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# taz.de -- Gesundheit neu gedacht: Die Hoffnung stirbt zuletzt
> „Wir hatten die Vision einer besseren Medizin“, erinnert sich Dr. Ellis
> Huber, Ärztekammerpräsident a.D. Unsere Autorin hat ihn in Berlin
> getroffen.
Bild: Wer arm ist, lebt zehn Jahre kürzer, sagt Elis Huber.
Ellis Huber empfängt Elisabeth Kmölniger und mich in seiner
Charlottenburger Wohnung in Berlin. Wir möchten von ihm erfahren, wie sich
die Gesundheitsbewegung der 70er Jahre auf den „Langen Marsch durch die
Institutionen“ gemacht hat und wie es heute steht. Er legt uns einige
Broschüren und Papiere auf den Tisch des Arbeitszimmers, schenkt
Mineralwasser ein und erzählt mit weicher, süddeutsch gefärbter Stimme:
„Als ich 78 nach Berlin kam, lernte ich die „Eingriffe“-Leute kennen, war
mit dem Christof Müller-Busch (später Palliativmediziner) in der WG und hab
mit Interesse gesehen, die arbeiteten an Alternativen zum
Gesundheitssystem. Im Frühjahr war eine große Veranstaltung zum Thema, und
danach sagte Müller-Busch, wir müssen einen Gesundheitsladen machen.
Der Verein wurde gegründet, ich habe das Protokoll geschrieben und das
Informations- und Kommunikationszentrum konzipiert. 1979 haben sich mehrere
Initiativen, darunter wir, zusammengetan und den Mehringhof gekauft, in den
wir dann auch einzogen sind mit unserem Gesundheitsladen.
Eines Tages kamen die 68er und sagten: Nächstes Jahr, vom 14. bis 18. Mai
1980, ist Deutscher Ärztetag in Berlin, da müsst ihr was machen. Wir haben
dann hin und her überlegt. Auf Demos hatte ich keine Lust, was mich aber
begeistert hat, war das Konzept der Berliner ’Frauen-Sommer-Uni‘. Beim
Pizzaessen mit Köppel habe ich vorgeschlagen, wir machen einen
Gesundheitstag nach diesem Modell, als Gegenveranstaltung zum Ärztetag. Ich
war begeistert von der Idee, aber die Szene sagte: Großveranstaltungen, das
ist absolut vorbei.
Ich konnte mich aber durchsetzen. Die ganze Organisation des
Gesundheitstages habe ich in einem kleinen Büroraum, oben im ’Schwarzen
Café‘ in der Kantstraße gemacht, als bezahlter Sekretär des Vereins. Ich
habe einfach die Deutschlandhalle gemietet, das kostete 24.000 DM, für zwei
Tage. Wir bekamen nach Verhandlungen noch das Audimax der TU und FU und
einige Räume dazu. Wir haben das Vorhaben formuliert, die Grafiker von
’sehStern‘ haben das Design gemacht, die Contrast Satz & Druck – das waren
linke Projekte – haben alles umgesetzt.
## Alle Erwartungen übertroffen
Die Ankündigung des Gesundheitstags wurde mit 10.000 Flyern und 20.000
Flugblättern überall in Berlin und Westdeutschland an Leute im
Gesundheitsbereich verteilt. Die Pressevertreter standen Schlange vor dem
’Schwarzen Café‘ und konnten gar nicht glauben, dass aus so einem kleinen
und dunklen Büro heraus der Deutsche Ärztetag konterkariert wird.
Wohlgemerkt in einer Zeit ohne Handy, Computer und Internet. Aber sich zu
vernetzen war gar nicht so schwer. Es war zu spüren, dass es gärt und
brodelt, aber ich wusste nicht, kommen die Leute, und wenn, wie viele. Es
hätte auch schiefgehen können.
An verschiedene kritische Koryphäen hatten wir Einladungen verschickt, eine
ganze Weile kam nichts. Als erster hat sich Alf Trojan zurückgemeldet
(*1944, später Medizinhistoriker mit dem Schwerpunkt soziale Netzwerke).
Dann hat im Dezember als Erster von den Berühmtheiten Horst Eberhard
Richter (1923–2011, Psychoanalytiker u. Sozialphilosoph, Atomkraftgegner u.
