# taz.de -- Gesundheit neu gedacht: Die Hoffnung stirbt zuletzt | |
> „Wir hatten die Vision einer besseren Medizin“, erinnert sich Dr. Ellis | |
> Huber, Ärztekammerpräsident a.D. Unsere Autorin hat ihn in Berlin | |
> getroffen. | |
Bild: Wer arm ist, lebt zehn Jahre kürzer, sagt Elis Huber. | |
Ellis Huber empfängt Elisabeth Kmölniger und mich in seiner | |
Charlottenburger Wohnung in Berlin. Wir möchten von ihm erfahren, wie sich | |
die Gesundheitsbewegung der 70er Jahre auf den „Langen Marsch durch die | |
Institutionen“ gemacht hat und wie es heute steht. Er legt uns einige | |
Broschüren und Papiere auf den Tisch des Arbeitszimmers, schenkt | |
Mineralwasser ein und erzählt mit weicher, süddeutsch gefärbter Stimme: | |
„Als ich 78 nach Berlin kam, lernte ich die „Eingriffe“-Leute kennen, war | |
mit dem Christof Müller-Busch (später Palliativmediziner) in der WG und hab | |
mit Interesse gesehen, die arbeiteten an Alternativen zum | |
Gesundheitssystem. Im Frühjahr war eine große Veranstaltung zum Thema, und | |
danach sagte Müller-Busch, wir müssen einen Gesundheitsladen machen. | |
Der Verein wurde gegründet, ich habe das Protokoll geschrieben und das | |
Informations- und Kommunikationszentrum konzipiert. 1979 haben sich mehrere | |
Initiativen, darunter wir, zusammengetan und den Mehringhof gekauft, in den | |
wir dann auch einzogen sind mit unserem Gesundheitsladen. | |
Eines Tages kamen die 68er und sagten: Nächstes Jahr, vom 14. bis 18. Mai | |
1980, ist Deutscher Ärztetag in Berlin, da müsst ihr was machen. Wir haben | |
dann hin und her überlegt. Auf Demos hatte ich keine Lust, was mich aber | |
begeistert hat, war das Konzept der Berliner ’Frauen-Sommer-Uni‘. Beim | |
Pizzaessen mit Köppel habe ich vorgeschlagen, wir machen einen | |
Gesundheitstag nach diesem Modell, als Gegenveranstaltung zum Ärztetag. Ich | |
war begeistert von der Idee, aber die Szene sagte: Großveranstaltungen, das | |
ist absolut vorbei. | |
Ich konnte mich aber durchsetzen. Die ganze Organisation des | |
Gesundheitstages habe ich in einem kleinen Büroraum, oben im ’Schwarzen | |
Café‘ in der Kantstraße gemacht, als bezahlter Sekretär des Vereins. Ich | |
habe einfach die Deutschlandhalle gemietet, das kostete 24.000 DM, für zwei | |
Tage. Wir bekamen nach Verhandlungen noch das Audimax der TU und FU und | |
einige Räume dazu. Wir haben das Vorhaben formuliert, die Grafiker von | |
’sehStern‘ haben das Design gemacht, die Contrast Satz & Druck – das waren | |
linke Projekte – haben alles umgesetzt. | |
## Alle Erwartungen übertroffen | |
Die Ankündigung des Gesundheitstags wurde mit 10.000 Flyern und 20.000 | |
Flugblättern überall in Berlin und Westdeutschland an Leute im | |
Gesundheitsbereich verteilt. Die Pressevertreter standen Schlange vor dem | |
’Schwarzen Café‘ und konnten gar nicht glauben, dass aus so einem kleinen | |
und dunklen Büro heraus der Deutsche Ärztetag konterkariert wird. | |
Wohlgemerkt in einer Zeit ohne Handy, Computer und Internet. Aber sich zu | |
vernetzen war gar nicht so schwer. Es war zu spüren, dass es gärt und | |
brodelt, aber ich wusste nicht, kommen die Leute, und wenn, wie viele. Es | |
hätte auch schiefgehen können. | |
An verschiedene kritische Koryphäen hatten wir Einladungen verschickt, eine | |
