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# taz.de -- Armut in Deutschland: Die Ärztin der Armen
> Zu Besuch bei Jenny De la Torre Castro in Berlin-Mitte. Die Ärztin hat
> dort ein Gesundheitszentrum für Obdachlose aufgebaut.
Bild: Dr. Jenny De la Torre.
OFW ist das Verwaltungskürzel für „ohne festen Wohnsitz“. Die Zahl der
Betroffenen ist nicht bestimmbar, sie steigt stetig, eine
Obdachlosenstatistik gibt es nicht. Für 2013 wird von schätzungsweise
300.000 Wohnungs- und Obdachlosen deutschlandweit ausgegangen. In Berlin
gibt es geschätzte 10.000 Wohnungs- und Obdachlose, ein Teil von ihnen lebt
in extremer Armut auf der Straße, darunter zunehmend Armutsmigranten aus
Osteuropa.
In Berlin stehen in der kalten Jahreszeit jedoch nur knapp 500 von der
Stadt finanzierte Notübernachtungsplätze zur Verfügung. Diese
Nachtquartiere für Männer und Frauen bieten in der Regel Übernachtung auf
dem Fußboden, auf eng nebeneinanderliegenden Isomatten. Sie sind regelmäßig
überfüllt.
Wer es nicht erträgt, in solchen Massenquartieren zu schlafen oder kein
Unterkommen für die Nacht ergattern kann, dem bleiben nur die Kältebusse
der karitativen Einrichtungen, aus denen Sozialarbeiter nachts Schlafsäcke,
Decken, heißen Tee und Suppen an die Obdachlosen auf der Straße verteilen.
Die Chance, durch den permanenten Stress des kräfteverzehrenden täglichen
Existenzkampfes chronisch krank zu werden, sich Erfrierungen zuzuziehen
oder Schlimmeres, die ist groß. Jeden Winter erfrieren in deutschen Städten
Obdachlose, das gehört schon zur Normalität.
In der Pflugstraße in Berlin-Mitte, einer kleinen Parallelstraße der
Chausseestraße, steht ein schön gegliedertes dreigeschossiges
Backsteinhaus, mit Hof, alten Bäumen und Garten im hinteren Teil des
Grundstücks. In diesem ehemaligen Schulgebäude von 1890 befindet sich heute
das privat betriebene Gesundheitszentrum für Obdachlose von Jenny De la
Torre. Es bietet Wohnungs- und Obdachlosen montags bis freitags von 8 bis
15 Uhr kostenlose medizinische und darüber hinaus umfangreiche
interdisziplinäre Hilfe an.
## „Es soll nicht kalt wirken“
Jenny De la Torre ist keine reiche Erbin und sie ist auch keine besoldete
Armenärztin. Sie hat sich in das unwägbare Abenteuer gestürzt, ihr Projekt
mit Hilfe von Spenden und engagierten Helferinnen und Helfern eigenständig
zu realisieren. Seit 7 Jahren mit Erfolg. Inzwischen verfügt sie über eine
mehr als 20 Jahre umfassende Erfahrung als Armenärztin, ihre
Obdachlosenarbeit hat in Deutschland Maßstäbe gesetzt.
Vor 9 Jahren waren wir, Elisabeth Kmölniger und ich, schon einmal hier,
auch um 8 Uhr morgens. Damals war alles noch in der Renovierungsphase.
Frau Dr. De la Torre empfängt uns mit festem Händedruck, frisch und munter
im weißen Kittel, ihre Augen glänzen unternehmungslustig. Sie zeigt uns
kurz das Haus, öffnet die Türen zu den noch leeren Behandlungs- und
Aufenthaltsräumen und freut sich über unser Lob der Möblierung und der
zarten Wandfarben. „Die Möbel hat uns das Hotel Mariott gespendet und
Farben für die Wände habe ich selbst ausgesucht, es sollte nichts kalt
wirken hier“, sagt unsere Gastgeberin und führt uns in ihre Ordination. Wir
möchten gerne wissen, wie sich das Gesundheitszentrum entwickelt hat seit
der Eröffnung 2006.
## Unabhängigkeit bewahren
„Wir hatten das Haus hier für 10 Jahre mit Nutzungsvertrag bekommen,
ursprünglich, wir haben es gründlich renoviert mit Spenden- und
Stiftungsgeldern und nach 4 Jahren hat die De la Torre-Stiftung dann das
Haus unerwartet erwerben können, das hat sich glücklicherweise so ergeben.
