# taz.de -- Obdachlosigkeit und Aufbruch: Mein Leben auf der Straße | |
> Unser Autor ist auf der Straße groß geworden, der Berliner Hermannplatz | |
> war sein Wohnzimmer. Eine Geschichte von Gewalt, Drogen und Zusammenhalt. | |
Ich öffne die Haustür, und dort steht er. Er sieht gesünder aus, als ich | |
ihn in Erinnerung habe, scheint weniger Knochen im Gesicht zu haben. „Was | |
machst du denn hier?“, frage ich erstaunt. Ich wollte das Haus verlassen, | |
verabredet waren wir nicht. „Hi, ich bin gerade zwei Tage raus und dachte, | |
ich komme mal vorbei“, antwortet er. | |
Er ist frisch aus dem Knast entlassen worden. | |
Wir sind etwas unbeholfen, nesteln an unseren Sachen herum. Über ein Jahr | |
haben wir uns nicht gesehen. Jetzt, an einem Sonntag im April 2023, ist er | |
plötzlich wieder da. | |
„Komm her, lass dich drücken“, sage ich. Wir umarmen uns. Ich fühle mich | |
verbunden. So verbunden, wie ich es sonst kaum kenne. Pascal D. zählt zu | |
meiner Berliner Straßenfamilie. | |
Wir lernten uns vor langer Zeit am Hermannplatz kennen – zwischen Karstadt | |
und U-Bahn, zwischen Sonnenallee und Hasenheide. Dort war unser gemeinsames | |
Wohnzimmer. Wir gehörten zu einer Gruppe drogenabhängiger Obdachloser, die | |
sich hauptsächlich an diesem Platz aufhielten. | |
Ich habe den Absprung geschafft. Seit etwa zehn Jahren bin ich weg von der | |
Straße. | |
Ich bin clean. | |
Ich arbeite. | |
Ich wohne. | |
Er nicht, zumindest nicht dauerhaft. Pascal lebt derzeit in einem | |
Übergangswohnheim, „Carpe Diem“ heißt es. Nüchtern scheint er auch zu se… | |
„Erste Schritte in ein anderes Leben“, sagt er. | |
Ich freue mich, ihn zu sehen. Zugleich schlägt unsere Begegnung wie eine | |
Bombe in meine Gegenwart ein. Eben noch sitze ich an meinem Macbook, | |
pünktlich zum Mittag will ich los, einkaufen im Bioladen. Nun steht Pascal | |
vor mir. Und mit ihm mein altes Leben. | |
Erinnerungen tauchen auf: Vanillepudding für 29 Cent, Schrippe dazu. Das | |
Kupfergeld, das wir zusammensuchen, um an der Kasse bezahlen zu können. | |
Lange her. | |
Ich bin auf der Straße groß geworden. Mit 12 Jahren haue ich erstmals von | |
zu Hause ab, mit 13 erneut. Zunächst pendele ich noch zwischen meinen | |
geschiedenen Elternteilen und der Obdachlosigkeit. Bald hänge ich nur noch | |
am Alexanderplatz und am Bahnhof Zoo ab. Manchmal chille ich in der Potse, | |
einem Jugendclub in Schöneberg. | |
Ich suche Hilfe, aber keiner hört mir zu. [1][Auch das Jugendamt] erkennt | |
meine Not nicht. Als ich im Frühjahr 2004 meine Situation dort schildere, | |
sagt eine Mitarbeiterin zu mir: „Wir sind für Fälle mit echten Problemen | |
da. Nicht für Teenies, die mal kurz keine Lust auf ihre Eltern haben.“ Ich | |
verlasse ihr Zimmer, verlasse das Haus. Ein Weg aus Steinplatten führt auf | |
die Straße. Er kommt mir unendlich lang vor. | |
Mitte der Nuller Jahre leben mehrere tausend Kinder und Jugendliche auf der | |
Straße. Heute sind den Schätzungen [2][des Deutschen Jugendinstituts] | |
zufolge mindestens 6.500 unter 18-Jährige obdachlos. Sie würden am ehesten | |
durch die sogenannten Überlebenshilfen aufgefangen, heißt es. Das ist ein | |
feststehender Begriff für Essen, Schlafsack, Dusche und Ähnliches. | |
Sozialarbeitende, zum Beispiel vom [3][Verein Straßenkinder,] fahren mit | |
einem Bus durch Berlin und verteilen Tee und Essen. Sie hören zu, wenn | |
jemand reden möchte. Auch ich habe von denen schon eine Suppe gelöffelt. | |
Warum ich damals von zu Hause weg bin? Ich kenne kein Straßenkind, bei dem | |
es „diesen einen Grund“ gibt. Die meisten kennen kein schönes Leben, und | |
irgendwann sind sie alt genug, um etwas zu ändern. Wir wehren uns, indem | |
wir fortgehen. Auf der Straße gehören wir dazu und beweisen uns. Wir | |
versuchen, Spaß zu haben und den Rest zu vergessen. Das Straßenleben | |
verbindet. Es ist zu kalt, zu warm, zu gefährlich, zu drauf, zu viel für | |
eine Seele. | |
Die Schule besuche ich in dieser Zeit nicht mehr, meine Versetzung in die | |
10. Klasse „scheint ausgeschlossen“, steht auf einem Zeugnis. Ich trinke | |
Alkohol, zu viel davon. Ich probiere vieles, auch Heroin. Mit 16 Jahren | |