ganze Weile kam nichts. Als erster hat sich Alf Trojan zurückgemeldet | |
(*1944, später Medizinhistoriker mit dem Schwerpunkt soziale Netzwerke). | |
Dann hat im Dezember als Erster von den Berühmtheiten Horst Eberhard | |
Richter (1923–2011, Psychoanalytiker u. Sozialphilosoph, Atomkraftgegner u. | |
Friedensaktivist) zugesagt. Da war mir klar, jetzt läuft es! Es kamen dann | |
auch die anderen Großen, wie Hackethal (1921–1997, Spezialist orth. | |
Chirurgie, aufsässiger Ärzte-Kritiker, alternativer Krebsarzt. Späterer | |
aktiver Sterbehelfer) und Robert Jungk (1913–1994, Zukunftsforscher u. | |
Pionier d. internationalen Friedens u. Umweltbewegung). | |
Alle Erwartungen wurden übertroffen. Es kamen zum Gesundheitstag mehr als | |
12.000 Teilnehmer. Das war überwältigend und hat beim Ärztetag und in den | |
Medien ein entsprechendes Echo gefunden. Es gab kein Chaos. Jeder ist | |
irgendwie untergekommen in der Szene, das war damals alles noch | |
unkompliziert. | |
Ich hatte einige Themen konzipiert, wie Kostendämpfung und Krise des | |
Gesundheitswesens; Gesundheitsgefährdung durch Umweltschadstoffe und | |
Radioaktivität; organisierte Patienteninteressen; die Situation der Frau im | |
Gesundheitswesen; die Verantwortung der Medizin in der Dritten Welt. Und | |
auch zum Elend der herrschenden Psychiatrie, da hatten wir den | |
italienischen Psychiater Franco Basaglia (1924–1980, Vertreter der | |
Antipsychiatrie-Bewegung Die Anstalten öffnen!), er ist leider wenige | |
Monate später gestorben an seinem Hirntumor. Aus Italien kamen auch die | |
Arbeiter-Mediziner mit ihrem System der Selbstorganisation. | |
## 250 Veranstaltungen | |
Und wir machten eine große Eröffnungsveranstaltung mit dem Thema: ’Medizin | |
und Nationalsozialismus, tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene | |
Tradition?‘. Das war eine enorme Provokation, denn das Thema war damals | |
noch tabu, nicht nur in der Ärzteschaft. Das hat der Medizinhistoriker | |
Gerhard Baader gemacht, und konzeptionell hat es der Arzt Reinhold Grün | |
entwickelt und später protokolliert: ’Der Gesundheitstag 1980 hat zum | |
ersten Male eine öffentliche Auseinandersetzung der Mediziner mit ihrer | |
jüngsten Vergangenheit möglich gemacht und einen weitergehenden | |
Diskussionsprozess eingeleitet.‘ | |
Das war im völlig überfüllten Audimax, und vorne auf dem Podium, da saß | |
natürlich auch Klaus Dörner (*1933, Sozialpsychiater u. Sozialhistoriker, | |
Psychiatriereformer, schrieb 1969 seine berühmte Sozialgeschichte d. | |
Psychiatrie ’Bürger und Irre‘). Dabei waren auch Heinrich Huebschmann | |
(1913–1995, Arzt f. ’Innere und Erinnerungs-Medizin (Psychotherapie)‘) und | |
Karl Heinz Roth (*1942, Arzt u. Sozialhistoriker, autonomer Marxist, | |
langjähriges Vorstandsmitglied d. ’Stiftung Sozialgeschichte d. 20. | |
Jahrhunderts‘. Einer seiner Schwerpunkte: Wirtschafts- u. Sozialpolitik im | |
Dritten Reich). | |
Aus Frankreich kam Jean Carpentier, ein französischer Kassenarzt, 1979 | |
brachte der Rotbuch-Verlag sein Buch ’Aufwieglung zur Gesundheit‘ heraus. | |
Aus Wien kam der Arzt Werner Vogt (*1938, Gründer d. Arbeitsgemeinschaft | |
’Kritische Medizin‘) und der Sozialwissenschaftler Peter Kreisky, Sohn von | |
Bruno Kreisky und so weiter. Es kam eigentlich das ganze kritische und | |