Es war sinnvoll gewesen, das Haus zu kaufen, weil da jetzt ganz viele
Menschen was davon haben, nicht nur die Obdachlosen, auch die Mitarbeiter,
die hier fest angestellt sind, und unsere ehrenamtlichen Kollegen, die bei
uns im Haus was Sinnvolles machen wollen.
Wir sind unabhängig, müssen nicht mehr befürchten, dass man uns raussetzt,
die Mittel kürzt, die Stundenzahl halbiert oder die Stellen streicht. Das
habe ich alles hinter mir! Wir haben alles aus eigenen Mitteln und Spenden
bezahlt, weil wir keine Schulden machen wollten. Nie im Leben! Auch privat
nicht, Schulden sind für mich ein rotes Tuch!
Wir haben heute acht fest eingestellte Mitarbeiter, eine davon bin ich.“
Sie lächelt. „Ich bin genauso angestellt wie alle. Die anderen Ärzte
allerdings, die sind alle ehrenamtlich. Also wir haben neben der Arztpraxis
eine Zahnarztpraxis, denn es gibt enorme Zahnprobleme, eine Augenärztin
haben wir – Augen ist auch sehr wichtig, weil ohne Brille die Leute
teilweise nicht mehr lesen können. Dann gibt es Hautärzte, Orthopäden, eine
Psychologin, die Sozialarbeiterin, vier Rechtsanwälte – zwei kommen
regelmäßig her – und dann haben wir noch Frau Winter, die Friseuse, die
einmal wöchentlich kommt, und zwei Gärtner kommen auch ehrenamtlich.
Wir versuchen, unseren Besuchern so viel wie möglich anzubieten. Natürlich
haben wir auch eine Suppenküche. Wir kochen aber nicht selbst, das Essen
wird uns angeliefert von der Kiez-Küche hier in der Nähe, wir geben es nur
aus. Einmal in der Woche kommt die ’Tafel‘ und bringt Joghurt, Quark,
frisches Obst, das wird hier in der Küche schön zurechtgemacht, also wir
haben einen super Koch. Wir können viel bieten. Es gibt Tageszeitungen,
Bücher und die Möglichkeit, Musik zu hören.
## Frauen brauchen Tampons
Was wir nicht haben, ist eine öffentliche Waschmaschine, weil die Sachen,
die hier ausgezogen werden, die können Sie echt nicht mehr waschen, die
kann man nur noch entsorgen. Das zu waschen, zu desinfizieren, würde so
viel an Zeit und Personal kosten – das geht einfach nicht. Wir haben eine
sehr gut sortierte Kleiderkammer, da bekommt derjenige problemlos frische
Wäsche und Kleidung, Schuhe, alles. Für die Frauen gibt es auch Tampons und
Binden, Frauen brauchen so was.
Mit den hygienischen Einrichtungen ist es so: Wir haben zwar Duschen für
Männer und Frauen, aber die sind in erster Linie für Patienten, also für
die, die krank sind. Das Problem ist nämlich, wenn jetzt 30 oder sogar 50
Leute kommen und die alle duschen wollen, dann geht das schon rein
technisch nicht. Jeder braucht ungefähr eine Stunde, mit ausziehen,
duschen, anziehen. Bei manchen muss man auch noch ein paarmal klopfen – ich
kann’s ja verstehen, dass sie das heiße Wasser so lange wie möglich
genießen möchten, aber oft herrscht Andrang und es gibt ein bisschen Radau
draußen. Und es muss die Dusche von uns nach jedem, der sie benutzt hat,
sorgfältig desinfiziert werden, damit der nächste sich keinen Fußpilz oder
sonst was einfängt. Das muss 10 Minuten einwirken. Deshalb machen wir es
so: Wenn keine Patienten da sind und es nicht zu viele sind, dann können
die anderen natürlich auch duschen. Wenn Patienten da sind, dann nicht.
