| # taz.de -- Armut in Deutschland: Ein Erdbeben, und niemand schaut hin | |
| > Ein Fünftel aller Menschen in Deutschland ist von Armut bedroht. | |
| > Mindestens. Doch selbst die Betroffenen, die am lautesten sind, werden | |
| > kaum gehört. | |
| Bild: Warten auf Lebensmittel: die Arche in Berlin-Hellersdorf | |
| Diese Woche war ganz schön was los. Die Themen der Tagesschau: | |
| Bahnunterbrechungen, Flüchtlingsgipfel, Selenski in Berlin, Türkei-Wahl, | |
| Bremen-Wahl, Grünes Gewölbe. Welche Schlagzeilen sind Ihnen geblieben? | |
| Eine Meldung von Dienstag schaffte es nicht in die „Tagesschau“, sie | |
| schaffte es auf kaum eine Titelseite: Das Statistische Bundesamt in | |
| Wiesbaden hat errechnet, dass [1][mehr als jede fünfte Person in | |
| Deutschland von Armut betroffen ist] oder droht in sie abzurutschen. | |
| Stellen Sie sich vor: 20,9 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, das sind | |
| mehr als 17 Millionen Menschen, fast so viele, wie in ganz | |
| Nordrhein-Westfalen leben. | |
| Eigentlich lautet ein Relevanzkriterium, dass die Wichtigkeit eines Themas | |
| proportional dazu steigt, wie viele Menschen betroffen sind. Wenn in | |
| Nordrhein-Westfalen ein gigantisches Erbeben fast alle Bewohner obdachlos | |
| machen würde, würden wir wochenlang von nichts anderem hören. | |
| Doch wenn Millionen Menschen zu wenig Geld haben, um ein anständiges Leben | |
| zu bestreiten, dann ist das nur noch Alltag. Frei nach Tucholsky: Eine | |
| Armutsbetroffene ist eine Tragödie, Millionen Armutsbetroffene sind nur | |
| eine Statistik. | |
| ## Ein Gesicht für die Zahlen | |
| Bereits im April meldete der Paritätische Gesamtverband, dass in den | |
| vergangenen 15 Jahren zwar das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt um 46 Prozent | |
| gewachsen ist, aber auch die Armut in dieser Zeit stark zugenommen hat. Die | |
| am Dienstag veröffentlichten Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2021, doch | |
| schon jetzt wird in der Statistik sichtbar, dass in den ersten | |
| Pandemiejahren die Armutsquote so stark emporgeschnellt ist wie noch nie | |
| zuvor in den Erhebungen. | |
| Tektonische Plattenverschiebungen vollziehen sich meist langsam, fast | |
| unbemerkt. Doch sie häufen gigantische Gebirge auf. Wenn sie sich schnell | |
| bewegen, brechen sich Erdbeben bahn. Was wir gerade erleben, ist ein | |
| Erbeben der Armut. Und wir schweigen. | |
| Dabei hat vor einem Jahr ein geradezu heldenhafter Versuch begonnen, diesen | |
| abstrakten Zahlen ein Gesicht zu geben und Menschen eine Stimme zu geben, | |
| die hinter den Statistiken verschwinden: der Hashtag | |
| #IchBinArmutsbetroffen. Am 17. Mai 2022 postete Anni W. aus der Nähe von | |
| Köln auf Twitter: „Hi, ich bin Anni, 39, und habe die Schnauze voll! Ich | |
| lebe von Hartz IV und es reicht ganz einfach nicht! Nein, ich kann keine | |
| weiteren Kosten senken. Nein, ich kann nicht auf das spritsparende Auto | |
| verzichten.“ | |
| Es folgte eine Welle der Solidarität, Hunderte erzählten bei Twitter ihre | |
| eigenen Geschichten mit der Armut. Bald formierte sich ein Kern von | |
| Aktivistinnen, fast schon eine soziale Bewegung. Sie machen regelmäßige | |
| Demos und sind in verschiedenen Städten in Gruppen organisiert. Bald fanden | |
| einige der Armutsbetroffen-Aktivistinnen ihren Weg in Talkshows, auf | |