veränderungswillige Potenzial. Ärzte, Wissenschaftler, Sozialarbeiter, | |
Pflegekräfte, Anthroposophen, die dann Witten/Herdecke gegründet haben. | |
Wir hatten 250 Veranstaltungen, und man fühlte da eine Energie und Kraft, | |
eine Atmosphäre, die auf alle ausstrahlte, und ich war davon überzeugt, das | |
hier wird diese medizinische deutsche Welt verändern. | |
## Deutsche Ärzteschaft im NS | |
Die Beschäftigung mit der Schuld der deutschen Ärzteschaft im NS war uns | |
sehr wichtig, unser Interesse war aber nicht die Anklage, sondern die | |
Frage: Was macht uns verführbar, wie kommt es dazu, dass der einzelne Arzt | |
zum Handlanger des Bösen werden kann? Wo liegen die Gefahren für uns | |
selbst, auch gegenüber den Herausforderungen einer modernen, technisch | |
hochgerüsteten Medizin? | |
Die Ärzteschaft, die ganze Standeswelt, hat sich natürlich gegen solche | |
Fragestellungen gestemmt. Erst 1989 konnte ich endlich einen Ärztetag zu | |
diesem Thema machen, aber erst nachdem ich als Kammerpräsident mit meinem | |
Rücktritt gedroht habe. Dann hatte ich die Mittel zur Verfügung, und wir | |
konnten für diesen 92. Ärztetag mit Christian Pross und anderen die | |
Ausstellung ’Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918–1945‘ | |
machen. Das war ein Meilenstein. Pross hat aus dieser Erfahrung heraus dann | |
92 das Behandlungszentrum für Folteropfer mitgegründet. Und die | |
Initialzündung dafür und für viele andere Initiativen war der | |
Gesundheitstag 1980. | |
Dieser 1. Gesundheitstag war ein sehr großer Erfolg. Wir hatten uns noch | |
zwei Jahre vorher alle geschlagen auf der Straße, weil jeder einer anderen | |
K-Gruppe angehörte, aber das hier, das verlief in so einer Art | |
strukturierter freier Selbstorganisation, eins griff ins andere, ohne | |
hierarchische Struktur und mit großer Toleranz zwischen den einzelnen | |
Beteiligten. | |
Diese fünf Tage, vom 14. bis 18. Mai, haben 420.000 DM gekostet. | |
Eingenommen haben wir 450.000 DM, über Spenden und Teilnehmerbeiträge. Mit | |
dem Überschuss haben wir einen Verlag gegründet und dann eine siebenbändige | |
Dokumentation der Ergebnisse des Gesundheitstages gemacht. Und da kann man | |
heute nachlesen, wie viele Personen und Gruppen damals bereits konstruktive | |
Gegenmodelle entwickelt haben. Wir hatten die Vision einer besseren | |
Medizin. | |
Nach dem Berliner Konzept sind dann 42 Gesundheitsläden deutschlandweit | |
entstanden … übrig geblieben bis heute sind nicht so viele, aber in München | |
ist ein Selbsthilfezentrum draus geworden, und der Gesundheitsladen Hamburg | |
existiert zum Beispiel auch noch, er hat 1981 den 2. Gesundheitstag | |
gemacht. | |
## Die Welt ist gesünder als je zuvor | |
Ein Hauptanliegen der Gesundheitstage war die Entwicklung strategischer | |
Konzepte der Gesundheitsförderung, die dann 86 auch durch Milz und Ilona | |
Kickbusch, die beide aus dieser Gesundheitsbewegung kommen, in der | |
’Ottawa-Charta‘ formuliert worden ist. Das war quasi eine Losung der ersten | |
Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung: Gesundheit für alle bis | |
zum Jahr 2000! Heute, 2013, ist das immer noch nicht eingelöst! Daran | |
müssen wir mit aller Kraft arbeiten. | |
