# taz.de -- Nachruf auf Jenny De La Torre: Die Pionierin | |
> Die Berliner Ärztin Jenny De la Torre engagierte sich unermüdlich für | |
> obdachlose Menschen. Ihre Stiftung und ein Gesundheitszentrum helfen, | |
> wenn alle Stricke reißen. | |
Bild: Dr. Jenny De La Torre, 2013 im Speiseraum ihres Zentrums | |
Fast jeder, der in Berlin obdachlos ist oder war, kennt diesen Namen: Jenny | |
De la Torre. Sie ist eine Institution. Sie ist der Anker in der Not. Wenn | |
alle Stricke reißen, wenn nichts mehr geht, dann ist da noch Jenny De la | |
Torre. Egal ob ungewaschen oder verlaust, die Obdachlosenärztin ist | |
vorbereitet. Mitsamt ihrem ganzen Team in einem großen Haus mit Garten in | |
der Pflugstraße in Berlin-Mitte. | |
Das zumindest galt bis zum 10. Juni 2025. An diesem Dienstag ist Jenny De | |
la Torre in Berlin gestorben. Sie wurde 71 Jahre alt. Seit den 90er Jahren | |
leistete sie Pionierarbeit für arme, unversicherte, süchtige und obdachlose | |
Menschen. | |
Ihre Hilfe organisierte sie in der [1][Jenny De la Torre Stiftung und einem | |
Gesundheitszentrum in der Berliner Pflugstraße]. Am Mittwoch teilte die | |
Stiftung mit: „Wir sind in tiefer Trauer verbunden – und in der | |
Verantwortung, ihr Lebenswerk fortzuführen.“ Damit ist klar, dass die | |
Angebote für die Ärmsten der Gesellschaft bestehen bleiben. Auch ein Arzt | |
ist für die hauseigene Praxis des Zentrums bereits gefunden. | |
Das Haus bleibt so eine Anlaufstelle nicht nur für medizinische | |
Behandlungen, sondern auch für zahnärztliche, psychologische, soziale und | |
rechtliche Hilfe. Mit den Worten der Stiftung finden Menschen dort, was sie | |
sonst oft nicht mehr haben: einen Ort, an dem sie gesehen und ernst | |
genommen werden. | |
Denn für Jenny De la Torre waren die Obdachlosen nicht das Problem, sondern | |
Symptom einer kranken Gesellschaft. So half sie den Schwächsten von ihren | |
Rechten und Möglichkeiten zu erfahren und gab ihnen damit ihre Autonomie | |
zurück. Ihren Patienten dankte sie, weil „sie mich nicht zur Verzweiflung | |
gebracht haben, sondern die Kraft und die Überzeugung, dass es sich lohnt, | |
für sie und unsere Gesellschaft zu kämpfen.“ | |
Genau diese Haltung machten sie und ihre Arbeit so besonders. Zur taz sagte | |
sie einmal: „Wenn man den Menschen nicht in seiner Gesamtheit wahrnimmt, | |
dann können wir ihm kaum helfen. Ich kann zwar immer wieder seine Wunden | |
heilen, seine Krankheiten behandeln, die er von der Straße mitbringt, aber | |
oberstes Ziel unserer Arbeit hier ist die Reintegration. Ich will, dass die | |
Leute weg von der Straße kommen!“ | |
## Aus Peru zum Berliner Ostbahnhof | |
In die Arbeit mit den Ärmsten stolperte De la Torre, während sie obdachlose | |
Schwangere in Berlin behandelte. Die Frauen kamen manchmal sogar „ohne | |
Schuhe“, wie sie später sagte. | |
Die Ärztin kam gebürtig aus Peru, sie wuchs in den Anden auf. Erste | |
Erfahrungen mit sehr armen Menschen und deren Krankheiten sammelte sie | |
schon in ihrer Heimat. Sie beschloss, Ärztin zu werden. Mit einem | |
Stipendium kam sie 1976 in die DDR und studierte Medizin in Leipzig. Ihre | |
Fachärztinausbildung absolvierte sie an der Berliner Charité zur | |
Kinderchirurgin, die sie 1990 erfolgreich abschloss. Damals hatte sie noch | |
nicht geplant, Obdachlose in Berlin zu versorgen. Sie zog nach Peru, doch | |
ihre deutsche Ausbildung wurde dort nicht anerkannt. Also kam sie wieder | |
zurück und blieb. | |
Erschüttert über die große Not und den schlechten Allgemeinzustand der | |