Es ist ja ein Gesundheitszentrum. Schwerpunkt ist hier die Hilfe für
Kranke. Aber wir sehen uns natürlich auch die anderen Probleme an, denn
auch die müssen berücksichtigt werden. Und es sind ja nicht nur körperliche
Krankheiten, mit denen die Patienten kommen, sondern auch seelische. Sie
haben Süchte. Sie sind teilweise auch psychisch ziemlich krank. Und sie
haben rechtliche Probleme, viele haben Schulden, haben soziale Probleme,
Konflikte mit der Polizei, dem Ordnungsamt, Konflikte mit der Familie, oder
gar keinen Kontakt mehr. Und das meine ich mit ’sozialen Krankheiten‘, sie
leiden an einer sozialen Krankheit.
Wenn man das nicht berücksichtigt – also wenn man den Menschen nicht in
seiner Gesamtheit wahrnimmt –, dann können wir ihm kaum helfen. Ich kann
zwar immer wieder seine Wunden heilen, seine Krankheiten behandeln, die er
von der Straße mitbringt, aber oberstes Ziel unserer Arbeit hier ist die
Reintegration. Ich will, dass die Leute weg von der Straße kommen! Und da
gehört eben alles dazu, medizinische Versorgung, Hygiene gehört dazu,
Kleidung, Essen, soziale Beratung, juristische Beratung.
## Versicherung hat keiner
Viele haben keinerlei Papiere mehr. Ein Ausweis ist ja das Erste. Aber ohne
Fotos kein Ausweis, ohne Ausweis kein Hartz IV und nichts. Wir haben hier
im Haus die Möglichkeit, Passfotos zu machen, ein ehemaliger Fotograf macht
das ehrenamtlich. Und es gibt Stellen, wo sich Obdachlose pro forma
polizeilich anmelden können. Wenn diese Hürde genommen ist, dann ist ein
wichtiger Schritt gemacht. Darum geht es!
Ich habe mich entschieden, diese Arbeit zu machen, denn man kann nicht
warten, bis irgendwas geregelt wird. Die Leute sind ja da und sie brauchen
diese Hilfe und sie brauchen sie jetzt! Im Winter wird es wieder ganz
besonders hart für die Obdachlosen. Viele werden krank, laufen herum mit
Fieber, schlafen nachts irgendwo draußen in der Kälte und dabei gehören sie
doch ins Bett, um gesund zu werden. Eine Krankenversicherung hat keiner.
Manchmal werden uns die Leute direkt von den Behörden geschickt, wenn zum
Beispiel einer gerade seinen Antrag gestellt hat auf Arbeitslosengeld, aber
bis das genehmigt ist, vergehen 5 bis 6 Wochen und so lange ist er nicht
krankenversichert.
Wir kümmern uns natürlich auch um die, aber darin sehe ich eigentlich nicht
meine Aufgabe. Wenn ich mich jetzt ärgern würde, würde ich aber viel zu
viel Energie nur dafür verbrauchen. Ich konzentriere mich lieber auf meine
Patienten, auf den Menschen, den ich vor mir sehe. Und ich versuche, ihm
auch ein bisschen Optimismus zu vermitteln, denn wenn ich immer nur
herumschimpfen würde, über das, was alles schiefläuft draußen, dann baut
ihn das auch nicht auf. Dann verkriecht er sich vielleicht noch mehr.
Also hierher kommen Leute, die Probleme mit ihrer Gesundheit haben und
viele andere Probleme, die sich ein Mensch, der das nicht kennt, gar nicht
so richtig vorstellen kann. Wenn ein Patient zum ersten Mal kommt, dann
wird er ganz normal aufgenommen. Es kommt zum Beispiel ein Herr Müller und
sagt: ’Ich möchte hier eigentlich nur in die Kleiderkammer und ein bisschen
Essen, ich bin obdachlos geworden vor ein paar Wochen und weiß nicht, was
ich machen soll, man hat mir den Ausweis geklaut, außerdem habe ich keine
Krankenversicherung und ich fühle mich schlecht, habe da und dort
Schmerzen.‘
## Flaschen sammeln
Da müssen wir erst mal ganz am Anfang anfangen mit dem Herrn Müller,
fragen, wann war er zum letzten Mal beim Arzt, wann und weshalb ist er
obdachlos geworden, wo wird geschlafen, bei Bekannten, draußen oder in
Obdachlosenunterkünften, wovon lebt er, Flaschen sammeln, betteln,
Suppenküchen, was hat er gearbeitet vorher – manche haben Anspruch auf
Hartz IV, haben aber nie einen Antrag gestellt –, welche Schulbildung hat
er, ist oder war er verheiratet, gibt es Kinder? Wenn ich ein ungefähres
Bild von diesem Menschen habe, dann können wir einen Plan machen, wie wir
ihm auch sozial helfen können.