Gut, wir werden alle älter als je zuvor, die Welt ist gesünder als je | |
zuvor. Die Umweltschadstoffe sind nicht die Katastrophe – das, was | |
ungesünder ist heute, was krank macht, ist das Zerbrechen sozialer | |
Bindungen. Die Zerstörung des sozialen Bindegewebes ist das eigentliche | |
Problem. Die Geldgier spielt eine zentrale Rolle. Sicher, auch ich bin | |
geldgierig, ich habe auch lieber 10.000 als nur 2.000 Euro Rente im Monat. | |
Ja, ich bin schon Rentner, weil man bei der Ärzteversorgung früher in Rente | |
geht … wir sind privilegiert. | |
Nein, was ich meine, ist die ins Unermessliche gewachsene Geldgier. Diese | |
eiskalte Egozentrik aller Beteiligten spaltet das gesellschaftliche | |
Zusammenspiel, verhindert jede Entwicklung, macht Depressionen und | |
Herzkrankheiten. Das bildet sich auch statistisch ab. Die Lebenserwartung | |
bei denen, die unten sind, weniger gebildet und arm, ist zehn Jahre kürzer. | |
Die sind auch noch ein bis zwei Jahre länger chronisch krank. Also, die | |
wirkliche Problematik in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist die | |
soziale Ungleichheit. Die abzubauen, muss alles Ziel der modernen | |
Gesundheitspolitik und modernen Medizin sein!“ | |
Uns entringt sich ein überraschtes Lachen. Aber Ellis Huber lässt sich | |
nicht irritieren. | |
## Mitmenschlichkeit und Solidarität | |
„Mit dem Untergang des Sozialismus ist die soziale Frage ja nicht | |
verschwunden! Irgendwo muss es mal anfangen, und in der Medizin, wie wir | |
sie verstehen, geht es genau darum, dem Menschen Autonomie, Freiheit und | |
auch soziale Geborgenheit zu vermitteln. | |
Und dazu gehört natürlich auch ganz klar die Frage: Wem gehört eigentlich | |
ein Gesundheitswesen in einer Bevölkerung? Dem Kapital mit seinen | |
gesundheitsfremden Interessen oder der Bevölkerung mit ihren Bedürfnissen?“ | |
Sein Ton wird ausgesprochen salbungsvoll. | |
„Ganz besonders im Gesundheitswesen soll Mitmenschlichkeit und Solidarität | |
praktisch erfahrbar sein, und wenn wir die Gesundheitswirtschaft | |
nonprofitgesteuert aus den Kapitalinteressen rausziehen, als | |
Gemeinwirtschaft betreiben, ist es machbar. Produzieren wir doch eine | |
Wirtschaftslandschaft, die nicht mehr dem Geld nachjagt, sondern sozialen | |
Gewinn und soziale Entwicklung organisiert. | |
Seit zehn Jahren wissen wir aus der Neurobiologie, dass das Gehirn keine | |
Maschine, sondern ein Sozialorgan ist. Benutzen wir es. Die Bedingungen | |
sind gut. Es rumort in diesem Land, wir sind in einem Umbruch. Dieses Land | |
hat nur die Alternative, dass wir in 20 Jahren hier die T-Shirts für die | |
Chinesen nähen oder dass wir eine Gesellschaft schaffen, die sich produktiv | |
mit Menschlichkeit, mit Achtsamkeit und Ehrfurcht, auch im Umgang mit der | |
Natur entfaltet. Diese beiden Alternativen gibt es.“ | |
Wir bitten unseren Gastgeber, wieder zur Realität zurückzukehren. | |
„Gern! Das Konzept einer weltweiten vernünftigen Gesundheitsversorgung ist | |
ganz schlicht: Jeder Mensch gibt den Zehnten seines Einkommens und | |
Vermögens für die Mitmenschen. Früher gab man den Zehnten für Gott und den | |
Kaiser, heute soll man ihn eben für den Mitmenschen geben. Das würde | |
’Gesundheit für alle‘ finanzieren und einiges mehr.“ | |
Sein Tonfall wechselt und bekommt Schärfe. | |