schleppe ich mich erneut ins Jugendamt. Dieses Mal hört mir ein Mitarbeiter | |
zu. Jetzt bin ich offenbar „ein Fall mit echten Problemen“. Er sagt: „Wir | |
werden mit Cleanpeace sprechen. Aber auf jeden Fall musst du zur Entgiftung | |
für zehn Tage.“ Cleanpeace ist eine Koordinierungsstelle von Karuna, einem | |
Verein für Kinder und Jugendliche in Not. Ich möchte so gerne alleine | |
wohnen, mit Betreuung wäre auch in Ordnung, denke ich. Ich willige ein. | |
In der Psychiatrie, in der ich entgifte, steht nach fünf Tagen eine | |
Amtsärztin vor mir. Sie bringt mich in einer geschlossenen therapeutischen | |
Einrichtung in Brandenburg unter. Davon war vorher nie die Rede, es wurde | |
nicht mit mir abgesprochen. Wieso seid ihr nicht ehrlich? Ich hasse Euch. | |
Mit richterlichem Beschluss werde ich in dem Heim zehn Monate eingesperrt, | |
hinter einem grünen Zaun. Ich darf das Grundstück nicht verlassen, darf | |
kaum Kontakt nach außen haben, soll rigide Regeln befolgen, die mir nicht | |
einleuchten. Was habe ich eigentlich verbrochen? | |
Später wird der Alltag etwas lockerer. Ich lerne eine liebe Therapeutin | |
kennen und stehe die Zeit durch, zwei Jahre. Doch ich schaffe es nicht, | |
drogenfrei zu leben. Als ich wiederholt rückfällig werde, muss ich gehen. | |
Auch weil stationäre Jugendeinrichtungen sich nicht mehr in der | |
Verantwortung sehen, wenn ihre Schützlinge erwachsen sind. | |
Ich packe meine Sachen und steige in den Zug nach Berlin. 18 Jahre alt, | |
Wanderrucksack, Alexanderplatz. Ich kiffe, trinke, schmeiße Tabletten ein. | |
Für den Rückfall gibt es sogar ein Wort: Ehrenrunde heißt es im | |
Psychiatrieslang, wenn jemand erneut auf der Straße und in der Sucht | |
landet. | |
Doch von nun an begleitet mich immerhin eine Hündin: mittelgroß, | |
weiß-braun, vier Pfoten. Ich nenne sie Flöckchen. Sie ist [4][in der Köpi | |
geboren], einem linken Hausprojekt in Kreuzberg. Ein Punk vom Alex kümmert | |
sich um sie. Weil er wegen Körperverletzung verhaftet wird, übernehme ich | |
sie. Erst ist es eine Katastrophe mit uns beiden, weil ich keine Ahnung von | |
Hunden habe. Sechs Monate später möchte ich nicht mehr ohne sie leben. Am | |
Fernsehturm gammeln wir herum. Flöckchen und ich. Gestrandete, Alkies, | |
Punks. | |
Wir trinken, lachen, und manchmal steigen die Fans vom BFC Dynamo aus dem | |
Zug, um uns zu verprügeln. Es ist egal, ob sie ihr Fußballspiel verloren | |
oder gewonnen haben. Das macht denen einfach Spaß. | |
Über Paul, einen Altpunk vom Alex, gelange ich irgendwann in die Sparkasse | |
am Hermannplatz. Paul habe ich über unsere Hunde besser kennengelernt, er | |
gibt mir manchmal ein Bier aus. Er sagt: „Ich habe in einer Sparkasse einen | |
Platz gesichert und brauche den nicht mehr.“ Gute Schnorrplätze bekommt man | |
auf der Straße oft über Beziehungen. In der Bank gibt es Schichten, um den | |
Platz unter mehreren Leuten aufzuteilen. Dieses System ist an begehrten | |
Plätzen wie diesem üblich. Begehrt sind sie, wenn es dort „gut läuft“, | |
überdacht und windstill ist. | |
Paul ist für mich so etwas wie ein Vorbild. Die Altpunks vom Alex heißen | |
„die Saubande“, sie haben sich über die Zeit Respekt erarbeitet. Sie | |
bestimmen, was geht und was nicht. Wenn es Stress gibt, dann regeln sie | |
das. Oft müssen sie nur auftauchen, und die Sache klärt sich wie von | |
Zauberhand. Ansonsten wird die Hand zur Faust. | |
In ein paar Jahren gehöre ich auch dazu, bin stark und unberührbar. Das ist | |
alles, was ich will. | |
In der Sparkasse am Hermannplatz breite ich von nun an fast täglich meine | |
Lederjacke für meinen Hund aus und verkaufe die Straßenzeitung motz. In | |
meiner Freizeit sitze ich am Alex, zum Geldverdienen fahre ich in die Bank. | |
Das läuft erstaunlich gut. Doch nach ein paar Wochen kommt es zu einem | |
Moment, der einiges ändert: Ich will am Kottbusser Tor Gras kaufen, doch es | |
gibt nur Heroin. Ich sage „okay“, bezahle und bin wieder angefixt. Unter | |
den Punks ist Heroinkonsum verpönt. Ich habe keine Lust, darauf | |
angesprochen oder schief angeguckt zu werden. Ich löse mich vom Alex und | |
bleibe am Hermannplatz. | |
Ein Altpunk werde ich wohl nicht mehr. | |