Friedensaktivist) zugesagt. Da war mir klar, jetzt läuft es! Es kamen dann
auch die anderen Großen, wie Hackethal (1921–1997, Spezialist orth.
Chirurgie, aufsässiger Ärzte-Kritiker, alternativer Krebsarzt. Späterer
aktiver Sterbehelfer) und Robert Jungk (1913–1994, Zukunftsforscher u.
Pionier d. internationalen Friedens u. Umweltbewegung).
Alle Erwartungen wurden übertroffen. Es kamen zum Gesundheitstag mehr als
12.000 Teilnehmer. Das war überwältigend und hat beim Ärztetag und in den
Medien ein entsprechendes Echo gefunden. Es gab kein Chaos. Jeder ist
irgendwie untergekommen in der Szene, das war damals alles noch
unkompliziert.
Ich hatte einige Themen konzipiert, wie Kostendämpfung und Krise des
Gesundheitswesens; Gesundheitsgefährdung durch Umweltschadstoffe und
Radioaktivität; organisierte Patienteninteressen; die Situation der Frau im
Gesundheitswesen; die Verantwortung der Medizin in der Dritten Welt. Und
auch zum Elend der herrschenden Psychiatrie, da hatten wir den
italienischen Psychiater Franco Basaglia (1924–1980, Vertreter der
Antipsychiatrie-Bewegung Die Anstalten öffnen!), er ist leider wenige
Monate später gestorben an seinem Hirntumor. Aus Italien kamen auch die
Arbeiter-Mediziner mit ihrem System der Selbstorganisation.
## 250 Veranstaltungen
Und wir machten eine große Eröffnungsveranstaltung mit dem Thema: ’Medizin
und Nationalsozialismus, tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene
Tradition?‘. Das war eine enorme Provokation, denn das Thema war damals
noch tabu, nicht nur in der Ärzteschaft. Das hat der Medizinhistoriker
Gerhard Baader gemacht, und konzeptionell hat es der Arzt Reinhold Grün
entwickelt und später protokolliert: ’Der Gesundheitstag 1980 hat zum
ersten Male eine öffentliche Auseinandersetzung der Mediziner mit ihrer
jüngsten Vergangenheit möglich gemacht und einen weitergehenden
Diskussionsprozess eingeleitet.‘
Das war im völlig überfüllten Audimax, und vorne auf dem Podium, da saß
natürlich auch Klaus Dörner (*1933, Sozialpsychiater u. Sozialhistoriker,
Psychiatriereformer, schrieb 1969 seine berühmte Sozialgeschichte d.
Psychiatrie ’Bürger und Irre‘). Dabei waren auch Heinrich Huebschmann
(1913–1995, Arzt f. ’Innere und Erinnerungs-Medizin (Psychotherapie)‘) und
Karl Heinz Roth (*1942, Arzt u. Sozialhistoriker, autonomer Marxist,
langjähriges Vorstandsmitglied d. ’Stiftung Sozialgeschichte d. 20.
Jahrhunderts‘. Einer seiner Schwerpunkte: Wirtschafts- u. Sozialpolitik im
Dritten Reich).
Aus Frankreich kam Jean Carpentier, ein französischer Kassenarzt, 1979
brachte der Rotbuch-Verlag sein Buch ’Aufwieglung zur Gesundheit‘ heraus.
Aus Wien kam der Arzt Werner Vogt (*1938, Gründer d. Arbeitsgemeinschaft
’Kritische Medizin‘) und der Sozialwissenschaftler Peter Kreisky, Sohn von
Bruno Kreisky und so weiter. Es kam eigentlich das ganze kritische und
veränderungswillige Potenzial. Ärzte, Wissenschaftler, Sozialarbeiter,
Pflegekräfte, Anthroposophen, die dann Witten/Herdecke gegründet haben.
Wir hatten 250 Veranstaltungen, und man fühlte da eine Energie und Kraft,
eine Atmosphäre, die auf alle ausstrahlte, und ich war davon überzeugt, das
hier wird diese medizinische deutsche Welt verändern.
## Deutsche Ärzteschaft im NS
Die Beschäftigung mit der Schuld der deutschen Ärzteschaft im NS war uns
sehr wichtig, unser Interesse war aber nicht die Anklage, sondern die
Frage: Was macht uns verführbar, wie kommt es dazu, dass der einzelne Arzt
zum Handlanger des Bösen werden kann? Wo liegen die Gefahren für uns
selbst, auch gegenüber den Herausforderungen einer modernen, technisch
hochgerüsteten Medizin?