Obdachlosen, bot sie ab 1994 Hilfe in einer Obdachlosenpraxis an, aus einem | |
fensterlosen Raum im Keller am Ostbahnhof. Einmal beschrieb sie das so: | |
„Zwölf Quadratmeter, ohne Fenster, ohne Telefon. (…) Wir hatten keine | |
Medikamente, keine Binden, keine Pflaster, nichts.“ Sie habe Albträume | |
erlitten, weil sie sich hilflos fühlte, ob des Ausmaßes an Verwahrlosung | |
und Elend der Menschen, die zu ihr kamen. Doch Jenny De la Torre kämpfte | |
sich durch, half, wo sie konnte. Sie entwickelte Ideen, schmiedete Pläne, | |
wie sie ihre Arbeit verstetigen und verbessern konnte. | |
## „Das mache ich nicht mit!“ | |
In den folgenden Jahren erfuhr sie Rückschläge. Sie musste wegen | |
Modernisierungsarbeiten umziehen. Unerwartet wurde ihre Stelle von 40 auf | |
25 Stunden gekürzt. Jenny De la Torre ließ das nicht zu: „Nicht mit mir. | |
Und nicht mit unseren Obdachlosen! Wir haben die Praxis für sie aufgebaut, | |
ich kann es nicht verantworten, ich kann meine Patienten nicht in 25 | |
Stunden adäquat betreuen, das mache ich nicht mit!“, sagte sie damals. | |
Daraufhin kündigte sie aus Protest. | |
Ermutigt durch ihre Nahestehenden erwuchs aus diesem Protest die Stiftung | |
und letztendlich auch das Gesundheitszentrum in Berlin-Mitte. | |
Mit diesem Zentrum setzte Jenny De la Torre Maßstäbe. Sie realisierte | |
darin, was vorher nicht einmal denkbar war. Das Bezirksamt stellte mietfrei | |
ein Gebäude zur Verfügung. Nach den Umbauten folgte 2006 die Eröffnung. Mit | |
Spenden finanziert und zu großen Teilen durch Ehrenamt ermöglicht, helfen | |
die Ärztin und ihr Team seitdem sofort, vorurteilsfrei und unbürokratisch. | |
Nicht selten war die Ärztin in ihrer Arbeit mit den grundlegendsten | |
menschlichen Bedürfnissen konfrontiert. Viele ihrer Patienten waren | |
jahrelang nicht beim Arzt, grundsätzlich misstrauisch und „nicht | |
wartezimmerfähig“, wie es eine Mitarbeiterin mal formulierte. Das Personal | |
musste einen Umgang finden, neue Wege bahnen, für die es noch keine Vorlage | |
gab. Manchmal geht es um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Motive zu | |
finden, warum es sich lohnt, weiterzumachen, nicht aufzugeben, auch dafür | |
ist die Stiftung da. Jenny De la Torre hat immer wieder den Mut bewiesen, | |
sich diesen Fragen gemeinsam mit ihren Patienten zu stellen. | |
## Sie handelte, wo andere aufgaben | |
Sie sprengte die Grenzen des vermeintlich Möglichen und handelte, wo andere | |
resignierten. Gleichzeitig arbeitete sie konventionell und strukturiert. | |
Sie trug stets einen weißen Kittel in der Praxis, sie siezte ihre Patienten | |
und Patientinnen und wer schon einmal in der Pflugstraße zu Besuch war, | |
weiß, wie tadellos sauber und gepflegt die Räume dort sind. | |
Für Jenny De la Torre waren Obdachlose keine Taugenichtse oder bloß Opfer: | |
„Ich sage, das sind Bürger, genau wie jeder andere. Nur: Sie haben viel | |
mehr Probleme als andere. Und sie haben ein Recht darauf, diese Probleme | |
lösen zu können.“ Sie nahm sich und ihre Arbeit ernst und gab damit auch | |
ihren Schützlingen das Gefühl, wertvoll und würdig zu sein. | |
In der Zeit von 9 bis 15 Uhr konnte und kann dort jeder und jede im Haus in | |
der Pflugstraße klopfen, behandelt werden, essen, sich neu einkleiden und | |
sogar eine rechtliche oder psychologische Beratung bekommen. | |
Das ist ihr Erbe. | |
12 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.delatorre-stiftung.de/ | |
## AUTOREN | |
Sean-Elias Ansa | |
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