Am Alex war oft Party, am Hermannplatz lebt es sich gar nicht mehr | |
unbeschwert. Ich lerne Wohnungslose kennen, die harte Drogen nehmen, und | |
werde Teil dieser neuen Gemeinschaft. Die Leute sind ernster und viel älter | |
als ich. Mit 20 bin ich der Jüngste unserer Gruppe. Es geht oft ums bloße | |
Überleben. Rund um den Hermannplatz leben viele Menschen aus türkischen und | |
arabischen Familien, aber die Gruppen der Obdachlosen mischen sich kaum. In | |
unserer Straßenfamilie sind wir zu neunt. | |
Das sind unsere Namen: | |
Pascal D.; | |
Jürgen G.; | |
Christiane F.; | |
Dude; | |
Renate M.; | |
Sabine weißichnichtmehr, | |
Björn von H., | |
Goldlöckchen. | |
Und ich, Sam Andreas. | |
Ich heiße in Wirklichkeit allerdings anders. Weil nicht jeder meine | |
Biografie im Internet finden soll, schreibe ich diesen Text unter einem | |
Pseudonym. | |
Am Hermannplatz leben wir in einer Parallelwelt. Das große Einkaufszentrum, | |
Karstadt, ist unsere Basis. Die umliegenden Hausflure, Dachböden und Keller | |
unser Bett. Den Menschen das Geld aus der Tasche zu fragen, ist unsere | |
Arbeit. Freundlich, zuvorkommend, „bitte“, „danke“ und nicht zu | |
aufdringlich. Jeden Tag und ohne Urlaub. Dieser Job ist für beide Seiten | |
nicht leicht zu ertragen, schätze ich. Manchmal klauen oder dealen wir | |
auch. Das ist noch unbefriedigender und funktioniert oft nur kurz. | |
Jürgen G.: Jürgen steht an einem der Eingänge zu Karstadt und schnorrt. Ich | |
kenne niemanden, der Jürgen nicht leiden kann. Er redet nicht viel. Jürgen | |
hat sogar eine Visitenkarte: „vor Karstadt, Montag bis Samstag“, steht | |
darauf. Die hat ein Student für ein Projekt drucken lassen. Total absurd, | |
und trotzdem ist Jürgen sehr stolz darauf. Er verschenkt sein Kärtchen an | |
seine „Stammkunden“ und wartet dann auf die irritierten Gesichter. Jürgen | |
und mein Hund sind verknallt ineinander – kann man echt nicht anders sagen. | |
Flöckchen spaziert manchmal von selbst los, um ihn zu suchen. Wenn sie ihn | |
findet, wedelt ihre Rute so sehr, dass sie beinahe umfällt. | |
Christiane F.: Jürgens zweite große Liebe heißt Christiane. Diese Frau ist | |
nicht totzukriegen. Sie verabscheut alle, die sich klein machen. Wenn einer | |
von uns rumnörgelt, was alles scheiße läuft, hält sie dagegen. Sie sieht | |
immer das Positive. Christiane F. wurde durch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ | |
deutschlandweit bekannt; am Hermannplatz redet niemand groß darüber, sie | |
ist einfach eine von uns. Sie hätte eigentlich genug Geld und | |
Möglichkeiten, um sich zu lösen. Aber sie bleibt bei uns, ihren Freunden. | |
Pascal D. und Dude: Pascal besucht uns mehrmals täglich. Er ist immer auf | |
Achse, grast die Mülleimer und Mülltonnen nach Flaschen ab oder arbeitet | |
sich mit einer Straßenzeitung durch die U-Bahn. Meistens ist Dude mit | |
dabei. Während Pascal bereits seine Dritten trägt und so dünn ist, dass man | |
auf seinen Rippen Klavier spielen könnte, hält sich der jüngere Dude noch | |
für etwas Besseres. Er sagt immer: „So wie ihr werde ich nicht. Ich habe | |
eine Wohnung, und es ist alles unter Kontrolle.“ Dafür lachen wir ihn aus. | |
Er weiß als angehender Junkie noch nicht, mit wem er sich angelegt hat: Die | |
Königin H ist unbarmherzig und verschlingt jeden. | |
Renate M.: Renate ist am Hermannplatz eine Institution. Sie schnorrt mit | |
ihrem Hund Lumpi beim Übergang zwischen U-Bahnhof und Karstadt. Renate ist | |
nur 1,60 Meter groß, aber kaum jemand wagt, ihren Platz unabgesprochen zu | |
besetzen. Sie kann ausrasten – aber wie. Als ein Obdachloser von einem | |
benachbarten U-Bahnhof einmal ihren Platz belegt, schreit sie ihn an: „Wenn | |
ich dich Fatzke hier noch einmal sehe. Nein, unterbrich mich nicht.“ | |
Schimpfworte schallen durch den Schacht. Mit der motz verpasst sie ihm | |
Ohrfeigen. Lumpi bellt, ununterbrochen. Der Neue haut fluchend ab, Renate | |
setzt sich fluchend hin. Für Kino brauche ich hier am Hermannplatz echt | |
kein Geld ausgeben. | |
Sabine: Nach meinem ersten Jahr stößt eine jüngere Frau zu unserer Gruppe | |
dazu: Sabine. Sie ist für die anderen keine Unbekannte, weil sie nur kurz | |
