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# taz.de -- Geschichte der Gesundheitsbewegung: Autonomie und Sterbehilfe
> Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat die NS-Euthanasie erforscht. Die
> heutigen Debatten um Bioethik und Sterbehilfe sieht er als Gefahr.
Bild: Der Medizinhistoriker Gerhard Baader.
„Nicht totmachen, bitte nicht totmachen!“ (Walter Jens, gest. 9. Juni 2013
im Alter von 90 Jahren, in seinen späten Tagen als Demenzkranker)
„Darf ich nach einem selbstbestimmten Leben nicht auch einen
selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas
zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert? Und dieses letzte Bild
wird bleiben und überdauert, für die Nachfahren, auf lange Zeit die
Impressionen aus Tagen, da ich ein ’Ich‘ und kein ’Es‘ war, ein denkend…
Wesen und kein zuckendes Muskelpaket war.“ So Walter Jens 1995 in
„Menschenwürdig sterben – Ein Plädoyer für Selbstverantwortung“. Und e…
Plädoyer für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, von Walter Jens und
dem Theologen Hans Küng (S. 125)
„Ich weiß genau, und es steht Wort für Wort in unserer Patientenverfügung
formuliert, dass mein Mann so, wie er jetzt leben muss, niemals hat leben
wollen. Sein Zustand ist schrecklicher als jede Vorstellung, die er sich
wahrscheinlich irgendwann einmal ausgemalt hat (…) Genauso sicher, wie wir
uns damals waren, dass wir beide so nicht leben wollten, weiß ich heute,
dass mein Mann nicht sterben möchte.“ (Inge Jens in einem dpa-Interview)
Der Grad, auf dem man sich bei der Sterbehilfe-Debatte bewegt, ist schmal,
die Abgründe schwindelerregend. Walter Jens und sein tragisches Schicksal
machen die Widersprüche auf drastische Weise kenntlich. Auch die
Widersprüche, die ihm entgangen sind, denn wer will, dass ein „zuckendes
Muskelpaket“, ein „Es“, von seinem „menschenunwürdigen“ Dasein befre…
wird, befindet sich bereits als Koch in Teufels Küche.
Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat sich mit der Problematik
ausführlich befasst und sagt, es gibt nur eine Möglichkeit:
gesamtgesellschaftliches Engagement.
Gerhard Baader, Medizinhistoriker, apl. Prof. am
Friedrich-Meinecke-Institut (FMI) d. Freien Universität Berlin, Fachbereich
Geschichts- und Kulturwissenschaften. Er besuchte Grundschule u. Gymnasium
in Wien. Unfreiwilliger Abgang, 1942–1944 Zwangsarbeit, 1944–1945
Arbeitslager. 1946 Matura. 1948–1952 Studium d. klassischen Philologie,
Germanistik, Linguistik u. Geschichtswissenschaft a. d. Universität zu
Wien. Nach d. Promotion 1952, wissenschaftl. Mitarbeiter am
Mittellateinischen Wörterbuch d. Bayr. Akademie d. Wissenschaften,
1954–1966. 1967 wissenschaftl. Assistent am Institut f. Medizingeschichte
FU Berlin. 1979 Habilitation. Seit 1975 Lehrtätigkeit am
Friedrich-Meinecke-Institut. Forschungsschwerpunkte: Geschichte d. Antike,
d. Mittelalters u. d. Neuzeit. Seit 1980 Sozialgeschichte d. Medizin,
insbesondere Geschichte d. Medizin im NS. 1982 Mitbegründer vom
„Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der NS-Euthanasie und
Zwangssterilisation“. 1983 Ernennung z. außerordentl. Professor. 1993 trat
er i. d. Ruhestand. Seitdem Visiting Prof. a. d. hebräischen Universität
Jerusalem. Mitglied u. a. d. Instituts für Österreichische
Geschichtsforschung, der Israel Society for History of Medicine und der
Société Internationale d’Histoire de la Médicine. Gerhard Baader wurde 1928
in Wien als Sohn eines Studienrats geboren, seine Mutter war Hausfrau. Er
ist verwitwet, war dreimal verheiratet, hat drei Kinder.
Herr Baader wohnt im Hochhaus am Roseneck, vorletztes Stockwerk. Er führt
uns ins große Wohnzimmer und bittet uns Platz zu nehmen an einem Tisch, der
auf einer erhöhten hölzernen Ebene steht, so dass man im Sitzen noch weit
über den Süden Berlins, über Grunewald und Dahlem schauen kann, oder auf
eine gut gepflegte Blattpflanze, vielleicht ein Elefantenfuß. In den
deckenhohen Bücherregalen steht vertraute Lektüre, auch die
regenbogenfarbenen Bücherrücken der Edition Suhrkamp leuchten herzerwärmend
und erinnern an eine schöne Zeit.