Wenn Herr Müller aber seine Geschichte nicht erzählen möchte, lieber anonym
bleiben will, dann kann er das natürlich. Er muss sich aber einen Namen
ausdenken für meine Unterlagen, weil ich mein ärztliches Handeln ja
aufschreiben muss, Sachen wie: Hat Penicillin bekommen usw. Eine Frau war
da, die hat sich ’Regenbogen‘ genannt, eine andere wollte gerne ’Mütze‘
heißen. Ich sage, von mir aus, Hauptsache beim nächsten Kontakt wissen Sie
es noch.
## Zeit und Geduld
Die meisten geben aber Auskunft über sich. Wenn ich erfahre, der ist erst
relativ kurz obdachlos, dann kann ich ihm ganz anders helfen als einem, der
seit 15 Jahren auf der Straße lebt. So ein langjährig Obdachloser braucht
viel Zeit und Geduld, er ist kaum noch in der Lage, sich mit Behörden
auseinanderzusetzen. Sie haben sich damit abgefunden, auf der Straße zu
leben und sind damit rund um die Uhr beschäftigt. Die Sozialanamnese ist
für mich wichtig, denn nur so weiß ich, was jemand neben einer
medizinischen Betreuung noch braucht.
Bei der medizinischen Anamnese, da sind die wichtigsten Fragen: Hepatitis,
HIV, Tuberkulose, Syphilis, das sind ja alles meldepflichtige Krankheiten.
Einige Patienten sind drogenabhängig. Ich mache so eine Grunduntersuchung:
Diabetes, Bluthochdruck, Sauerstoff und lasse mir schildern, was er für
Beschwerden hat. Alles, was ich hier ambulant für ihn tun kann, wird dann
gemacht. Zum Röntgen usw. schicke ich ihn zum Gesundheitsamt. Oft gibt es
auch Probleme mit den Zähnen, dann schicke ich ihn in unsere
Zahnarztpraxis, viele haben auch Schwierigkeiten mit dem Sehen, die können
dann zu unserer Augenärztin gehen, die auch eine Brillensammlung hat aus
Spenden. Wir bieten den Patienten auch noch das und das an: Wenn es
Probleme mit der Justiz gibt, wir haben auch Rechtsanwälte – mancher hat
’ne Flasche oder Lebensmittel mitgehen lassen, viele haben Schulden, weil
sie immer wieder beim Schwarzfahren erwischt wurden, und Angst haben vor
der Haftanstalt.
Wir haben eine Sozialarbeiterin, die ihnen hilft, die kann sofort die Seite
ausdrucken – man kann ja jetzt fast alle Formulare aus dem Internet holen
–, sofort ausfüllen und, zack, zum Amt damit. Technisch ist das gar kein
Problem. Wenn einer total Angst hat, da alleine hinzugehen, dann geht sie
mit. Aber wir überschütten die Leute natürlich nicht gleich mit Hilfe, um
Gottes Willen, sie sollen auch mal zur Ruhe kommen. Ich sage, gehen Sie
erst mal nach oben essen und in die Kleiderkammer, wenn Sie etwas brauchen.
Ich habe täglich die Praxis offen von 8 bis 15 Uhr, und Frühstück gibt es
täglich schon ab 8.30 Uhr, bis 14 Uhr ist die Küche offen.
## Ein Jahr Zeit
Ich achte aber darauf, dass die Leute hier nicht endlos obdachlos rein-,
obdachlos rausgehen. Da können sie genauso gut anderswo essen gehen. Wir
sind ja in dem Sinne keine Suppenküche. Wir sind zum einen
Gesundheitszentrum und wollen aber auch, dass die Leute nicht auf der
Stelle treten, sondern ein bisschen weiterkommen. Wir haben so ein Kärtchen
eingeführt, mit dem kann jemand einen ganzen Monat lang essen. Und nach
einem Monat spreche ich mit ihm, frage, wie geht es Ihnen, waren Sie beim
Amt, was hat sich ergeben, welche Probleme gibt es? Und dann bekommt er
wieder sein Kärtchen von der Sozialarbeiterin.