auf Erholung war, im Knast. Das Gefängnis kann ein überlebenswichtiger Ort | |
sein. Dort können wir auftanken, werden medizinisch versorgt, es ist warm, | |
und es gibt regelmäßig Essen. Ich kenne mehrere Obdachlose, die sich zu | |
Beginn der kalten Jahreszeit freiwillig stellen, um in den Knast zu kommen. | |
Wir haben ein Dauerticket dahin, weil Kontrolleure uns regelmäßig wegen | |
Schwarzfahrens in Bus und Bahn erwischen. Sabine besucht uns zunächst nur. | |
Sie jobbt in einem Café und wohnt bei einem Kumpel. Sie versucht sich im | |
normalen Leben, aber die Sucht ist bald stärker. Nach ein paar Monaten | |
verliert Sabine ihre Arbeit, fängt wieder an zu schnorren. Manchmal kommt | |
sie zu uns in die Sparkasse. | |
Björn von H.: Dort arbeiten Björn und ich mit Goldlöckchen im | |
Schichtdienst. Mit Björn verstehe ich mich anfangs nicht gut. Er gehört wie | |
ich zu den Jüngeren, aber er ist mir zu weich, zu schlau. [5][Bevor er | |
wegen Depressionen] auf der Straße landete, hat er eine Familie gegründet. | |
Er hat sogar studiert. Und so redet er auch. Überhaupt will Björn immer | |
alles mit Worten klären. Unsere Beziehung ändert sich jedoch im Laufe der | |
Zeit. Wir wachsen zusammen, lernen voneinander. Irgendwann ist Björn mein | |
bester Freund. | |
Goldlöckchen: Mit dem etwas älteren Goldlöckchen habe ich nicht viel zu | |
tun. Wir nennen ihn wegen seiner hellblonden Locken so. Er bekommt | |
Substitutionsmedikamente, daher hat er einen anderen Tagesablauf: | |
Goldlöckchen kriegt seinen Stoff zugeteilt und verdient sich etwas hinzu. | |
Ich hingegen muss etwas verdienen und kann mir dann den Stoff kaufen. | |
Damals sind wir 9 von etwa [6][22.000 Obdachlosen bundesweit]. Seitdem hat | |
sich die Situation noch mal deutlich verschärft. Viele osteuropäische | |
Obdachlose kamen nach Deutschland. Inzwischen trifft man vermehrt auch | |
Frauen. 37.400 Menschen leben heute bundesweit auf der Straße. So steht es | |
zumindest im Wohnungslosenbericht der Bundesregierung, der 2022 erstmals | |
veröffentlicht wurde. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Im Bericht | |
heißt es, dass „insgesamt relativ lange Phasen der Wohnungslosigkeit von | |
über einem Jahr dominieren“. Anders gesagt: Wenn jemand ganz unten ist, | |
kommt er oder sie schwer (wieder) hoch. | |
Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu | |
beenden. Ein großes Ziel, das Teil einer europäischen Strategie ist. Geht | |
es nach dem EU-Parlament, sollen die Mitgliedsstaaten zu Wohnungslosigkeit | |
forschen, sie sollen Obdachlosigkeit entkriminalisieren, für | |
Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Wohnraum sorgen und genügend | |
Gelder für Hilfen zur Verfügung stellen. Bei der Forschung mag Deutschland | |
inzwischen ganz gut dastehen. Was die anderen Forderungen angeht – | |
Entkriminalisierung, Gleichberechtigung und Geld –, ist noch viel zu tun. | |
Meine Biografie ist vom jeweiligen Gegenteil dieser Worte durchsetzt: | |
Verurteilung, Ungleichheit und Armut. | |
Der Vorraum der Sparkasse ist um das Jahr 2010 herum unser Dreh- und | |
Angelpunkt. Wenn jemand jemanden sucht, kommt er oder sie bei uns in der | |
Sparkasse vorbei. Handys, um sich abzusprechen, haben wir keine – oder nur | |
kurz, bis wir sie zu Geld machen. „Unsere“ Bank halten wir sauber. Die | |
offiziellen Mitarbeitenden akzeptieren uns. | |
Wenn der Geldtransporter kommt, dürfen wir als Einzige in der Sparkasse | |
bleiben. Der Kastenwagen stellt sich komplett auf den Gehweg mit der | |
Seitentür zum Eingang der Bank. So kommt keiner mehr hindurch, während die | |
bewaffneten Angestellten die Geldkassetten auswechseln. | |
Ich könnte manchmal auch eine Waffe gebrauchen. Es muss im Herbst 2011 | |
gewesen sein, als ein Typ mit Skimaske über dem Kopf in den Vorraum kommt. | |
Er hebt, mit dem Blick zu mir, den Zeigefinger an die Stelle, wo ich den | |
Mund vermute. Ich soll still sein. Ich bleibe sitzen und umklammere meinen | |
Hund. Ganz fest. Nein, eigentlich will ich keine Waffe. Ich möchte viel | |
lieber im Boden verschwinden. Die Skimaske bedroht den einzigen Kunden am | |
Automaten. Der junge Mann scheint pleite zu sein, er kann nichts geben, er | |