Die Ärzteschaft, die ganze Standeswelt, hat sich natürlich gegen solche
Fragestellungen gestemmt. Erst 1989 konnte ich endlich einen Ärztetag zu
diesem Thema machen, aber erst nachdem ich als Kammerpräsident mit meinem
Rücktritt gedroht habe. Dann hatte ich die Mittel zur Verfügung, und wir
konnten für diesen 92. Ärztetag mit Christian Pross und anderen die
Ausstellung ’Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918–1945‘
machen. Das war ein Meilenstein. Pross hat aus dieser Erfahrung heraus dann
92 das Behandlungszentrum für Folteropfer mitgegründet. Und die
Initialzündung dafür und für viele andere Initiativen war der
Gesundheitstag 1980.
Dieser 1. Gesundheitstag war ein sehr großer Erfolg. Wir hatten uns noch
zwei Jahre vorher alle geschlagen auf der Straße, weil jeder einer anderen
K-Gruppe angehörte, aber das hier, das verlief in so einer Art
strukturierter freier Selbstorganisation, eins griff ins andere, ohne
hierarchische Struktur und mit großer Toleranz zwischen den einzelnen
Beteiligten.
Diese fünf Tage, vom 14. bis 18. Mai, haben 420.000 DM gekostet.
Eingenommen haben wir 450.000 DM, über Spenden und Teilnehmerbeiträge. Mit
dem Überschuss haben wir einen Verlag gegründet und dann eine siebenbändige
Dokumentation der Ergebnisse des Gesundheitstages gemacht. Und da kann man
heute nachlesen, wie viele Personen und Gruppen damals bereits konstruktive
Gegenmodelle entwickelt haben. Wir hatten die Vision einer besseren
Medizin.
Nach dem Berliner Konzept sind dann 42 Gesundheitsläden deutschlandweit
entstanden … übrig geblieben bis heute sind nicht so viele, aber in München
ist ein Selbsthilfezentrum draus geworden, und der Gesundheitsladen Hamburg
existiert zum Beispiel auch noch, er hat 1981 den 2. Gesundheitstag
gemacht.
## Die Welt ist gesünder als je zuvor
Ein Hauptanliegen der Gesundheitstage war die Entwicklung strategischer
Konzepte der Gesundheitsförderung, die dann 86 auch durch Milz und Ilona
Kickbusch, die beide aus dieser Gesundheitsbewegung kommen, in der
’Ottawa-Charta‘ formuliert worden ist. Das war quasi eine Losung der ersten
Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung: Gesundheit für alle bis
zum Jahr 2000! Heute, 2013, ist das immer noch nicht eingelöst! Daran
müssen wir mit aller Kraft arbeiten.
Gut, wir werden alle älter als je zuvor, die Welt ist gesünder als je
zuvor. Die Umweltschadstoffe sind nicht die Katastrophe – das, was
ungesünder ist heute, was krank macht, ist das Zerbrechen sozialer
Bindungen. Die Zerstörung des sozialen Bindegewebes ist das eigentliche
Problem. Die Geldgier spielt eine zentrale Rolle. Sicher, auch ich bin
geldgierig, ich habe auch lieber 10.000 als nur 2.000 Euro Rente im Monat.
Ja, ich bin schon Rentner, weil man bei der Ärzteversorgung früher in Rente
geht … wir sind privilegiert.
Nein, was ich meine, ist die ins Unermessliche gewachsene Geldgier. Diese
eiskalte Egozentrik aller Beteiligten spaltet das gesellschaftliche
Zusammenspiel, verhindert jede Entwicklung, macht Depressionen und
Herzkrankheiten. Das bildet sich auch statistisch ab. Die Lebenserwartung
bei denen, die unten sind, weniger gebildet und arm, ist zehn Jahre kürzer.
Die sind auch noch ein bis zwei Jahre länger chronisch krank. Also, die
wirkliche Problematik in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist die
soziale Ungleichheit. Die abzubauen, muss alles Ziel der modernen
Gesundheitspolitik und modernen Medizin sein!“
Uns entringt sich ein überraschtes Lachen. Aber Ellis Huber lässt sich
nicht irritieren.