„Und nun konkret, hier bei uns, als ersten Schritt: Wenn wir ein | |
ausreichendes Grundeinkommen sicherstellen für jeden Bürger, könnten wir | |
die gesamte Verwaltungsbürokratie des sozialen Sektors schleifen und die | |
Bürokraten in die Pflegeberufe stecken. Damit wäre schon ein riesiger | |
Problemkomplex aufgelöst. | |
## Überflüssige Pharmaindustrie | |
Zum anderen, was ganz klar ist, wir haben ein System, wo die Bürger 200 | |
Milliarden Euro im Jahr abgeben für die Gesundheitsversorgung. Das ist | |
enorm viel Geld! Wenn es gelingt, diese 200 Milliarden, wenn wir die aus | |
den Kapitalinteressen rausziehen und damit eine am Gemeinwohl orientierte | |
Wirtschaftsformation machen …“ | |
Auf unsere Frage, was die Pharmaindustrie dazu sagen wird, antwortet er | |
ohne Zögern: | |
„Wer ist die Pharmaindustrie?! Die ist überflüssig. Sie hat etwa 8 Prozent | |
der Geldressourcen im Gesundheitswesen. Alles wird doch von Ärzten | |
verschrieben und verordnet. Und wenn 150.000 Ärzte sich nicht mehr zum | |
Handlanger der Pharmaindustrie machen, wird das enorme Auswirkungen haben. | |
Die Ärzte sollen lieber die Fähigkeiten von Menschen fördern, sich | |
selbstheilend zu entwickeln. Ich, wäre ich verantwortlicher | |
Gesundheitspolitiker, würde den Ärzten mehr Geld geben, und zwar dafür, | |
dass sie die Pharmaindustrie verraten und der Gesellschaft dienen. Sicher, | |
jeder Mensch ist egoistisch und auch ein bisschen altruistisch. Aber ich | |
möchte, dass Ärzte ihre innere Energie zu 51 Prozent den Mitmenschen und zu | |
49 Prozent dem Ich zuordnen. | |
Für diese zwei Prozent bin ich auch bereit, Panzer und Staatsgewalt | |
einzusetzen. Mehr will ich gar nicht. Was ich sagen will, wir müssen das | |
System der Gesundheitsversorgung radikal ändern. Das Geld ist da! Im Moment | |
investieren wir es in Prozesse, die weder helfen noch heilen, in eine | |
gewaltige bürokratische Maschinerie und in eine von Geldinteressen | |
gesteuerte massive Fehl- und Überversorgung. | |
Dafür, dass es auch andere Wege gibt, sprechen solche praktischen | |
Erfahrungen, wie man sie beispielsweise im Kinzig-Tal macht. Da läuft seit | |
einiger Zeit so ein neues Konzept: ’Gesundes Kinzig-Tal‘. Dort gibt es | |
einen Vertrag zwischen der AOK und der Ärztegemeinschaft, er besagt: | |
Der Maßstab für eure Arbeit ist die Geldsumme, die die AOK für 30.000 | |
Versicherte hat. Ich hab gegenwärtig pro Bürger 2.800 Euro pro Jahr für die | |
Gesundheitsversorgung. Und das funktioniert. Die sind jetzt sogar 6 Prozent | |
preiswerter. Das ist ein bescheidener kleiner Versuch mit großer Wirkung, | |
er geht in die richtige Richtung. | |
## Regionale Krankenkassen in Selbstverwaltung | |
Aber ich kriege natürlich ein derart verkrustetes, vermachtetes, | |
verängstigtes, paranoides System nicht einfach transformiert. Das geht nur | |
mit Revolutionen und Blut, Mord und Totschlag. | |
Was ich aber tun kann, ich muss die Freiheit herstellen, damit die Leute es | |
anders machen können. Deswegen haben wir einen Freiheitsparagrafen | |
eingeführt, das ist der § 140a im 5. Sozialgesetzbuch. Demnach dürfen die | |
beteiligten Kassenärzte und Leute aus sonstigen Gesundheitsberufen alles | |
völlig anders machen, nämlich so, wie sie es für vernünftig halten. Es gibt | |