Wir lassen den Leuten Zeit. Ein ganzes Jahr. Dann sage ich: okay. Moment
mal, brauchen Sie unsere Hilfe überhaupt noch? Ich sehe Sie doch jetzt seit
einem Jahr. Sie sehen immer schlimmer aus. Ich habe den Eindruck, wir
können Ihnen nicht wirklich helfen. Meistens überlegen sie es sich dann
doch und unternehmen etwas, um weg von der Straße zu kommen. Wenn wir
sehen, er kann es schaffen, dann machen wir diesen Druck und helfen nach
allen Kräften. Aber wenn ich sehe, das wird nix, dann lassen wir die Leute,
manche haben wir schon seit Jahren hier. Manche sind auch psychisch krank,
da wäre Druck ganz falsch. Man muss das von Fall zu Fall klären.
Meist sind es ja Männer, die hierher kommen. Voriges Jahr hatte ich 83
Prozent Männer und 17 Prozent Frauen hier, im Durchschnitt sind es immer so
80 zu 20 Prozent. Und altersmäßig? Also das geht von 15 bis 80 Jahre
eigentlich, aber 90 Prozent sind zwischen 30 und Ende 50. Damals am
Ostbahnhof hatte ich – laut meinen Karten – so um 4 Prozent
Drogenabhängige, aber heute sind es wesentlich mehr. Die Zahl der
Alkoholkranken ist natürlich höher, 60 bis 70 Prozent.
Die meisten Patienten hier sind deutsche Staatsbürger, zunehmend kommen
aber auch Osteuropäer, Rumänen vor allem und Polen. Manche sind komplett
betrunken. Sie haben teilweise keine Papiere. Wer von ihnen krank wird,
muss die Behandlung privat bezahlen, EU-Bürger aus Osteuropa haben bisher
keinen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die haben große Probleme, sie
können auch nicht ins Obdachlosenheim, das geht nur mit
Kostenübernahmeschein und den kriegen sie nicht. Es kamen auch mal Roma,
die hatten zwar irgendwelche Unterkunft in Moabit, waren aber nicht
versichert. Da ging’s um Zahnschmerzen. Aber es kommen auch Leute aus
anderen Nationen, von Griechenland über Afrika bis zu Neuseeland.
## Armutskrankheiten
Aber die meisten Patienten sind deutscher Herkunft und oft in einem
schlechten Allgemeinzustand. Unsere Hautärzte sagen oft: ’Also hier sieht
man Sachen, so was habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht
gesehen. Wunden, Hauterkrankungen, Krätze, richtige Krätze, Parasiten, ja,
Läuse, alles!‘ Die Leute haben typische Armutskrankheiten, zum Beispiel die
sogenannte Schleppe, das ist eine bakterielle Hautkrankheit mit Eiter- und
Krustenbildung, oft am ganzen Körper bis zum Kopf. Da muss man erst mal
vollkommen säubern, desinfizieren und behandeln. Und dann gibt es natürlich
Magenprobleme, Geschwüre durch den ganzen Stress, die schlechte Ernährung,
Schlaflosigkeit, denn sie können ja nirgendwo ruhig schlafen. Viele sind
auch schon operiert worden.
Es gibt Lungenerkrankungen – einer kam mal mit einer offenen Tuberkulose,
ich konnte ihn sofort mit dem Krankentransport einweisen in die Klinik –
chronische Bronchitis, Asthma. Und dann natürlich Erkrankungen durch
Alkohol, Bauchspeicheldrüse, Leberzirrhose, klar! Einige fügen sich
Selbstverletzungen zu, schneiden sich mit Rasierklingen, brennen sich mit
Zigaretten, junge Mädchen, aber Jungs auch. Es gibt viele Anämien.
Verletzungen durch Stürze. Es gibt unbehandelte Diabetiker, offene Beine
und natürlich auch Erfrierungen in jedem Winter. Meistens sind es die
Zehen. Einer hat seinen Vorfuß dadurch verloren. Alles Krankheiten, die
direkt mit der schlechten Lebenssituation zu tun haben.
Auch im HNO-Bereich gibt’s vieles: Mittelohrentzündungen, schwere Angina,
damit kommen sie erst, wenn sie nicht mehr sprechen können.
