| # taz.de -- Armut in Deutschland: Die Ärztin der Armen | |
| > Zu Besuch bei Jenny De la Torre Castro in Berlin-Mitte. Die Ärztin hat | |
| > dort ein Gesundheitszentrum für Obdachlose aufgebaut. | |
| Bild: Dr. Jenny De la Torre | |
| Dieses Portrait der Berliner Obdachlosenärztin Jenny de la Torre erschien | |
| erstmals im Jahr 2013. [1][Am 10. Juni 2025 ist sie nach schwerer Krankheit | |
| gestorben.] Wir veröffentlichen den Text daher erneut. | |
| OFW ist das Verwaltungskürzel für „ohne festen Wohnsitz“. Die Zahl der | |
| Betroffenen ist nicht bestimmbar, sie steigt stetig, eine | |
| Obdachlosenstatistik gibt es nicht. Für 2013 wird von schätzungsweise | |
| 300.000 Wohnungs- und Obdachlosen deutschlandweit ausgegangen. In Berlin | |
| gibt es geschätzte 10.000 Wohnungs- und Obdachlose, ein Teil von ihnen lebt | |
| in extremer Armut auf der Straße, darunter zunehmend Armutsmigranten aus | |
| Osteuropa. | |
| In Berlin stehen in der kalten Jahreszeit jedoch nur knapp 500 von der | |
| Stadt finanzierte Notübernachtungsplätze zur Verfügung. Diese | |
| Nachtquartiere für Männer und Frauen bieten in der Regel Übernachtung auf | |
| dem Fußboden, auf eng nebeneinanderliegenden Isomatten. Sie sind regelmäßig | |
| überfüllt. | |
| Wer es nicht erträgt, in solchen Massenquartieren zu schlafen oder kein | |
| Unterkommen für die Nacht ergattern kann, dem bleiben nur die Kältebusse | |
| der karitativen Einrichtungen, aus denen Sozialarbeiter nachts Schlafsäcke, | |
| Decken, heißen Tee und Suppen an die Obdachlosen auf der Straße verteilen. | |
| Die Chance, durch den permanenten Stress des kräfteverzehrenden täglichen | |
| Existenzkampfes chronisch krank zu werden, sich Erfrierungen zuzuziehen | |
| oder Schlimmeres, die ist groß. Jeden Winter erfrieren in deutschen Städten | |
| Obdachlose, das gehört schon zur Normalität. | |
| In der Pflugstraße in Berlin-Mitte, einer kleinen Parallelstraße der | |
| Chausseestraße, steht ein schön gegliedertes dreigeschossiges | |
| Backsteinhaus, mit Hof, alten Bäumen und Garten im hinteren Teil des | |
| Grundstücks. In diesem ehemaligen Schulgebäude von 1890 befindet sich heute | |
| das privat betriebene Gesundheitszentrum für Obdachlose von Jenny De la | |
| Torre. Es bietet Wohnungs- und Obdachlosen montags bis freitags von 8 bis | |
| 15 Uhr kostenlose medizinische und darüber hinaus umfangreiche | |
| interdisziplinäre Hilfe an. | |
| ## „Es soll nicht kalt wirken“ | |
| Jenny De la Torre ist keine reiche Erbin und sie ist auch keine besoldete | |
| Armenärztin. Sie hat sich in das unwägbare Abenteuer gestürzt, ihr Projekt | |
| mit Hilfe von Spenden und engagierten Helferinnen und Helfern eigenständig | |
| zu realisieren. Seit 7 Jahren mit Erfolg. Inzwischen verfügt sie über eine | |
| mehr als 20 Jahre umfassende Erfahrung als Armenärztin, ihre | |
| Obdachlosenarbeit hat in Deutschland Maßstäbe gesetzt. | |
| Vor 9 Jahren waren wir, Elisabeth Kmölniger und ich, schon einmal hier, | |
| auch um 8 Uhr morgens. Damals war alles noch in der Renovierungsphase. | |
| Frau Dr. De la Torre empfängt uns mit festem Händedruck, frisch und munter | |
| im weißen Kittel, ihre Augen glänzen unternehmungslustig. Sie zeigt uns | |
| kurz das Haus, öffnet die Türen zu den noch leeren Behandlungs- und | |