## Mitmenschlichkeit und Solidarität
„Mit dem Untergang des Sozialismus ist die soziale Frage ja nicht
verschwunden! Irgendwo muss es mal anfangen, und in der Medizin, wie wir
sie verstehen, geht es genau darum, dem Menschen Autonomie, Freiheit und
auch soziale Geborgenheit zu vermitteln.
Und dazu gehört natürlich auch ganz klar die Frage: Wem gehört eigentlich
ein Gesundheitswesen in einer Bevölkerung? Dem Kapital mit seinen
gesundheitsfremden Interessen oder der Bevölkerung mit ihren Bedürfnissen?“
Sein Ton wird ausgesprochen salbungsvoll.
„Ganz besonders im Gesundheitswesen soll Mitmenschlichkeit und Solidarität
praktisch erfahrbar sein, und wenn wir die Gesundheitswirtschaft
nonprofitgesteuert aus den Kapitalinteressen rausziehen, als
Gemeinwirtschaft betreiben, ist es machbar. Produzieren wir doch eine
Wirtschaftslandschaft, die nicht mehr dem Geld nachjagt, sondern sozialen
Gewinn und soziale Entwicklung organisiert.
Seit zehn Jahren wissen wir aus der Neurobiologie, dass das Gehirn keine
Maschine, sondern ein Sozialorgan ist. Benutzen wir es. Die Bedingungen
sind gut. Es rumort in diesem Land, wir sind in einem Umbruch. Dieses Land
hat nur die Alternative, dass wir in 20 Jahren hier die T-Shirts für die
Chinesen nähen oder dass wir eine Gesellschaft schaffen, die sich produktiv
mit Menschlichkeit, mit Achtsamkeit und Ehrfurcht, auch im Umgang mit der
Natur entfaltet. Diese beiden Alternativen gibt es.“
Wir bitten unseren Gastgeber, wieder zur Realität zurückzukehren.
„Gern! Das Konzept einer weltweiten vernünftigen Gesundheitsversorgung ist
ganz schlicht: Jeder Mensch gibt den Zehnten seines Einkommens und
Vermögens für die Mitmenschen. Früher gab man den Zehnten für Gott und den
Kaiser, heute soll man ihn eben für den Mitmenschen geben. Das würde
’Gesundheit für alle‘ finanzieren und einiges mehr.“
Sein Tonfall wechselt und bekommt Schärfe.
„Und nun konkret, hier bei uns, als ersten Schritt: Wenn wir ein
ausreichendes Grundeinkommen sicherstellen für jeden Bürger, könnten wir
die gesamte Verwaltungsbürokratie des sozialen Sektors schleifen und die
Bürokraten in die Pflegeberufe stecken. Damit wäre schon ein riesiger
Problemkomplex aufgelöst.
## Überflüssige Pharmaindustrie
Zum anderen, was ganz klar ist, wir haben ein System, wo die Bürger 200
Milliarden Euro im Jahr abgeben für die Gesundheitsversorgung. Das ist
enorm viel Geld! Wenn es gelingt, diese 200 Milliarden, wenn wir die aus
den Kapitalinteressen rausziehen und damit eine am Gemeinwohl orientierte
Wirtschaftsformation machen …“
Auf unsere Frage, was die Pharmaindustrie dazu sagen wird, antwortet er
ohne Zögern:
„Wer ist die Pharmaindustrie?! Die ist überflüssig. Sie hat etwa 8 Prozent
der Geldressourcen im Gesundheitswesen. Alles wird doch von Ärzten
verschrieben und verordnet. Und wenn 150.000 Ärzte sich nicht mehr zum
Handlanger der Pharmaindustrie machen, wird das enorme Auswirkungen haben.
Die Ärzte sollen lieber die Fähigkeiten von Menschen fördern, sich
selbstheilend zu entwickeln. Ich, wäre ich verantwortlicher
Gesundheitspolitiker, würde den Ärzten mehr Geld geben, und zwar dafür,
dass sie die Pharmaindustrie verraten und der Gesellschaft dienen. Sicher,
jeder Mensch ist egoistisch und auch ein bisschen altruistisch. Aber ich
möchte, dass Ärzte ihre innere Energie zu 51 Prozent den Mitmenschen und zu
49 Prozent dem Ich zuordnen.
Für diese zwei Prozent bin ich auch bereit, Panzer und Staatsgewalt
einzusetzen. Mehr will ich gar nicht. Was ich sagen will, wir müssen das
System der Gesundheitsversorgung radikal ändern. Das Geld ist da! Im Moment
investieren wir es in Prozesse, die weder helfen noch heilen, in eine
gewaltige bürokratische Maschinerie und in eine von Geldinteressen
gesteuerte massive Fehl- und Überversorgung.