nur eine Grenze: Alles, was sie tun, darf unterm Strich nicht mehr kosten | |
als das, was sonst im Durchschnitt ausgegeben wird. | |
Ich könnte mir so was vorstellen wie regionale Krankenkassen in | |
Selbstverwaltung. Also die regionale Gesundheitsgemeinschaft in | |
Selbstverwaltung, in einer überschaubaren Region, die kann sich natürlich | |
bundesweit vernetzen. | |
Das genau war ja mein Versuch, mit der Securvita-Betriebskrankenkasse auch | |
eine Gegenwelt anzusteuern. Da bin ich aber gescheitert, nicht am System, | |
sondern an Altkommunisten, an DKP-Kadern, die da drin sitzen und mich | |
rausgeworfen haben. Das gute Image dieser Kasse ist eigentlich nur die | |
Fassade für die Machtaggregation einer einzelnen Person. Aber zurück zu | |
unserem Thema. | |
Noch mal: Die Gesundheitsversorgung muss im Kern kommunalisiert werden, und | |
diese zentrale Steuerungswut muss ein Ende finden. Und völlig klar. Wir | |
brauchen Ärzte und Krankenhäuser, in denen sich der Bürger medizinisch gut | |
behandelt und betreut fühlt, Krankenhäuser, die dem Patienten dienen und | |
nicht den Kapitalinteressen. | |
Im Moment wird unser altes Gesundheitssystem zerschlagen. Wir haben eine | |
geldgesteuerte Ausbeutung. Der Kapitalismus kolonisiert die individuellen | |
Leiber – mit den Ländern ist es vorbei, jetzt werden die Leiber | |
kolonisiert, ausgeplündert und ausgebeutet. | |
Und wir wissen, die Krankheiten sind die Revolution des Leibes gegen | |
unzumutbare Verhältnisse. Ist so! Und das Gesundheitswesen muss diese | |
Wunden heilen, die ein entfesselter Kapitalismus schlägt. Es ist völlig | |
normal, dass der Kapitalismus das so macht. Aber wir, wir müssen es nicht | |
mit uns machen lassen! Das zu lernen und zu praktizieren ist eine Aufgabe | |
der gesellschaftlichen Emanzipation. | |
Wir haben heute das Internet, in dem sich der Bürgerwille sehr schnell | |
äußern und in politische Macht umsetzen kann. Die Gefahr ist natürlich, | |
dass der medizinisch-industrielle Komplex das korrumpiert, wie man das hier | |
gegenwärtig in vielen Patienten-Foren feststellen kann. Jedenfalls, es muss | |
von unten kommen. Die Machtausübung der Führungseliten in Politik und | |
Wirtschaft ist einfach mit einem guten sozialen Leben nicht vereinbar! | |
## „Dafür braucht man eventuell auch Panzer“ | |
Was wir jetzt erleben, ist die Endphase eines nicht mehr mit den | |
gesellschaftlichen Interessen zu vereinbarenden Systems. Und von daher | |
müssen und werden sich neue Gesundheitskulturen entwickeln, wo der | |
Einzelne, wenn es ihm dreckig geht, sich darauf verlassen kann, dass man | |
ihm wieder auf die Beine hilft, dass man ihn professionell und liebevoll | |
pflegt, wenn er alt, gebrechlich oder dement ist, oder auch dass er würdig | |
und ohne Schmerzen sterben kann. | |
Die Bürger müssen ein Selbstbewusstsein entwickeln und die Chancen | |
erkennen. Sie finanzieren ja alles. Das Gesundheitssystem mit seiner | |
Finanzkraft ist eine gewaltige gesellschaftliche Ressource, die muss man | |
nicht den Zynikern und Egozentrikern überlassen, die müssen wir in unsere | |
eigenen Hände nehmen … Ja, ja! Dafür braucht man eventuell auch Panzer und | |
… das staatliche Gewaltmonopol.“ | |
Wir kichern. | |