schluchzt und bebt. Und ich sitze einfach da und schaue zu. Da holt die | |
Skimaske plötzlich ein Messer raus, die Klinge so lang wie mein Unterarm. | |
Er setzt es nicht ein, sondern schlägt dem Geldlosen mitten ins Gesicht. | |
Der rennt, stolpert um sein Leben, raus aus der Bank. Blut fließt, | |
wahrscheinlich aus der Nase. Der Maskierte geht langsam hinterher und | |
verschwindet in eine andere Richtung. | |
Ich drehe mir erst mal eine Zigarette und atme. Danke, Heroin, dass du mich | |
vor einem Nervenzusammenbruch bewahrst. Diese Droge wirkt nach Gewöhnung | |
nur kurz berauschend, aber durchgängig gefühls- und schmerztötend. | |
Gewalt und Straße gehören zusammen wie Nudeln und Tomatensoße. Der | |
Vergleich klingt harmlos, banal, normal. Aber genau das ist der Punkt: Für | |
mich ist das normal. In der [7][Studie zur Wohnungslosigkeit der | |
Bundesregierung heißt es], dass „unter den wohnungslosen Suchtkranken ohne | |
Unterkunft 84 Prozent Gewalterfahrungen“ machen. In unserer Straßenfamilie | |
sind es 100 Prozent. | |
Jahre später finde ich unser damaliges Leben in dem Song [8][„Löwenzahn“ | |
von Sido] wieder, er geht mir ständig durch den Kopf: | |
„Wenn du Scheiße laberst, trifft dich ’ne Gerade / Auf jedes krumme Ding | |
folgt gewiss eine Strafe / Doch dieser Mann hat keine Zeit für eure Faxen / | |
An der Scheiße kann man eingehen oder wachsen.“ | |
Dann der Refrain: „Zwischen Demut und Größenwahn / All die Probleme, die zu | |
lösen waren / Gott, vergib uns, weil wir böse waren / Auf der Straße | |
aufgewachsen wie Löwenzahn.“ | |
Am Schlimmsten finde ich die Gewalt von Außenstehenden, die gegen uns | |
gerichtet ist: Menschen spucken uns an, beleidigen uns, treten, beklauen | |
und belästigen uns. Meistens grundlos. Manchmal bewerfen mich Menschen mit | |
Centstücken: „Hier, du kleiner Drecksjunkie, kauf dir was Schönes“, so | |
etwas sagen sie. | |
Aber auch untereinander werden wir handgreiflich. Viele soziale Normen | |
kennen wir gar nicht. Außer Björn vielleicht. Wir verteidigen unsere | |
Schnorrplätze, um unsere Einkommensquellen zu schützen. Nach einer | |
Schlägerei ist die Sache geregelt, keiner ruft die Polizei. Mit denen | |
zusammenzuarbeiten gilt als Verrat, meistens haben wir alle „etwas offen“ �… | |
das wäre ein Eigentor. Außerdem wird wohl kaum eine Streife geschickt, wenn | |
jemand die 110 wählt und sagt: „An meinem Stammplatz sitzt ein Fremder, und | |
wenn er nicht geht, werde ich heute hungern und entzügig. Er ist aggressiv, | |
und ich bräuchte daher dringend Hilfe. Wann sind Sie hier?“ | |
Die Polizist:innen, mit denen wir zu tun haben, sind selten böse, manchmal | |
geben sie uns sogar Geld. Sie wirken genauso überfordert mit uns wie alle | |
anderen auch. | |
In den Jahren am Hermannplatz kommen kaum Sozialarbeitende vorbei. Nur im | |
Winter gibt es Krümmeltee. Das ist ein Klassiker unter den | |
Überlebenshilfen. Im Sommer kalt serviert und im Winter aus der | |
Thermoskanne. Ansonsten haben sie in der kalten Jahreszeit manchmal einen | |
Schlafsack dabei, oft sind die aber schon weg. | |
Zum Glück ist der Vorraum der Sparkasse relativ warm. Dort kann ich mich im | |
Winter ab und zu aufwärmen. Nachts kommt aber die Sicherheit vorbei, dann | |
finde ich Unterschlupf auf Dachböden oder penne auf den obersten Etagen in | |
Hausfluren. Aus den Mülltonnen hole ich Material und baue ein Bett aus | |
Styropor und Pappe. Die BVG öffnet im Winter manche U-Bahnhöfe über Nacht | |
für Obdachlose. Manchmal suche ich dort Zuflucht. | |
Besonders schlimm ist der Winter 2010/11. Viele von uns haben Erfrierungen | |
an den Füßen oder Händen. Kälte zermürbt. Ich bin im Januar und Februar so | |
erschöpft, dass ich aufgeben will. Aber das geht ja nicht, schon wegen | |
Flöckchen. Im Zweifel ziehe ich ihr mein buchstäblich letztes Hemd über. | |
Hund mit Hoodie. Ich halte es nicht aus, wenn sie zittert. Das ist | |
schlimmer als selber frieren. | |
Im Winter bietet die Stadt Notschlafplätze an. In diese Kältehilfe geht | |
keiner von uns. Die Regeln sind zu streng: Es gibt Taschenkontrollen. Oft | |
sind keine Hunde erlaubt. Die Gäste müssen in einem bestimmten Zeitfenster | |