Dafür, dass es auch andere Wege gibt, sprechen solche praktischen
Erfahrungen, wie man sie beispielsweise im Kinzig-Tal macht. Da läuft seit
einiger Zeit so ein neues Konzept: ’Gesundes Kinzig-Tal‘. Dort gibt es
einen Vertrag zwischen der AOK und der Ärztegemeinschaft, er besagt:
Der Maßstab für eure Arbeit ist die Geldsumme, die die AOK für 30.000
Versicherte hat. Ich hab gegenwärtig pro Bürger 2.800 Euro pro Jahr für die
Gesundheitsversorgung. Und das funktioniert. Die sind jetzt sogar 6 Prozent
preiswerter. Das ist ein bescheidener kleiner Versuch mit großer Wirkung,
er geht in die richtige Richtung.
## Regionale Krankenkassen in Selbstverwaltung
Aber ich kriege natürlich ein derart verkrustetes, vermachtetes,
verängstigtes, paranoides System nicht einfach transformiert. Das geht nur
mit Revolutionen und Blut, Mord und Totschlag.
Was ich aber tun kann, ich muss die Freiheit herstellen, damit die Leute es
anders machen können. Deswegen haben wir einen Freiheitsparagrafen
eingeführt, das ist der § 140a im 5. Sozialgesetzbuch. Demnach dürfen die
beteiligten Kassenärzte und Leute aus sonstigen Gesundheitsberufen alles
völlig anders machen, nämlich so, wie sie es für vernünftig halten. Es gibt
nur eine Grenze: Alles, was sie tun, darf unterm Strich nicht mehr kosten
als das, was sonst im Durchschnitt ausgegeben wird.
Ich könnte mir so was vorstellen wie regionale Krankenkassen in
Selbstverwaltung. Also die regionale Gesundheitsgemeinschaft in
Selbstverwaltung, in einer überschaubaren Region, die kann sich natürlich
bundesweit vernetzen.
Das genau war ja mein Versuch, mit der Securvita-Betriebskrankenkasse auch
eine Gegenwelt anzusteuern. Da bin ich aber gescheitert, nicht am System,
sondern an Altkommunisten, an DKP-Kadern, die da drin sitzen und mich
rausgeworfen haben. Das gute Image dieser Kasse ist eigentlich nur die
Fassade für die Machtaggregation einer einzelnen Person. Aber zurück zu
unserem Thema.
Noch mal: Die Gesundheitsversorgung muss im Kern kommunalisiert werden, und
diese zentrale Steuerungswut muss ein Ende finden. Und völlig klar. Wir
brauchen Ärzte und Krankenhäuser, in denen sich der Bürger medizinisch gut
behandelt und betreut fühlt, Krankenhäuser, die dem Patienten dienen und
nicht den Kapitalinteressen.
Im Moment wird unser altes Gesundheitssystem zerschlagen. Wir haben eine
geldgesteuerte Ausbeutung. Der Kapitalismus kolonisiert die individuellen
Leiber – mit den Ländern ist es vorbei, jetzt werden die Leiber
kolonisiert, ausgeplündert und ausgebeutet.
Und wir wissen, die Krankheiten sind die Revolution des Leibes gegen
unzumutbare Verhältnisse. Ist so! Und das Gesundheitswesen muss diese
Wunden heilen, die ein entfesselter Kapitalismus schlägt. Es ist völlig
normal, dass der Kapitalismus das so macht. Aber wir, wir müssen es nicht
mit uns machen lassen! Das zu lernen und zu praktizieren ist eine Aufgabe
der gesellschaftlichen Emanzipation.
Wir haben heute das Internet, in dem sich der Bürgerwille sehr schnell
äußern und in politische Macht umsetzen kann. Die Gefahr ist natürlich,
dass der medizinisch-industrielle Komplex das korrumpiert, wie man das hier
gegenwärtig in vielen Patienten-Foren feststellen kann. Jedenfalls, es muss
von unten kommen. Die Machtausübung der Führungseliten in Politik und
Wirtschaft ist einfach mit einem guten sozialen Leben nicht vereinbar!