| Aufenthaltsräumen und freut sich über unser Lob der Möblierung und der | |
| zarten Wandfarben. „Die Möbel hat uns das Hotel Mariott gespendet und | |
| Farben für die Wände habe ich selbst ausgesucht, es sollte nichts kalt | |
| wirken hier“, sagt unsere Gastgeberin und führt uns in ihre Ordination. Wir | |
| möchten gerne wissen, wie sich das Gesundheitszentrum entwickelt hat seit | |
| der Eröffnung 2006. | |
| ## Unabhängigkeit bewahren | |
| „Wir hatten das Haus hier für 10 Jahre mit Nutzungsvertrag bekommen, | |
| ursprünglich, wir haben es gründlich renoviert mit Spenden- und | |
| Stiftungsgeldern und nach 4 Jahren hat die De la Torre-Stiftung dann das | |
| Haus unerwartet erwerben können, das hat sich glücklicherweise so ergeben. | |
| Es war sinnvoll gewesen, das Haus zu kaufen, weil da jetzt ganz viele | |
| Menschen was davon haben, nicht nur die Obdachlosen, auch die Mitarbeiter, | |
| die hier fest angestellt sind, und unsere ehrenamtlichen Kollegen, die bei | |
| uns im Haus was Sinnvolles machen wollen. | |
| Wir sind unabhängig, müssen nicht mehr befürchten, dass man uns raussetzt, | |
| die Mittel kürzt, die Stundenzahl halbiert oder die Stellen streicht. Das | |
| habe ich alles hinter mir! Wir haben alles aus eigenen Mitteln und Spenden | |
| bezahlt, weil wir keine Schulden machen wollten. Nie im Leben! Auch privat | |
| nicht, Schulden sind für mich ein rotes Tuch! | |
| Wir haben heute acht fest eingestellte Mitarbeiter, eine davon bin ich.“ | |
| Sie lächelt. „Ich bin genauso angestellt wie alle. Die anderen Ärzte | |
| allerdings, die sind alle ehrenamtlich. Also wir haben neben der Arztpraxis | |
| eine Zahnarztpraxis, denn es gibt enorme Zahnprobleme, eine Augenärztin | |
| haben wir – Augen ist auch sehr wichtig, weil ohne Brille die Leute | |
| teilweise nicht mehr lesen können. Dann gibt es Hautärzte, Orthopäden, eine | |
| Psychologin, die Sozialarbeiterin, vier Rechtsanwälte – zwei kommen | |
| regelmäßig her – und dann haben wir noch Frau Winter, die Friseuse, die | |
| einmal wöchentlich kommt, und zwei Gärtner kommen auch ehrenamtlich. | |
| Wir versuchen, unseren Besuchern so viel wie möglich anzubieten. Natürlich | |
| haben wir auch eine Suppenküche. Wir kochen aber nicht selbst, das Essen | |
| wird uns angeliefert von der Kiez-Küche hier in der Nähe, wir geben es nur | |
| aus. Einmal in der Woche kommt die ’Tafel' und bringt Joghurt, Quark, | |
| frisches Obst, das wird hier in der Küche schön zurechtgemacht, also wir | |
| haben einen super Koch. Wir können viel bieten. Es gibt Tageszeitungen, | |
| Bücher und die Möglichkeit, Musik zu hören. | |
| ## Frauen brauchen Tampons | |
| Was wir nicht haben, ist eine öffentliche Waschmaschine, weil die Sachen, | |
| die hier ausgezogen werden, die können Sie echt nicht mehr waschen, die | |
| kann man nur noch entsorgen. Das zu waschen, zu desinfizieren, würde so | |
| viel an Zeit und Personal kosten – das geht einfach nicht. Wir haben eine | |
| sehr gut sortierte Kleiderkammer, da bekommt derjenige problemlos frische | |
| Wäsche und Kleidung, Schuhe, alles. Für die Frauen gibt es auch Tampons und | |
| Binden, Frauen brauchen so was. | |
| Mit den hygienischen Einrichtungen ist es so: Wir haben zwar Duschen für | |
| Männer und Frauen, aber die sind in erster Linie für Patienten, also für | |