Wir bitten unseren Gastgeber, zuerst ein bisschen von sich zu erzählen:
„Ich bin in Wien aufgewachsen, in Hietzing, und bin dann – um in der
Sprache des Landes zu bleiben – in einer normalen Schule gewesen. Dort war
ich natürlich in der Omega-Position, saß in der letzten Bank und der
Klassenführer vom Jungvolk hat mich entsprechend behandelt, das ging bis zu
körperlichen Bedrohungen. Dazu war ich auch noch blond, habe überhaupt
nicht ins Schema gepasst, trotzdem wurden an mir Demonstrationen
vorgenommen im Biologieunterricht. Wir sind nach ’38, im Zuge der
Vertreibung der Juden aus Hietzing, gleich delogiert worden. Wir wohnten im
Gemeindebau, und mein Vater wusste nicht wohin, und dann fanden wir aber im
letzten Moment, bevor wir auf der Straße saßen, eine Wohnung in der
Leopoldstadt, da war grade einer nach Schanghai emigriert. Dieses Haus ist
später ein „Judenhaus“ geworden, also schon eine Art Sammellager. Jede
gottgegebene Nacht musste man mit Gestapo und jüdischen Ordnern rechnen …
Und nach den ersten vier Jahren Gymnasium – die ich durchleiden musste, in
denen ich aber auch so eine Art Grundhandwerkszeug bekommen habe – mussten
jüdische Schüler die weiterbildenden Schulen verlassen. Ich bin als
Hilfsarbeiter in die Zwangsarbeit gegangen. Es war sogar ein Glücksfall,
denn damals war ja alles Rüstung. Ich kam in ein ganz normales
Installationsunternehmen – Karisch & Co. in Hernals, Heizung, Lüftung,
Sanitär. Der Prokurist war Ortsgruppenleiter, aber kein unanständiger
Mensch.
## Solidarität auf dem Bau
Ich bin nach einer Weile dort weggegangen, habe sogar einen Schweißkurs bei
der Deutschen Arbeitsfront gemacht und bin dann auf den Bau raus. Dort habe
ich wieder aufzuleben begonnen. Meine soziale Isolation hat auf dem Bau
aufgehört, da gab es Solidarität beim Zusammenarbeiten. Und eine weitere
Absurdität war, ich bin aufgewachsen in einer sozialdemokratisch
orientierten Familie mit einem militanten politischen Antiklerikalismus.
Wir hätten der Kirche nicht ferner sein können, trotzdem war es der Kaplan,
der eines Tages zu meinem Vater kam, der die Tore für uns weit geöffnet
hat, ohne zu fragen. Der sogar Juden versteckt hat, obwohl nah dran die
Nazis saßen. Und auch da habe ich ein soziales Umfeld bekommen. Der ist
nach ’45 übrigens Domprobst geworden. Ich war jedenfalls viel weniger
isoliert als in der Schule, habe gearbeitet und zu Hause gewohnt, habe mein
Essen gehabt und alles. Was wir bezahlt bekamen, das war absolut
lächerlich. Und da kam dann natürlich auch die Frage auf: Weggehen? Aber
das ist leichter gesagt als getan ohne Geld. Zum Schluss wäre nur eine
einzige Möglichkeit gewesen: Die Mutter als Dienstmädchen nach England und
ich in irgendeine Familie, und der Vater – der ja ’Arier‘ war – bleibt
zurück. Dann fiel die Entscheidung aber anders: Die Familie bleibt
zusammen, und sie bleibt in Wien. Das hätte schiefgehen können. Ist auch
schiefgegangen, für den Vater, er war im Arbeitslager, zu Schanzarbeiten an
der heutigen ungarischen Grenze, und ist nur zum Sterben zurückgekommen.
Ich war dann auch in so einem Arbeitslager, auch zu Schanzarbeiten,
Erdarbeiten, Sprengarbeiten. Die Truppführer waren entweder schwere Nazis,
kriegsversehrte Offiziere oder Schwerkriminelle. Meine Großmutter hat immer
gesagt: ’Es soll nie so schlecht werden, als dass man sich nicht dran
gewöhnen könnt!‘
Ich bin nach ’45 wieder in meine alte Schulklasse zurückgegangen. Das war
ein Fehler. Ich kam aus dem Arbeitslager, und die anderen kamen von der
Heimatflak, und unsere Lehrer, die, die früher mit der Bletschn rumglaufen
sind – dem Parteiabzeichen –, die waren auch wieder da. Man hat für uns
dann – nur für die ’Politischen‘ und die ’rassisch Verfolgten‘ –
Überbrückungskurse eingerichtet, und da konnten wir die Matura nachmachen.