## „Dafür braucht man eventuell auch Panzer“
Was wir jetzt erleben, ist die Endphase eines nicht mehr mit den
gesellschaftlichen Interessen zu vereinbarenden Systems. Und von daher
müssen und werden sich neue Gesundheitskulturen entwickeln, wo der
Einzelne, wenn es ihm dreckig geht, sich darauf verlassen kann, dass man
ihm wieder auf die Beine hilft, dass man ihn professionell und liebevoll
pflegt, wenn er alt, gebrechlich oder dement ist, oder auch dass er würdig
und ohne Schmerzen sterben kann.
Die Bürger müssen ein Selbstbewusstsein entwickeln und die Chancen
erkennen. Sie finanzieren ja alles. Das Gesundheitssystem mit seiner
Finanzkraft ist eine gewaltige gesellschaftliche Ressource, die muss man
nicht den Zynikern und Egozentrikern überlassen, die müssen wir in unsere
eigenen Hände nehmen … Ja, ja! Dafür braucht man eventuell auch Panzer und
… das staatliche Gewaltmonopol.“
Wir kichern.
„Was wir aber schon mal haben, auch europaweit, das sind die
Gemeinwohlökonomie-Zirkel. Solche sozial verantwortlichen und
sozial-ökologischen Wirtschaftseinheiten gibt es bereits umfangreich, und
die müssten wir ins Gesundheitswesen integrieren. Das würde die bürgerliche
Selbstorganisation revolutionieren.
Das Geld jedenfalls ist nicht das Problem. Es ist die Unbeweglichkeit, auch
der Ärzte. Ich kann zum Beispiel den Ärzten ein solides, sicheres Einkommen
geben. Ein Bezahlmodell für Ärzte, die in einem medizinischen
Versorgungszentrum arbeiten, wie man das in Amerika hat, wäre z. B. ein
Jahres-Zeithonorar. Wer 150.000 Euro vor Steuern pro Jahr bekommt, dem sind
10.000 Euro mehr oder weniger nicht mehr so wichtig. Der macht sich weniger
über sein Geld Gedanken als über die Versorgung der Patienten.
Es gibt so eine Grenze, das wissen wir aus Amerika, bei der die meisten
Leute von der Geldorientierung wegkommen. Und am Ende ist das System auch
noch kostengünstiger. In den USA hat sich beim Preisvergleich im
Medicare-System gezeigt, am preiswertesten arbeiten Kaiser Permanente und
die Mayo-Clinic, die sind nonprofit, und es gibt keine kleinlichen
materiellen Vorgaben für die Behandlung der Kranken wie bei uns.
Ich habe während meiner Zeit als Kammerpräsident einiges versucht zu
verändern. In der Ärztekammer hat man ja gar keine Macht, aber öffentlichen
Einfluss, und den habe ich genutzt, um die Missstände anzuprangern.
Die Krankheit unseres deutschen Gesundheitswesens besteht darin, dass alle
Beteiligten nur die Durchsetzung ihrer Partikularinteressen vorantreiben.
Gruppenegoistische Profitziele haben absolute Priorität, während soziale
Verantwortung und die Orientierung an humanitären Werten kaum noch von
Belang sind.
Ich habe auch die eigene Kollegenschaft nicht geschont und schon auch mal
Stundenlöhne und Angestelltenverhältnisse für Mediziner vorgeschlagen. Da
haben sich natürlich einige von mir abgewandt. Trotzdem bin ich zweimal
wiedergewählt worden und habe erst 1999 die Mehrheit verloren. Aber das
hatte den Grund, dass nach der Wende die Ärzteschaft mehrheitlich so einen
ängstlichen Ruck nach rechts gemacht hat. Ich war ja dann Kammerpräsident
für ganz Berlin. Als die Mauer fiel, bin ich in die Ärztekammer gefahren
und habe alle Hebel auf Vereinigung umgestellt. Wir haben unmittelbar
danach die Ostberliner Ärzte beteiligt, und wir hätten sogar fast noch die
Polikliniken gerettet.“
Darüber möchten wir gerne mehr hören.