| die, die krank sind. Das Problem ist nämlich, wenn jetzt 30 oder sogar 50 | |
| Leute kommen und die alle duschen wollen, dann geht das schon rein | |
| technisch nicht. Jeder braucht ungefähr eine Stunde, mit ausziehen, | |
| duschen, anziehen. Bei manchen muss man auch noch ein paarmal klopfen – ich | |
| kann’s ja verstehen, dass sie das heiße Wasser so lange wie möglich | |
| genießen möchten, aber oft herrscht Andrang und es gibt ein bisschen Radau | |
| draußen. Und es muss die Dusche von uns nach jedem, der sie benutzt hat, | |
| sorgfältig desinfiziert werden, damit der nächste sich keinen Fußpilz oder | |
| sonst was einfängt. Das muss 10 Minuten einwirken. Deshalb machen wir es | |
| so: Wenn keine Patienten da sind und es nicht zu viele sind, dann können | |
| die anderen natürlich auch duschen. Wenn Patienten da sind, dann nicht. | |
| Es ist ja ein Gesundheitszentrum. Schwerpunkt ist hier die Hilfe für | |
| Kranke. Aber wir sehen uns natürlich auch die anderen Probleme an, denn | |
| auch die müssen berücksichtigt werden. Und es sind ja nicht nur körperliche | |
| Krankheiten, mit denen die Patienten kommen, sondern auch seelische. Sie | |
| haben Süchte. Sie sind teilweise auch psychisch ziemlich krank. Und sie | |
| haben rechtliche Probleme, viele haben Schulden, haben soziale Probleme, | |
| Konflikte mit der Polizei, dem Ordnungsamt, Konflikte mit der Familie, oder | |
| gar keinen Kontakt mehr. Und das meine ich mit ’sozialen Krankheiten', sie | |
| leiden an einer sozialen Krankheit. | |
| Wenn man das nicht berücksichtigt – also wenn man den Menschen nicht in | |
| seiner Gesamtheit wahrnimmt –, dann können wir ihm kaum helfen. Ich kann | |
| zwar immer wieder seine Wunden heilen, seine Krankheiten behandeln, die er | |
| von der Straße mitbringt, aber oberstes Ziel unserer Arbeit hier ist die | |
| Reintegration. Ich will, dass die Leute weg von der Straße kommen! Und da | |
| gehört eben alles dazu, medizinische Versorgung, Hygiene gehört dazu, | |
| Kleidung, Essen, soziale Beratung, juristische Beratung. | |
| ## Versicherung hat keiner | |
| Viele haben keinerlei Papiere mehr. Ein Ausweis ist ja das Erste. Aber ohne | |
| Fotos kein Ausweis, ohne Ausweis kein Hartz IV und nichts. Wir haben hier | |
| im Haus die Möglichkeit, Passfotos zu machen, ein ehemaliger Fotograf macht | |
| das ehrenamtlich. Und es gibt Stellen, wo sich Obdachlose pro forma | |
| polizeilich anmelden können. Wenn diese Hürde genommen ist, dann ist ein | |
| wichtiger Schritt gemacht. Darum geht es! | |
| Ich habe mich entschieden, diese Arbeit zu machen, denn man kann nicht | |
| warten, bis irgendwas geregelt wird. Die Leute sind ja da und sie brauchen | |
| diese Hilfe und sie brauchen sie jetzt! Im Winter wird es wieder ganz | |
| besonders hart für die Obdachlosen. Viele werden krank, laufen herum mit | |
| Fieber, schlafen nachts irgendwo draußen in der Kälte und dabei gehören sie | |
| doch ins Bett, um gesund zu werden. Eine Krankenversicherung hat keiner. | |
| Manchmal werden uns die Leute direkt von den Behörden geschickt, wenn zum | |
| Beispiel einer gerade seinen Antrag gestellt hat auf Arbeitslosengeld, aber | |
| bis das genehmigt ist, vergehen 5 bis 6 Wochen und so lange ist er nicht | |
| krankenversichert. | |
| Wir kümmern uns natürlich auch um die, aber darin sehe ich eigentlich nicht | |