dort sein und morgens um 7 Uhr wieder gehen. Das schaffen wir nicht. | |
Wir sind füreinander da. Vereint als Team an den guten und notgedrungen an | |
allen anderen Tagen. Wir besuchen uns im Knast, im Krankenhaus, leihen uns | |
Geld und passen auf unsere Hunde auf. Diese Menschlichkeit wirkt intensiver | |
auf der Straße als im normalen Leben. Obdachlose sind authentisch. Sie | |
sagen und zeigen, was ist. Ungeschminkt, könnte man sagen. | |
Es gibt keinen Platz für uns, außer in der Klapse und anderen Stationen im | |
Krankenhaus. Doch dort fühlen wir uns minderwertig, bekommen zu wenig | |
Substitutionsmedikamente. Das Personal steckt uns in die | |
„Junkie-Schublade“. Aus Krankenhäusern werden wir in die Obdachlosigkeit | |
entlassen. Wir brauchen ein Krankenhaus für Obdachlose. Es kann nicht sein, | |
dass Menschen am lebendigen Leibe verwesen oder wie Geister durch die | |
Städte wandeln: Alle wissen, dass sie da sind, und keiner sieht sie. | |
Nur in der allergrößten Not suchen wir medizinische und psychologische | |
Hilfe. Es ist entwürdigend. In vielen Köpfen ist wie eingespeichert, dass | |
wir schwach oder faul wären. | |
Da gab es dieses Erlebnis in der Notaufnahme: Ich habe mir meinen großen | |
Zeh fünffach gebrochen. Der Knochen ist verrutscht, „disloziert“ nennt sich | |
das. Nach dem Röntgen schaut sich ein Arzt meinen Fuß an. Er greift ohne | |
Vorwarnung, ohne mir Schmerzmittel zu geben, an meinen Zeh und richtet ihn. | |
Das bedeutet: ruckartig ziehen und drehen, bis die Knochen wieder in | |
Position sind. Nachdem ich aufgehört habe zu schreien, frage ich ihn unter | |
Tränen, was das sollte. Seine Antwort: „Na, in Ihrer Akte steht: | |
Heroinabusus. Sie kriegen von mir keine Schmerzmittel.“ | |
Wir sind Menschen. Und wir wollen auch so behandelt werden. | |
Beziehungen können helfen. In der Sparkasse lerne ich einige Menschen über | |
die Jahre besser kennen. Eine junge Frau bringt mir zum Beispiel jeden | |
Mittwoch etwas Warmes zu Essen in die Sparkasse. Dank ihr entdecke ich die | |
Vorfreude wieder. Sonst kenne ich nur die existenziellen Fragen für die | |
kommenden Stunden: Hundeversorgung, Geld, Drogen, Schlafplatz, Trinken, | |
Essen. In dieser Reihenfolge gestaltet sich mein Dasein. | |
Nun plötzlich Vorfreude. Wegen dieser Frau denke ich manchmal schon Montag | |
an Mittwoch. Das ist anders und schön. Es geht nicht um die Frau | |
persönlich, sondern um die Zuwendung. Das Essen durchbricht meine | |
Einsamkeit. Da denkt jemand an mich. | |
Auch ein Sporttrainer spricht mich immer mal wieder an. Er stellt mir in | |
Aussicht, Boxen zu lernen, wenn ich clean bin. „Du kannst gern mal | |
vorbeikommen. Wir kriegen das auch hin mit den Mitgliedsbeiträgen. Also | |
wenn du dich entscheidest, ich würde mich freuen“, sagt er. | |
Auch wegen solcher Erfahrungen entscheide ich irgendwann, etwas zu ändern. | |
Ich will aus der Sparkasse in die Klapse, zur Entgiftung von Heroin. | |
Der Schritt dahin ist nicht leicht: Die meisten Obdachlosen werden eher | |
früher als später beklaut. Dann sind der Ausweis und die Krankenkassenkarte | |
weg. Um einen Platz im Krankenhaus zu bekommen, muss aber eine | |
Krankenversicherung bescheinigt werden. Dafür braucht es einen | |
Personalausweis. | |
Nach Monaten habe ich beides, ich melde mich zur Entgiftung an. Flöckchen | |
gebe ich am Hermannplatz bei Jürgen in Obhut. Am Bahnhof verabschieden wir | |
uns. Ich drücke meine Hand von innen an die Scheibe der U7. Vier Jahre | |
waren wir nie länger als ein oder zwei Stunden voneinander getrennt. Ohne | |
sie wegzufahren, fühlt sich an, als würde ich einen Teil meines Körpers | |
dalassen. | |
Station 85 im Neuköllner Krankenhaus. Ich werde mit Methadon entwöhnt. Nach | |
zwölf Tagen Hölle bin ich clean, mit 22 Jahren. Ich stehe plötzlich | |
nüchtern vor den Trümmern meiner Existenz. | |
Vielleicht hätte mir damals eine eigene Wohnung geholfen. Der übliche Weg, | |
um aus der Obdachlosigkeit herauszukommen, ist: erst Psychiatrie, dann | |
betreutes Wohnen, Therapie und schließlich die eigene Wohnung. Inzwischen | |
gibt es ein Modell, das [9][die Obdachlosigkeit direkt beenden will: | |
Housing First]. Dabei bekommen Obdachlose eine eigene Wohnung, ohne dass | |