Augeninfektionen kommen oft vor. Viele haben Blasenerkrankungen von der
Kälte, Inkontinenz, Durchfall, was ganz besonders schlimm ist, wenn man
weder Zugang zu einer Toilette hat noch zu Wasser und frischen Sachen. Als
ich damals anfing in der Praxis am Ostbahnhof, da habe ich so viele
verwahrloste Menschen gesehen, wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Verwahrlost heißt: Es kommt ein Mensch, der schon von Weitem stinkt, er hat
ewig die Hose nicht ausgezogen, die Socken sind angewachsen, die Maden
kommen raus, es regnet Kopf- und Filzläuse, da muss der Pfleger erst mal
eine Ganzkörperrasur machen, entlausen und alles aufweichen … also so was
ist schon extrem! Jetzt sehe ich immer noch welche, aber nicht mehr so
viele. Es gibt inzwischen vier Praxen in Berlin, das wirkt sich aus. Wir
alle haben in Berlin schon was erreicht. Ein wenig jedenfalls.
## Spenden erwünscht
Was hat sich geändert in den vergangenen Jahren? Es gibt sehr viele
Menschen, die nicht obdachlos sind, aber sie haben keine
Krankenversicherung, waren vielleicht mal selbstständig, zum Beispiel als
Taxifahrer, und sind dann raus aus der privaten Kasse, weil sie die 600
Euro nicht mehr zahlen konnten und auch nicht die Hälfte für Bedürftige.“
(Rund 137.000 nicht krankenversicherte Personen gibt es laut Statistischem
Bundesamt. Und 150.000 Privatversicherte können ihre Policen nicht mehr
bezahlen und bleiben die Beiträge schuldig. Anm. G. G.) „Das geschieht seit
2009, seit es dieses Gesetz gibt zur Versicherungspflicht. Also hier bei
uns gehören zu den Patienten jetzt auch so 20 Prozent etwa, die normal
wohnen, aber nicht versichert sind. Eine Frau hat mich mal angerufen und
gesagt, sie schläft mittlerweile in ihrem Kiosk, weil sie sich nur Miete
oder Versicherung leisten kann. Auch kleine Rentner, die ihre
Zusatzmedikamente oder Brille nicht bezahlen können.
Überhaupt kommen zunehmend Patienten, da sage ich: Um Gottes Willen, was
wollen denn diese Personen hier?! Ich mache das nun schon fast 20 Jahre, am
Anfang kamen die klassischen Obdachlosen in meine Sprechstunde, arme Leute
aus der unteren Schicht, inzwischen kommen heute auch Arme aus ehemals
besseren Verhältnissen, die gebildet sind. Wir hatten schon einen Doktor
der Pädagogik, einen Architekten, einen Anästhesisten, eine
Krankenschwester …
Was ich mir wünsche? Na ja, ich wünsche mir, dass wir weiterhin Spenden
bekommen, damit es weitergehen kann. Von 2006 bis heute haben wir es
geschafft. Und ich wünsche mir an erster Stelle natürlich, dass wir so
viele Leute wie möglich von der Straße weg bekommen. Unsere Patienten hier,
die träumen ja nicht von Palästen oder so. Die sehnen sich nach einem ganz
einfachen, normalen Leben. Sie wollen nicht unter der Brücke im Park oder
im Abrisshaus schlafen, und auch nicht mit mehreren anderen in einem Raum,
wo der eine schnarcht, der andere im Schlaf redet oder nicht schlafen kann.
Sie wollen ein Zimmer für sich allein, eine kleine Wohnung. Ich sage mir,
es muss doch möglich sein, dass wir in einem so reichen Land die Leute von
der Straße holen können?! Ich finde, dass das Problem lösbar ist.
Mein Motiv? Wissen Sie, ich bin in Peru in den Anden aufgewachsen und als
ich 13 Jahre alt war, zogen wir nach Ica, an die Küste. Dort habe ich zum
ersten Mal in meinem Leben richtig arme Leute gesehen. Ich war schockiert.
Ich habe mich immer sehr interessiert für dieses Problem, es hat mich
empört! Und aus diesem Grund bin ich eigentlich Ärztin geworden. Ich mache
das hier nicht, um karitativ tätig zu sein, zu missionieren oder zu
erziehen. Ich möchte den Leuten in ihrer akuten Notlage medizinisch und
auch mental helfen, und mir geht es darum, sie so zu stärken, dass sie ihr
gutes Recht wahrnehmen können, als Bürger, die sie nach wie vor sind!“
31 Dec 2013
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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