| meine Aufgabe. Wenn ich mich jetzt ärgern würde, würde ich aber viel zu | |
| viel Energie nur dafür verbrauchen. Ich konzentriere mich lieber auf meine | |
| Patienten, auf den Menschen, den ich vor mir sehe. Und ich versuche, ihm | |
| auch ein bisschen Optimismus zu vermitteln, denn wenn ich immer nur | |
| herumschimpfen würde, über das, was alles schiefläuft draußen, dann baut | |
| ihn das auch nicht auf. Dann verkriecht er sich vielleicht noch mehr. | |
| Also hierher kommen Leute, die Probleme mit ihrer Gesundheit haben und | |
| viele andere Probleme, die sich ein Mensch, der das nicht kennt, gar nicht | |
| so richtig vorstellen kann. Wenn ein Patient zum ersten Mal kommt, dann | |
| wird er ganz normal aufgenommen. Es kommt zum Beispiel ein Herr Müller und | |
| sagt: ’Ich möchte hier eigentlich nur in die Kleiderkammer und ein bisschen | |
| Essen, ich bin obdachlos geworden vor ein paar Wochen und weiß nicht, was | |
| ich machen soll, man hat mir den Ausweis geklaut, außerdem habe ich keine | |
| Krankenversicherung und ich fühle mich schlecht, habe da und dort | |
| Schmerzen.' | |
| ## Flaschen sammeln | |
| Da müssen wir erst mal ganz am Anfang anfangen mit dem Herrn Müller, | |
| fragen, wann war er zum letzten Mal beim Arzt, wann und weshalb ist er | |
| obdachlos geworden, wo wird geschlafen, bei Bekannten, draußen oder in | |
| Obdachlosenunterkünften, wovon lebt er, Flaschen sammeln, betteln, | |
| Suppenküchen, was hat er gearbeitet vorher – manche haben Anspruch auf | |
| Hartz IV, haben aber nie einen Antrag gestellt –, welche Schulbildung hat | |
| er, ist oder war er verheiratet, gibt es Kinder? Wenn ich ein ungefähres | |
| Bild von diesem Menschen habe, dann können wir einen Plan machen, wie wir | |
| ihm auch sozial helfen können. | |
| Wenn Herr Müller aber seine Geschichte nicht erzählen möchte, lieber anonym | |
| bleiben will, dann kann er das natürlich. Er muss sich aber einen Namen | |
| ausdenken für meine Unterlagen, weil ich mein ärztliches Handeln ja | |
| aufschreiben muss, Sachen wie: Hat Penicillin bekommen usw. Eine Frau war | |
| da, die hat sich ’Regenbogen' genannt, eine andere wollte gerne ’Mütze' | |
| heißen. Ich sage, von mir aus, Hauptsache beim nächsten Kontakt wissen Sie | |
| es noch. | |
| ## Zeit und Geduld | |
| Die meisten geben aber Auskunft über sich. Wenn ich erfahre, der ist erst | |
| relativ kurz obdachlos, dann kann ich ihm ganz anders helfen als einem, der | |
| seit 15 Jahren auf der Straße lebt. So ein langjährig Obdachloser braucht | |
| viel Zeit und Geduld, er ist kaum noch in der Lage, sich mit Behörden | |
| auseinanderzusetzen. Sie haben sich damit abgefunden, auf der Straße zu | |
| leben und sind damit rund um die Uhr beschäftigt. Die Sozialanamnese ist | |
| für mich wichtig, denn nur so weiß ich, was jemand neben einer | |
| medizinischen Betreuung noch braucht. | |
| Bei der medizinischen Anamnese, da sind die wichtigsten Fragen: Hepatitis, | |
| HIV, Tuberkulose, Syphilis, das sind ja alles meldepflichtige Krankheiten. | |
| Einige Patienten sind drogenabhängig. Ich mache so eine Grunduntersuchung: | |
| Diabetes, Bluthochdruck, Sauerstoff und lasse mir schildern, was er für | |
| Beschwerden hat. Alles, was ich hier ambulant für ihn tun kann, wird dann | |