vorher geprüft wird, ob der Mensch wohnfähig ist. | |
Die Wohnung ist die Basis für alles. Als ich kürzlich von dem Projekt | |
hörte, war ich begeistert. Das könnte für viele Obdachlose tatsächlich eine | |
Lösung sein. | |
Ich rufe Sebastian Böwe an, Wohnraumkoordinator bei Housing First Berlin. | |
Er sagt: „Unsere Sozialpädagogen helfen, einen Ausweis zu beantragen, und | |
unterstützen bis zum Einzug.“ Von dort kläre sich alles Weitere wie | |
Beschäftigung, Entzug oder Therapie. Zurzeit würden sie fieberhaft daran | |
arbeiten, die Bewerberliste abzuarbeiten, sagt Böwe. Das Berliner Projekt | |
nimmt seit Januar 2023 niemanden mehr auf, weil die Nachfrage so hoch ist. | |
Über 600 Menschen hätten sich schon beworben. Allerdings würden davon „eine | |
ganze Menge“ nicht ins Profil passen. Seit 2018 seien 58 Mietverträge | |
unterschrieben worden. | |
Ganz bedingungslos arbeitet auch dieses Modell nicht. Läuft jemand mit | |
Decke umwickelt durch die Straße und redet wirr, dann ist er oder sie zu | |
krank für Housing First. | |
Für einige wenige baut sich also allmählich eine Alternative zum | |
bestehenden System auf. Für die meisten gibt es weiterhin keine | |
Anlaufstellen, außer der Klapse. | |
Ich hätte eine Wohnung nach meinem Entzug dringend gebraucht, aber Housing | |
First gibt es damals noch nicht. Ich besorge mir einen Platz in einem | |
Wohnheim. Flöckchen ist endlich wieder bei mir. Ich muss übermenschlich | |
viel Kraft aufbringen, um clean zu bleiben. Die Mitbewohner konsumieren, | |
die Wände engen mich ein, und das Bett überfordert mich: Es knarrt, die | |
Matratze ist weich unter mir. Ich schlafe die ersten Wochen lieber neben | |
dem Bett. | |
Seit vier Jahren bin ich zum ersten Mal mehrere Tage nüchtern. Die Welt ist | |
bunt, sie riecht so intensiv. Ich starre Bäume an, als wären sie das | |
Krasseste der Welt: die Farben, die kleinen Ästchen, der Himmel darüber. | |
Mein Körper ist schwach. Ich kann kaum drei Stockwerke laufen, ohne zu | |
verschnaufen. Jahrelang hat mich das Heroin betäubt. Jetzt sind die Gefühle | |
wieder da. Ich fange unvermittelt an zu weinen, fühle mich wie ein | |
Spielball in meinem entgleisten System. | |
Ich bin weder stabil genug, um zu arbeiten, noch bereit, nur noch in | |
betreuten Einrichtungen zu leben. Nach zwei Jahren kümmert sich ein | |
Sozialarbeiter ehrenamtlich um mich. Er hilft mir dabei, eine eigene | |
Wohnung zu suchen. Drei Monate später finde ich eine Bleibe. Als ich den | |
Mietvertrag unterschreiben kann, beichte ich, dass ich einen Hund habe. Das | |
hatte ich verschwiegen, weil meine Chancen dadurch noch geringer sind. Der | |
Hausverwalter sagt: „Ich hätte die Möglichkeit, den Vertrag zurückzuziehen. | |
Aber ich gebe Ihnen eine Chance: Wo kein Kläger, da kein Richter.“ | |
Ich bin Mitte 20 und habe es geschafft. Meine Wohnung. Ich werde diesen | |
Tag, den 4. März 2014, nie vergessen: Flöckchen, der Schlüssel und zwei | |
große blaue Müllsäcke mit unseren Sachen. 40 Quadratmeter, keine | |
Einrichtung. Ich setze mich auf die Dielen, stehe wie im Wahn auf, ziehe | |
den Schlüssel aus der Tasche, schließe auf, schließe ab und setze mich | |
wieder hin. Immer und immer wieder. Dann heule ich. | |
Ich brauche noch weitere zwei Jahre, bis ich aufhöre zu schnorren und mich | |
an einen anderen Alltag gewöhne. Auf der Straße gab es immer etwas zu tun. | |
Irgendein Grundbedürfnis war immer unbefriedigt. Eine Krise jagte die | |
nächste. Nun habe ich ein Dach über dem Kopf und Geld vom Staat. Mir geht | |
es nicht gut, aber die Not ist nicht existenziell. | |
Der Boxtrainer aus der Sparkasse nimmt mich tatsächlich im Verein auf, ich | |
trainiere dort mehrere Jahre. Das Boxen ist ein Anker für mich; ich lerne | |
dort meine neue beste Freund:in kennen. | |
Ansonsten schleppe ich mich von Tag zu Tag und bin froh, wenn es Abend | |
wird. Dann kann ich schlafen. Ich komme über die Runden. [10][Aber in | |
dieser neuen Welt fühle ich mich unwillkommen, ungeeignet]. Ich sehne mich | |
häufig nach einem Leben im Rausch und zu meiner Straßenfamilie zurück. | |
Sidos Song geht mir wieder durch den Kopf: | |