Bei mir hat es ein Jahr gedauert, und ich war fertig, habe studiert in
Wien. Nebenbei waren wir in unseren Organisationen, ’Sozialistische
Jugend‘, ’Sozialistischen Studenten‘ oder die akademische Gruppe der
’Naturfreunde‘, das war unsere Welt gewissermaßen, das hat mich bestimmt,
bis zu meinem Weggang aus Wien. Ich bin nie aus der Partei raus, habe die
Mitgliedschaft aber lange Zeit sehr ruhen lassen, auch hier in Berlin noch.
Dann kam die ’Arbeitsgemeinschaft jüdischer Sozialdemokraten‘ 2007, und
über die bin ich dann hier in Schmargendorf in die Abteilung gekommen.
Nette Leut dort, mehr kann ich nicht sagen.
## Der Durchbruch 67/68
Aber zurück! ’52 war ich vorübergehend in Israel in einem Kibbuz. In einem
linken, um zu lernen, wie man den Sozialismus richtig aufbaut.“ Er lacht
selbstironisch. „Es gab damals die Möglichkeit dort zu bleiben, aber es
wäre nichts anderes infrage gekommen als Kibbuz und Armee. Ich habe mich
deshalb zur Rückkehr nach Österreich entschieden. Später war ich noch oft
dort, besuchsweise. 1954 bin ich dann nach Deutschland gekommen. Zuerst war
ich in Bayern. Und wer das nicht erlebt hat, der kann sich gar nicht
vorstellen, was für eine muffige Atmosphäre wir in den 50er Jahren mit den
alten und neuen Nazis hatten. Wir haben angefangen, uns mit dem Faschismus
zu beschäftigen, haben Kogon, Mitscherlich, Mielke gelesen und die Werke
der Frankfurter Schule weitgehend noch im englischen Original. Es gab
diesen starken inneren Widerstand. Der Durchbruch kam dann aber erst 67/68.
Politisch aktiv geworden bin ich zum ersten Mal in Deutschland bei der
Spiegel-Affäre, das war ’62. Und ’67 bin ich dann nach Berlin gegangen ans
Institut für Medizingeschichte. Damals ist die ’Kritische Universität‘ von
den Studenten ins Leben gerufen worden, als Gegenuniversität quasi, da gab
es eine Arbeitsgemeinschaft, die hieß ’Medizin ohne Menschlichkeit‘, an
Mitscherlich sich orientierend. Die Genossen von der Medizin kamen, und das
fand dann bei uns im Institut statt. Damals mussten wir uns eingestehen,
dass wir in der Faschismustheorie ziemlich blank sind, und das haben wir
dann allmählich geändert. Ich selbst habe eine Arbeitsgemeinschaft
angeboten, eine Lehrveranstaltung zu sozialwissenschaftlichen
Fragestellungen in der Wissenschaftsgeschichte, wir haben angefangen mit
der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, der Frühgeschichte der
pharmazeutischen Industrie – da war dann die ganze ’Rote
Zelle-Pharmazeutische Industrie‘ da.
Dann kamen Genossen, das war denn schon in den 70er Jahren, die sagten, wir
wollen Psychiatrie machen. Sie waren natürlich alle in der
Antipsychiatrie-Bewegung. Jedenfalls haben wir angefangen und zuerst den
Klaus Dörner hergenommen, sein Buch ’Bürger und Irre‘, und dann Güse und
Schmacke, ’Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus‘. Da
hatte ich dann die ersten Dissertanten mit psychiatrie-historischen
kritischen Themen zu betreuen. Wichtig war dann auch das medizinkritische
Buch von Ivan Illich, 1975 ’Die Enteignung der Gesundheit‘ – es erschien
später in den 80er Jahren unter dem Titel ’Die Nemesis der Medizin‘. Bei
all dem – Sie bemerken es schon, war bei uns die ’Medizin im
Nationalsozialismus‘ immer noch so ein bisschen an den Rand geraten. Es
musste erst das Jahr 1980 kommen. Da war der Deutsche Ärztetag in Berlin.