| gemacht. Zum Röntgen usw. schicke ich ihn zum Gesundheitsamt. Oft gibt es | |
| auch Probleme mit den Zähnen, dann schicke ich ihn in unsere | |
| Zahnarztpraxis, viele haben auch Schwierigkeiten mit dem Sehen, die können | |
| dann zu unserer Augenärztin gehen, die auch eine Brillensammlung hat aus | |
| Spenden. Wir bieten den Patienten auch noch das und das an: Wenn es | |
| Probleme mit der Justiz gibt, wir haben auch Rechtsanwälte – mancher hat | |
| ’ne Flasche oder Lebensmittel mitgehen lassen, viele haben Schulden, weil | |
| sie immer wieder beim Schwarzfahren erwischt wurden, und Angst haben vor | |
| der Haftanstalt. | |
| Wir haben eine Sozialarbeiterin, die ihnen hilft, die kann sofort die Seite | |
| ausdrucken – man kann ja jetzt fast alle Formulare aus dem Internet holen | |
| –, sofort ausfüllen und, zack, zum Amt damit. Technisch ist das gar kein | |
| Problem. Wenn einer total Angst hat, da alleine hinzugehen, dann geht sie | |
| mit. Aber wir überschütten die Leute natürlich nicht gleich mit Hilfe, um | |
| Gottes Willen, sie sollen auch mal zur Ruhe kommen. Ich sage, gehen Sie | |
| erst mal nach oben essen und in die Kleiderkammer, wenn Sie etwas brauchen. | |
| Ich habe täglich die Praxis offen von 8 bis 15 Uhr, und Frühstück gibt es | |
| täglich schon ab 8.30 Uhr, bis 14 Uhr ist die Küche offen. | |
| ## Ein Jahr Zeit | |
| Ich achte aber darauf, dass die Leute hier nicht endlos obdachlos rein-, | |
| obdachlos rausgehen. Da können sie genauso gut anderswo essen gehen. Wir | |
| sind ja in dem Sinne keine Suppenküche. Wir sind zum einen | |
| Gesundheitszentrum und wollen aber auch, dass die Leute nicht auf der | |
| Stelle treten, sondern ein bisschen weiterkommen. Wir haben so ein Kärtchen | |
| eingeführt, mit dem kann jemand einen ganzen Monat lang essen. Und nach | |
| einem Monat spreche ich mit ihm, frage, wie geht es Ihnen, waren Sie beim | |
| Amt, was hat sich ergeben, welche Probleme gibt es? Und dann bekommt er | |
| wieder sein Kärtchen von der Sozialarbeiterin. | |
| Wir lassen den Leuten Zeit. Ein ganzes Jahr. Dann sage ich: okay. Moment | |
| mal, brauchen Sie unsere Hilfe überhaupt noch? Ich sehe Sie doch jetzt seit | |
| einem Jahr. Sie sehen immer schlimmer aus. Ich habe den Eindruck, wir | |
| können Ihnen nicht wirklich helfen. Meistens überlegen sie es sich dann | |
| doch und unternehmen etwas, um weg von der Straße zu kommen. Wenn wir | |
| sehen, er kann es schaffen, dann machen wir diesen Druck und helfen nach | |
| allen Kräften. Aber wenn ich sehe, das wird nix, dann lassen wir die Leute, | |
| manche haben wir schon seit Jahren hier. Manche sind auch psychisch krank, | |
| da wäre Druck ganz falsch. Man muss das von Fall zu Fall klären. | |
| Meist sind es ja Männer, die hierher kommen. Voriges Jahr hatte ich 83 | |
| Prozent Männer und 17 Prozent Frauen hier, im Durchschnitt sind es immer so | |
| 80 zu 20 Prozent. Und altersmäßig? Also das geht von 15 bis 80 Jahre | |
| eigentlich, aber 90 Prozent sind zwischen 30 und Ende 50. Damals am | |
| Ostbahnhof hatte ich – laut meinen Karten – so um 4 Prozent | |
| Drogenabhängige, aber heute sind es wesentlich mehr. Die Zahl der | |
| Alkoholkranken ist natürlich höher, 60 bis 70 Prozent. | |
| Die meisten Patienten hier sind deutsche Staatsbürger, zunehmend kommen | |
