Wirkmacht zu | |
| spüren. Zu spüren, wenn Ideen Realität werden. Beim Schreiben eines | |
| Artikels, im Theater, oder durch eine Wortmeldung beim Jour fixe. Mit | |
| diesen vermeintlich alltäglichen Momenten können wir der Machtlosigkeit | |
| entgegentreten. | |
| taz: „Die eigene Geschichte – erst sich selbst und dann der Welt – zu | |
| erzählen, ist ein revolutionärer Akt“, haben Sie gesagt. Welche Geschichte | |
| müssen wir die nächsten Jahre hören? | |
| Mahn: Wir brauchen neue Geschichten, die den regulären Ablauf stören, die | |
| Sehgewohnheiten und Labels aufbrechen. Es ist ein revolutionärer Akt, wenn | |
| wir in Filmen eine Frau als Präsidentin der USA sehen, auch wenn sich die | |
| Bevölkerung dem noch vehement verwehrt. Es ist ein revolutionärer Akt, wenn | |
| wir in „Black Panther“ ein handlungsfähiges, reiches Afrika sehen. Kunst | |
| und Literatur haben die Gabe, komplexe Zusammenhänge emotional zugänglich | |
| zu machen. Und was mich berührt, bewegt mich vielleicht dann auch dahin, | |
| aktiv zu werden. | |
| taz: Was bestärkt Sie auf Ihrem Weg? | |
| Mahn: Der Glaube, dass es weitergeht. Das Leben verläuft nie linear, aber | |
| irgendwie denken wir, Gesellschaft und Politik müssten sich linear | |
| progressiv entwickeln. Statt an ein lineares Wachstum sollten wir uns viel | |
| mehr eine Schlangenlinie vorstellen. Historisch haben soziale Bewegungen | |
| oft zwei Schritte vor und dann erst mal einen zurück gemacht. Der | |
| Widerstand gegen feministische, intersektionale Aktivist:innen, den wir | |
| gerade erleben, ist für mich ein Zeichen, dass die Bewegung den Mächtigen | |
| sehr gefährlich wird. Wir erleben gerade ein Aufbäumen des Patriarchats, | |
| weil Gleichberechtigung sich für die Mächtigen oft wie Unterdrückung | |
| anfühlt. Und nichts ist gefährlicher für den Unterdrücker als die Hoffnung | |
| der Unterdrückten. Aber ich weiß auch, dass die nächsten Jahre erst nochmal | |
| schwieriger für marginalisierte Menschen in Europa, in Deutschland werden, | |
| bevor es wieder nach vorne geht. | |
| taz: Wie können wir [4][gesellschaftlichen Fortschritt] in diesen Zeiten | |
| schlechter Nachrichten greifbar machen? | |
| Mahn: Gerade scheinen alle Horrorszenarien denkbar. Aber in einer Welt, in | |
| der wir uns alles vorstellen können, sollten wir nicht vergessen, uns eine | |
| gute, eine bessere Welt vorzustellen. Denn das, was wir nicht erträumen | |
| können, danach können wir auch nicht greifen. | |
| taz: Für welche Vision kämpfen Sie? | |
| Mahn: Dafür, wofür auch Martin Luther King gekämpft hat: Eine Welt, in der | |
| alle Menschen gleichberechtigt leben können. Ich stelle mir einen Deutschen | |
| Bundestag vor, dessen Entscheidungen alle Menschen mitdenken. Ich stelle | |
| mir ein Deutschland vor, in dem Deutschsein nicht gleich Weißsein heißt. | |
| Und ich wünsche mir eine Welt, in der es egal ist, ob ich Schwarz, weiß | |
| oder Person of Color bin, ob ich eine Behinderung habe oder queer oder | |
| jüdisch bin. Unser langfristiges Ziel muss das Bestmögliche für alle | |
| Menschen sein. | |
| taz: Wie kommen wir dahin? | |
| Mahn: Aktuell sind wir noch in einer Übergangsphase, in der bestimmte | |
| Merkmale und Kategorien noch herausgestellt werden müssen, um | |
| Ungleichheiten zu benennen. Das machen wir, damit all das im nächsten | |
| Schritt egal ist. Es ist egal, wer auf Buchcovern ist, jede Person kann | |
| jede Rolle im Theater spielen und alle Menschen können alles machen und | |
| sagen, was sie wollen. | |
| taz: Die letzten Jahre emanzipatorischer Bewegungen waren [5][geprägt von | |
| spalterischen Kämpfen], auch angetrieben durch Rechtsradikale. | |
| Mahn: Es ist faszinierend, wie die Rechte den öffentlichen Diskurs teils | |
| gekapert und Begriffe wie woke zu Schimpfwörtern gemacht hat. Jetzt könnte | |
| ich um den Begriff und seine ursprüngliche Bedeutung kämpfen. Aber wissen | |
| Sie – geschenkt! Das Wort hat andere motiviert, sich zu engagieren. Aber es | |
| war nur eine Krücke oder diente nur als eine Art Gips. Er stützte und | |
| ermöglichte es den Aktivist:innen, sich zu bewegen. Aber wenn du schon | |
| selbstständig gehen kannst, musst du nicht an ihm festhalten. | |
| taz: Im Diskurs werden immer wieder Gruppen aus emanzipatorischen | |
| Bewegungen gegeneinander ausgespielt. Kriege gegen Klimawandel, | |
| Antisemitismus gegen Rassismus. | |
| Mahn: Marginalisierte Gruppen dürfen sich nicht länger gegeneinander | |
| ausspielen lassen. Das führt nur zu Streit und am Ende schauen alle nach | |
| rechts und nach unten – und kaum jemand nach oben. Wir können nicht ändern, | |
| dass alles gleichzeitig passiert. Wenn wir aber versuchen, es zu | |
| akzeptieren, können wir einen sinnvolleren Umgang damit finden und Probleme | |
| besser lösen. Die Klimakrise ist da, egal ob unsere Wirtschaft das cool | |
| findet oder nicht. Deshalb müssen wir intersektional denken und handeln. | |
| Damit bleibt niemand auf der Strecke und wenn es den Menschen in der | |
| schlechtesten Lage besser geht, geht es am Ende allen besser. Für diesen | |
| Grundsatz müssen wir Mehrheiten generieren. | |
| taz: Es geht also um den Gedanken, dass Gerechtigkeit alle was angeht. Wie | |
| können wir wieder Mehrheiten dafür schaffen? | |
| Mahn: Der Gedanke war noch nie in der Breite da. Das Problem in Deutschland | |
| ist, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt immer über Ausschluss definiert | |
| wird. Es gibt ein Wir, das nur zusammengehört, wenn all die anderen draußen | |
| bleiben. Stattdessen muss das Gefühl von Zugehörigkeit über Inklusion | |
| erfolgen, indem die Interessen anderer auch meine Interessen werden. | |
| 26 Jan 2025 | |
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