„Was wir aber schon mal haben, auch europaweit, das sind die | |
Gemeinwohlökonomie-Zirkel. Solche sozial verantwortlichen und | |
sozial-ökologischen Wirtschaftseinheiten gibt es bereits umfangreich, und | |
die müssten wir ins Gesundheitswesen integrieren. Das würde die bürgerliche | |
Selbstorganisation revolutionieren. | |
Das Geld jedenfalls ist nicht das Problem. Es ist die Unbeweglichkeit, auch | |
der Ärzte. Ich kann zum Beispiel den Ärzten ein solides, sicheres Einkommen | |
geben. Ein Bezahlmodell für Ärzte, die in einem medizinischen | |
Versorgungszentrum arbeiten, wie man das in Amerika hat, wäre z. B. ein | |
Jahres-Zeithonorar. Wer 150.000 Euro vor Steuern pro Jahr bekommt, dem sind | |
10.000 Euro mehr oder weniger nicht mehr so wichtig. Der macht sich weniger | |
über sein Geld Gedanken als über die Versorgung der Patienten. | |
Es gibt so eine Grenze, das wissen wir aus Amerika, bei der die meisten | |
Leute von der Geldorientierung wegkommen. Und am Ende ist das System auch | |
noch kostengünstiger. In den USA hat sich beim Preisvergleich im | |
Medicare-System gezeigt, am preiswertesten arbeiten Kaiser Permanente und | |
die Mayo-Clinic, die sind nonprofit, und es gibt keine kleinlichen | |
materiellen Vorgaben für die Behandlung der Kranken wie bei uns. | |
Ich habe während meiner Zeit als Kammerpräsident einiges versucht zu | |
verändern. In der Ärztekammer hat man ja gar keine Macht, aber öffentlichen | |
Einfluss, und den habe ich genutzt, um die Missstände anzuprangern. | |
Die Krankheit unseres deutschen Gesundheitswesens besteht darin, dass alle | |
Beteiligten nur die Durchsetzung ihrer Partikularinteressen vorantreiben. | |
Gruppenegoistische Profitziele haben absolute Priorität, während soziale | |
Verantwortung und die Orientierung an humanitären Werten kaum noch von | |
Belang sind. | |
Ich habe auch die eigene Kollegenschaft nicht geschont und schon auch mal | |
Stundenlöhne und Angestelltenverhältnisse für Mediziner vorgeschlagen. Da | |
haben sich natürlich einige von mir abgewandt. Trotzdem bin ich zweimal | |
wiedergewählt worden und habe erst 1999 die Mehrheit verloren. Aber das | |
hatte den Grund, dass nach der Wende die Ärzteschaft mehrheitlich so einen | |
ängstlichen Ruck nach rechts gemacht hat. Ich war ja dann Kammerpräsident | |
für ganz Berlin. Als die Mauer fiel, bin ich in die Ärztekammer gefahren | |
und habe alle Hebel auf Vereinigung umgestellt. Wir haben unmittelbar | |
danach die Ostberliner Ärzte beteiligt, und wir hätten sogar fast noch die | |
Polikliniken gerettet.“ | |
Darüber möchten wir gerne mehr hören. | |
## 20 Jahre verloren | |
„Die Poliklinik, das war eine Versorgungseinheit, wo ein angestelltes | |
Ärzteteam unterschiedlicher Fachrichtungen zusammengearbeitet und die | |
Versorgung der Bevölkerung gewährleistet hat. Es gab auch noch | |
Ambulatorien, vor allem auf dem Land. Ich habe damals eine Broschüre | |
verfasst, ’Zukunft der Polikliniken und Ambulatorien‘, mit exakten | |
Wirtschaftsanalysen und Konzepten, Umwandlung in kommunale | |
Gesundheitszentren. | |
Das hätte man alles zahlen können, das lag bereit, das Modell. Ein paar | |
haben wir dann auch hingekriegt. Im Bundesland Brandenburg etwas mehr, | |
wegen der Ministerin Regine Hildebrandt. Und diese Broschüre wurde vom | |