| aber auch Osteuropäer, Rumänen vor allem und Polen. Manche sind komplett | |
| betrunken. Sie haben teilweise keine Papiere. Wer von ihnen krank wird, | |
| muss die Behandlung privat bezahlen, EU-Bürger aus Osteuropa haben bisher | |
| keinen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die haben große Probleme, sie | |
| können auch nicht ins Obdachlosenheim, das geht nur mit | |
| Kostenübernahmeschein und den kriegen sie nicht. Es kamen auch mal Roma, | |
| die hatten zwar irgendwelche Unterkunft in Moabit, waren aber nicht | |
| versichert. Da ging’s um Zahnschmerzen. Aber es kommen auch Leute aus | |
| anderen Nationen, von Griechenland über Afrika bis zu Neuseeland. | |
| ## Armutskrankheiten | |
| Aber die meisten Patienten sind deutscher Herkunft und oft in einem | |
| schlechten Allgemeinzustand. Unsere Hautärzte sagen oft: ’Also hier sieht | |
| man Sachen, so was habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht | |
| gesehen. Wunden, Hauterkrankungen, Krätze, richtige Krätze, Parasiten, ja, | |
| Läuse, alles!' Die Leute haben typische Armutskrankheiten, zum Beispiel die | |
| sogenannte Schleppe, das ist eine bakterielle Hautkrankheit mit Eiter- und | |
| Krustenbildung, oft am ganzen Körper bis zum Kopf. Da muss man erst mal | |
| vollkommen säubern, desinfizieren und behandeln. Und dann gibt es natürlich | |
| Magenprobleme, Geschwüre durch den ganzen Stress, die schlechte Ernährung, | |
| Schlaflosigkeit, denn sie können ja nirgendwo ruhig schlafen. Viele sind | |
| auch schon operiert worden. | |
| Es gibt Lungenerkrankungen – einer kam mal mit einer offenen Tuberkulose, | |
| ich konnte ihn sofort mit dem Krankentransport einweisen in die Klinik – | |
| chronische Bronchitis, Asthma. Und dann natürlich Erkrankungen durch | |
| Alkohol, Bauchspeicheldrüse, Leberzirrhose, klar! Einige fügen sich | |
| Selbstverletzungen zu, schneiden sich mit Rasierklingen, brennen sich mit | |
| Zigaretten, junge Mädchen, aber Jungs auch. Es gibt viele Anämien. | |
| Verletzungen durch Stürze. Es gibt unbehandelte Diabetiker, offene Beine | |
| und natürlich auch Erfrierungen in jedem Winter. Meistens sind es die | |
| Zehen. Einer hat seinen Vorfuß dadurch verloren. Alles Krankheiten, die | |
| direkt mit der schlechten Lebenssituation zu tun haben. | |
| Auch im HNO-Bereich gibt’s vieles: Mittelohrentzündungen, schwere Angina, | |
| damit kommen sie erst, wenn sie nicht mehr sprechen können. | |
| Augeninfektionen kommen oft vor. Viele haben Blasenerkrankungen von der | |
| Kälte, Inkontinenz, Durchfall, was ganz besonders schlimm ist, wenn man | |
| weder Zugang zu einer Toilette hat noch zu Wasser und frischen Sachen. Als | |
| ich damals anfing in der Praxis am Ostbahnhof, da habe ich so viele | |
| verwahrloste Menschen gesehen, wie noch nie zuvor in meinem Leben. | |
| Verwahrlost heißt: Es kommt ein Mensch, der schon von Weitem stinkt, er hat | |
| ewig die Hose nicht ausgezogen, die Socken sind angewachsen, die Maden | |
| kommen raus, es regnet Kopf- und Filzläuse, da muss der Pfleger erst mal | |
| eine Ganzkörperrasur machen, entlausen und alles aufweichen … also so was | |
| ist schon extrem! Jetzt sehe ich immer noch welche, aber nicht mehr so | |
| viele. Es gibt inzwischen vier Praxen in Berlin, das wirkt sich aus. Wir | |