## 20 Jahre verloren
„Die Poliklinik, das war eine Versorgungseinheit, wo ein angestelltes
Ärzteteam unterschiedlicher Fachrichtungen zusammengearbeitet und die
Versorgung der Bevölkerung gewährleistet hat. Es gab auch noch
Ambulatorien, vor allem auf dem Land. Ich habe damals eine Broschüre
verfasst, ’Zukunft der Polikliniken und Ambulatorien‘, mit exakten
Wirtschaftsanalysen und Konzepten, Umwandlung in kommunale
Gesundheitszentren.
Das hätte man alles zahlen können, das lag bereit, das Modell. Ein paar
haben wir dann auch hingekriegt. Im Bundesland Brandenburg etwas mehr,
wegen der Ministerin Regine Hildebrandt. Und diese Broschüre wurde vom
letzten Gesundheitsminister der DDR, Jürgen Kleditzsch, an alle
Polikliniken und Ambulatorien geschickt.
Ich bin auch kreuz und quer durch die Republik gefahren und habe mit den
Leitern gesprochen, Workshops gemacht. Es war schon zu spüren, dass die
leitenden Ärzte sich für ein Fortbestehen nicht interessieren. In Bad
Doberan hat einer wüste Reden geführt gegen die Polikliniken, 14 Tage
später war er plötzlich weg, er hatte klammheimlich mit dem Apotheker eine
Arztpraxis gebaut – die Apotheken waren ja mit drin in den Polikliniken in
der DDR.
Ich habe mich dafür eingesetzt, dass alle Poliklinik-Leitungen
ausgewechselt werden. Daraus wurde nichts. Überlebt haben die Polikliniken,
die schlecht ausgestattet waren, wo die Leitung bei einer Frau lag, die in
der Partei war.
Und seit einiger Zeit kommt es mit den Medizinischen Versorgungszentren
wieder hoch. Wir haben 20 Jahre verloren, aber das ist eben das soziale
Leben. Das System Polikliniken damals, das hat unsere eigene Ärzteschaft
letztlich plattgemacht, mit Hilfe der Politik. Es war ein richtiger Kampf.
Sie haben diese Konkurrenz gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser.
Wir hatten hier in Berlin 13 Poliklinik-Gesundheitszentren beim
paritätischen Wohlfahrtsverband angesiedelt gehabt. Aber Kleditzsch hatte
nicht die politische Kraft, Ostinteressen gegen die Westinteressen
durchzusetzen. Der Einfluss der Ärztefunktionäre war zu stark. Dagegen
konnte ich allein nicht ankommen.
Die Politiker hatten die Apotheken rausgenommen und sie der Treuhand
zugeordnet. Die Apotheker haben sich gefreut und sind schnell reich
geworden. Die Polikliniken wurden dem Gesundheitswesen unterstellt. Wären
die Apotheken drin geblieben, die ja wahre Goldgruben sind, sie hätten die
Polikliniken fast allein finanziert.
## Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung
Die DDR-Ärzte waren ja Spezialisten für den optimierten Einsatz knapper
Ressourcen und haben damit trotzdem eine gute Versorgungsqualität erreicht.
Die ticken heute immer noch anders, ein Großteil der Ostärzte.
Die Polikliniken sind übrigens keine Erfindung der DDR oder der
Sowjetunion, wie man hier glaubte. Sie sind eine Errungenschaft der
deutschen Arbeiterbewegung aus der Zeit der Weimarer Republik, das ist dann
nach 33 zerschlagen worden. Die erste Poliklinik war in Berlin am
Alexanderplatz, die gibt es heute noch, das AOK-Zentrum.
Nach dem Krieg gab es dann einen Kampf zwischen dem poliklinischen System
und dem Niedergelassenen-Konzept. Letzteres hat sich dann leider
durchgesetzt. Spätestens heute jedenfalls ist die Zeit des niedergelassenen
Arztes vorbei, das ist Postkutschenreparaturanstalt.
Ein niedergelassener Arzt ist nicht mehr in der Lage, die modernen und
hochkomplexen Gesundheitsprobleme zu versorgen. Was wir brauchen, ist eine
andere Organisation unseres Gesundheitssystems und unserer Geldmittel,
damit eine gute, zuverlässige und vernünftige Gesundheitsförderung und
Gesundheitsversorgung für alle dabei herauskommt.“
29 Aug 2013
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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