„Zwischen Kreuzberg und Lichtenberg / Wo man all diese Geschichten hört / | |
Da wächst ’ne gelbe Blume aus’m Dreck / An einem Fleck, an dem sonst keine | |
Blume wächst / Keiner beachtet sie, alle trampeln drauf / Doch sie gibt | |
nicht auf, was die Rose kann, das kann sie auch / Wir kämpfen, bis wir | |
irgendwann mal Pusteblumen sind / Und wir warten auf den Wind.“ | |
Manchmal frage ich mich sogar, ob ich überhaupt leben darf. Nicht weil ich | |
besonders selbstlos bin oder gar lebensmüde, sondern weil es so zufällig | |
wirkt, wer überlebt und wer nicht. Das macht mich fix und fertig. | |
Björn: Björn, der immer so wortgewandt war, entscheidet sich, clean zu | |
werden. Er hört 2015 von einem zum anderen Tag auf zu trinken. Eine Woche | |
später stirbt er im Urban-Krankenhaus an multiplem Organversagen und | |
Delirium tremens. Sein Körper verkraftet den Entzug nicht. | |
Jürgen: Ein gutes Jahr später sitzt Jürgen, der früher vor Karstadt stolz | |
seine Visitenkarten verteilt hat, im Reuterpark in Neukölln und kann nicht | |
mehr aufstehen. Sein Bein ist offen, infiziert. Eine typische | |
Junkie-Krankheit. Ein Fremder ruft den Krankenwagen, Jürgen kommt ins | |
Urban-Krankenhaus. In seinem Bett erleidet er einen Herzstillstand. Keiner | |
weiß, wie lange sein Gehirn nicht mit Blut versorgt war, weil er nicht | |
sofort gefunden wird. Er kommt auf die Intensivstation und liegt im Koma. | |
In einem Eilverfahren werde ich sein gerichtlicher Betreuer. Zusammen mit | |
Christiane entscheide ich nach ein paar Tagen, dass die Maschinen | |
ausgestellt werden können. Jürgen ist hirntot. Ich bin bei ihm, als er | |
seinen letzten Atemzug tut. Auf der gleichen Intensivstation wie Björn. Ein | |
Zimmer weiter, ein Jahr später. Jürgen wurde 62 Jahre alt. | |
Christiane kann seinen Tod nicht verarbeiten und zieht sich zurück. Ich | |
sehe sie jahrelang nicht mehr. | |
Renate: Renate erkrankt 2017 an Lungenkrebs. Sie kümmert sich nicht darum, | |
sie wird irgendwann gelb. Ihre Leber versagt. Eines Tages sitzt keiner mehr | |
am Übergang zwischen U7 und Karstadt. | |
Sabine: Ich glaube, Renates Tod ist zu viel für sie. Sabine verwahrlost, | |
ist auf einem Auge blind und redet wirres Zeug. Ihr Gehirn ist irgendwie | |
kaputt. Sie muss um die 40 sein, als sie in einem Streit am Hermannplatz | |
2018 vor die U-Bahn fällt. Sie stirbt im Krankenhaus. | |
Dude: Dude, der immer dachte, er sei etwas Besseres, ist in den vergangenen | |
Jahren kleiner geworden. Er besteht nur noch aus Haut und Knochen. Er fährt | |
mit Rollstuhl durch die Stadt, weil seine Beine offen und faulig sind. | |
Genau wie bei Jürgen. Eine Wohnung hat er schon lange nicht mehr. Als | |
Pascal mich an meiner Haustür besucht, sagt er: „Ich kann es kaum ertragen, | |
Dude so zu sehen. Er macht nicht mehr lange.“ | |
Pascal: Es ist fast Mai. Ich erreiche Pascal nicht. Ich mache mir Sorgen, | |
dass auch er wieder an der Nadel hängt. Dann endlich eine SMS. Er schreibt: | |
„Hi, Sorry das ich mich nicht gemeldet habe. Dein Gedanke war richtig ich | |
hab konsumiert und gehe morgen zum Arzt“. | |
Christiane: Nach Jürgens Tod hatten wir keinen Kontakt, jetzt reden wir | |
wieder miteinander. Im Mai 2023 kann sie endlich die Unterkunft für | |
Obdachlose verlassen, nach sieben Jahren. „Ich ziehe aufs Land, wo ich | |
schon immer hinwollte. Mit Kühen und Schweinen kann ich in einem kleinen | |
Bauernstübchen alt werden“, erzählt sie. Sie will dort nüchtern bleiben. | |
Und ich? Ich habe Björn, Jürgen und Sabine versprochen, für sie | |
weiterzuleben, für sie stark zu sein. Jede Niederlage zwingt mich, dieses | |
Versprechen neu einzulösen. Manchmal stelle ich mich einfach auf die | |
Straße, schaue in den Himmel und schreie. | |
Und dann mache ich weiter. | |
Anm: an einer Stelle wurden in der ursprünglichen Fassung des Textes Fans | |
von Dynamo Dresden erwähnt. Tatsächlich waren es Fans des BFC Dynamo | |
Berlin. | |
14 May 2023 | |
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[7] https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/Webs/BMWSB/DE/2022/… | |
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## AUTOREN | |
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