letzten Gesundheitsminister der DDR, Jürgen Kleditzsch, an alle | |
Polikliniken und Ambulatorien geschickt. | |
Ich bin auch kreuz und quer durch die Republik gefahren und habe mit den | |
Leitern gesprochen, Workshops gemacht. Es war schon zu spüren, dass die | |
leitenden Ärzte sich für ein Fortbestehen nicht interessieren. In Bad | |
Doberan hat einer wüste Reden geführt gegen die Polikliniken, 14 Tage | |
später war er plötzlich weg, er hatte klammheimlich mit dem Apotheker eine | |
Arztpraxis gebaut – die Apotheken waren ja mit drin in den Polikliniken in | |
der DDR. | |
Ich habe mich dafür eingesetzt, dass alle Poliklinik-Leitungen | |
ausgewechselt werden. Daraus wurde nichts. Überlebt haben die Polikliniken, | |
die schlecht ausgestattet waren, wo die Leitung bei einer Frau lag, die in | |
der Partei war. | |
Und seit einiger Zeit kommt es mit den Medizinischen Versorgungszentren | |
wieder hoch. Wir haben 20 Jahre verloren, aber das ist eben das soziale | |
Leben. Das System Polikliniken damals, das hat unsere eigene Ärzteschaft | |
letztlich plattgemacht, mit Hilfe der Politik. Es war ein richtiger Kampf. | |
Sie haben diese Konkurrenz gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser. | |
Wir hatten hier in Berlin 13 Poliklinik-Gesundheitszentren beim | |
paritätischen Wohlfahrtsverband angesiedelt gehabt. Aber Kleditzsch hatte | |
nicht die politische Kraft, Ostinteressen gegen die Westinteressen | |
durchzusetzen. Der Einfluss der Ärztefunktionäre war zu stark. Dagegen | |
konnte ich allein nicht ankommen. | |
Die Politiker hatten die Apotheken rausgenommen und sie der Treuhand | |
zugeordnet. Die Apotheker haben sich gefreut und sind schnell reich | |
geworden. Die Polikliniken wurden dem Gesundheitswesen unterstellt. Wären | |
die Apotheken drin geblieben, die ja wahre Goldgruben sind, sie hätten die | |
Polikliniken fast allein finanziert. | |
## Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung | |
Die DDR-Ärzte waren ja Spezialisten für den optimierten Einsatz knapper | |
Ressourcen und haben damit trotzdem eine gute Versorgungsqualität erreicht. | |
Die ticken heute immer noch anders, ein Großteil der Ostärzte. | |
Die Polikliniken sind übrigens keine Erfindung der DDR oder der | |
Sowjetunion, wie man hier glaubte. Sie sind eine Errungenschaft der | |
deutschen Arbeiterbewegung aus der Zeit der Weimarer Republik, das ist dann | |
nach 33 zerschlagen worden. Die erste Poliklinik war in Berlin am | |
Alexanderplatz, die gibt es heute noch, das AOK-Zentrum. | |
Nach dem Krieg gab es dann einen Kampf zwischen dem poliklinischen System | |
und dem Niedergelassenen-Konzept. Letzteres hat sich dann leider | |
durchgesetzt. Spätestens heute jedenfalls ist die Zeit des niedergelassenen | |
Arztes vorbei, das ist Postkutschenreparaturanstalt. | |
Ein niedergelassener Arzt ist nicht mehr in der Lage, die modernen und | |
hochkomplexen Gesundheitsprobleme zu versorgen. Was wir brauchen, ist eine | |
andere Organisation unseres Gesundheitssystems und unserer Geldmittel, | |
damit eine gute, zuverlässige und vernünftige Gesundheitsförderung und | |
Gesundheitsversorgung für alle dabei herauskommt.“ | |
29 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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