| Konferenzen und in Medienberichte. | |
| Doch vergangene Woche nun hat die Bewegung ihren ersten Geburtstag gefeiert | |
| – und wer hat’s gemerkt? In [2][fast] keinem Medium kam dazu ein Bericht, | |
| eine Rückschau darüber, was sich getan hat, eine Analyse, ein Blick in die | |
| Zukunft, Interviews mit den Aktivistinnen oder Expertinnen, | |
| Lösungsvorschläge für das immer drängendere Problem der Massenarmut in | |
| diesem Land. Welch Ironie, dass ausgerechnet eine Bewegung, die versucht, | |
| den Unsichtbaren in unserer Gesellschaft eine Stimme zu geben, komplett | |
| ignoriert wurde. | |
| Was es in die „Tagesschau“ geschafft hat, ist der IGLU-Bericht. Die | |
| Internationale Grundschulleseuntersuchung hat festgestellt, dass mehr als | |
| ein Viertel der Viertklässler in Deutschland nicht auf einem ihrem Alter | |
| gerechten Niveau lesen kann. Die Meldung schaffte es an dritte Stelle in | |
| der „Tagesschau“. Die Zahl ist seit 2016 rapide gestiegen, von 18,9 Prozent | |
| auf 25,4 Prozent. Das wird auch mit den pandemiebedingten | |
| Schuleinschränkungen zu tun haben, doch diese Erklärung allein ist zu kurz | |
| gegriffen. | |
| Die „Tagesschau“, wie viele andere deutsche Medien, hatte einen noch | |
| einfacheren Erklärungsansatz: Die Klassen würden immer „internationaler“, | |
| heißt es euphemistisch, man gibt der Migration die Schuld am schlechten | |
| Abschneiden. Das [3][Thema Klasse] – oder neudeutsch „soziale Herkunft“ �… | |
| erwähnt die „Tagesschau“ nur am Rande. „Bildungsfern“ lautet da der | |
| Euphemismus. Auch hier wird suggeriert: hauptsächlich ein Problem der | |
| Ausländer. Aber in anderen westeuropäischen Ländern, etwa den Niederlanden | |
| oder dem Vereinigten Königreich, hat ein viel größerer Anteil der | |
| Bevölkerung Migrationshintergrund. Trotzdem schneiden sie in der Studie | |
| viel besser ab. | |
| Nur in Bulgarien hing die Lesestärke noch mehr vom Bildungsgrad und | |
| Reichtum der Eltern ab als in Deutschland. Bulgarien ist ein wunderbares | |
| Land mit tollen Stränden und voller kreativer Menschen mit erfrischend | |
| schwarzem Humor, aber es ist auch ein Land, das 30 Jahre nach dem | |
| Zusammenbruch des Sozialismus von Korruption und Misswirtschaft so zugrunde | |
| gerichtet ist, dass die Bevölkerung um ein Drittel abgenommen hat, weil die | |
| Lebenserwartung nach dem Kollaps so stark zurückging, wenige Menschen aus | |
| Mangel an Zukunftsoptionen Kinder haben wollen und so viele Bulgaren in den | |
| Westen auswandern. | |
| Aus westeuropäischer Arroganz guckt man gerne verächtlich auf die ärmeren | |
| Länder in Südosteuropa runter, die von sozialistischer Misswirtschaft und | |
| Diktatur in kapitalistische Zerrüttung und Korruption übergegangen sind. | |
| Doch welche Ausrede hat Deutschland? Niemand will Armut, behaupten alle, | |
| doch trotzdem wird hier die Klassengesellschaft immer unerbittlicher in all | |
| unseren Institutionen zementiert. | |
| 20 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zahlen-zu-Armut-und-sozialer-Ausgrenzung/!5935085 | |
| [2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article245282446/Armutsbetroffen-Es… | |
| [3] /Experte-zu-Bildungsungerechtigkeit/!5931958 | |
| ## AUTOREN | |
| Caspar Shaller | |
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