| alle haben in Berlin schon was erreicht. Ein wenig jedenfalls. | |
| ## Spenden erwünscht | |
| Was hat sich geändert in den vergangenen Jahren? Es gibt sehr viele | |
| Menschen, die nicht obdachlos sind, aber sie haben keine | |
| Krankenversicherung, waren vielleicht mal selbstständig, zum Beispiel als | |
| Taxifahrer, und sind dann raus aus der privaten Kasse, weil sie die 600 | |
| Euro nicht mehr zahlen konnten und auch nicht die Hälfte für Bedürftige.“ | |
| (Rund 137.000 nicht krankenversicherte Personen gibt es laut Statistischem | |
| Bundesamt. Und 150.000 Privatversicherte können ihre Policen nicht mehr | |
| bezahlen und bleiben die Beiträge schuldig. Anm. G. G.) „Das geschieht seit | |
| 2009, seit es dieses Gesetz gibt zur Versicherungspflicht. Also hier bei | |
| uns gehören zu den Patienten jetzt auch so 20 Prozent etwa, die normal | |
| wohnen, aber nicht versichert sind. Eine Frau hat mich mal angerufen und | |
| gesagt, sie schläft mittlerweile in ihrem Kiosk, weil sie sich nur Miete | |
| oder Versicherung leisten kann. Auch kleine Rentner, die ihre | |
| Zusatzmedikamente oder Brille nicht bezahlen können. | |
| Überhaupt kommen zunehmend Patienten, da sage ich: Um Gottes Willen, was | |
| wollen denn diese Personen hier?! Ich mache das nun schon fast 20 Jahre, am | |
| Anfang kamen die klassischen Obdachlosen in meine Sprechstunde, arme Leute | |
| aus der unteren Schicht, inzwischen kommen heute auch Arme aus ehemals | |
| besseren Verhältnissen, die gebildet sind. Wir hatten schon einen Doktor | |
| der Pädagogik, einen Architekten, einen Anästhesisten, eine | |
| Krankenschwester … | |
| Was ich mir wünsche? Na ja, ich wünsche mir, dass wir weiterhin Spenden | |
| bekommen, damit es weitergehen kann. Von 2006 bis heute haben wir es | |
| geschafft. Und ich wünsche mir an erster Stelle natürlich, dass wir so | |
| viele Leute wie möglich von der Straße weg bekommen. Unsere Patienten hier, | |
| die träumen ja nicht von Palästen oder so. Die sehnen sich nach einem ganz | |
| einfachen, normalen Leben. Sie wollen nicht unter der Brücke im Park oder | |
| im Abrisshaus schlafen, und auch nicht mit mehreren anderen in einem Raum, | |
| wo der eine schnarcht, der andere im Schlaf redet oder nicht schlafen kann. | |
| Sie wollen ein Zimmer für sich allein, eine kleine Wohnung. Ich sage mir, | |
| es muss doch möglich sein, dass wir in einem so reichen Land die Leute von | |
| der Straße holen können?! Ich finde, dass das Problem lösbar ist. | |
| Mein Motiv? Wissen Sie, ich bin in Peru in den Anden aufgewachsen und als | |
| ich 13 Jahre alt war, zogen wir nach Ica, an die Küste. Dort habe ich zum | |
| ersten Mal in meinem Leben richtig arme Leute gesehen. Ich war schockiert. | |
| Ich habe mich immer sehr interessiert für dieses Problem, es hat mich | |
| empört! Und aus diesem Grund bin ich eigentlich Ärztin geworden. Ich mache | |
| das hier nicht, um karitativ tätig zu sein, zu missionieren oder zu | |
| erziehen. Ich möchte den Leuten in ihrer akuten Notlage medizinisch und | |
| auch mental helfen, und mir geht es darum, sie so zu stärken, dass sie ihr | |
| gutes Recht wahrnehmen können, als Bürger, die sie nach wie vor sind!“ | |
| 31 Dec 2013 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gabriele Goettle | |
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