Der Präsident des Ärztetags ist immer der Präsident der lokalen
Ärztekammer, und das war damals ein Chirurg namens Heim, den wir nur mit
dem Spruch ’Heim ins Reich‘ tituliert haben. Er war SS-Arzt. Wir waren der
Meinung, das kann man nicht unkommentiert lassen, und haben uns im
Schwarzen Café in der Kantstraße dann hingesetzt und begonnen, was
Vernünftiges zu organisieren. Es gab den ’Gesundheitsladen‘ – der dann im
Mehringhof gewesen ist. War als erster Gesundheitsladen der BRD im Sommer
’78 in Berlin gegründet worden, hatte sein eigenes Büro, Rundbriefe, es gab
eine Zeitung, alles! Und über den Gesundheitsladen wurde dann von uns das
Projekt ’Gesundheitstag‘ entwickelt, als Gegenveranstaltung zum offiziellen
83. Deutschen Ärztetag. Ellis Huber – der spätere langjährige
Ärztekammerpräsident – war da sehr engagiert. Unser Gesundheitstag hatte
einen Themenschwerpunkt fürs Forum: ’Medizin im Nationalsozialismus:
Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?‘
Der Aufruf des Berliner Gesundheitsladens damals war ein enormer Erfolg.
Zum ersten Mal nach dem Krieg wurde das Thema Medizin und
Nationalsozialismus in einer so großen öffentlichen Veranstaltung von
Ärzten, Medizinstudenten und Pflegepersonal diskutiert. Es kamen über
10.000 Teilnehmer, mehr als 300 Seminare und Vorträge füllten das Programm
der insgesamt fünf Gesundheitstage, vom 14. bis 18. Mai. Basaglia war da –
er ist wenige Monate danach gestorben. Dörner war da, Jungk und andere,
überall war Gedränge, waren Diskussionen und immenses Interesse. Ich habe
dann, zusammen mit Ulrich Schultz unter dem Titel ’Medizin und
Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?‘
eine Dokumentation des Gesundheitstags herausgegeben. Ich hatte noch bei
der Planung darauf bestanden, bei diesem Slogan das Fragezeichen hinten zu
setzen. Heute, nach 33 Jahren Arbeit zu diesem Thema, können wir eines mit
Gewissheit machen: Das Fragezeichen wegstreichen!
## Medizinische Fachsprache
Wir sind zu der bitteren Erkenntnis gekommen, dass Grundpositionen, mit
denen wir ’Medizin im NS‘ und ’Medizin heute‘ sehen, uns eine Medizin
zwischen Heilen und Vernichten zeigen. Und da gibt es Traditionen, die viel
älter sind als die Medizin im NS. Also müssen wir uns die Medizin
anschauen, nicht nur im Blick auf die ’Euthanasie‘, die
Zwangssterilisation, auf Menschenversuche usw., sondern im Blick auf ihre
Gesamtheit. Das ist die Realität. Aber wir müssen natürlich immer wieder
zurückkommen auf die Geschichte der Medizin im NS. Und da machen wir auch
immer weiter, z. B. mit dem Arbeitskreis ’Arbeitskreis zur Erforschung der
Geschichte der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation‘. 1982 hatte Dörner
alle zusammengerufen, von denen er meinte, dass sie sich speziell dafür
interessieren könnten, also Ärzte, Pflegekräfte, Psychologen, Theologen,
Juristen, Medizinhistorikern usf. Dieser interdisziplinäre Arbeitskreis
stand von vornherein auf zwei Ebenen: Der Ebene der Erforschung zum einen –
denn junge Ärzte der ’Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie‘ sind
als Oberärzte oder ärztliche Direktoren aufgerückt und hatten auf einmal
das ganze Aktenmaterial zu ihrer Verfügung in den Anstalten, dessen
Existenz ja immer geleugnet worden war. Damit hat man anfangen können, zu
arbeiten.
Und die zweite Ebene war die medizinethische Ebene, auch die Fragen zur
eigenen praktischen Arbeit mit den Patienten. Wir treffen uns zweimal
jährlich, meistens von entsprechenden Institutionen eingeladen. Nächste
Woche wieder in Stralsund. Man kann ruhig sagen, seit 1980 bin ich in dem
gesamten kritisch-medizinischen Diskurs drin. Vom ersten bis zum letzten
Tag. Und das hatte natürlich auch Auswirkungen auf die ärztliche
Ausbildung. Ich wollte immer hinaus auf eine andere, eine neue Medizin, und
die kann nur von jungen Medizinern umgesetzt und angewandt werden. Ich habe
z. B. auch einen Terminologiekurs eingeführt, der war Pflichtveranstaltung
in der ärztlichen Ausbildung. Man kann ja mit medizinischer Fachsprache
manipulieren und alles machen. Die Sprache als Herrschaftsinstrument, das
waren so die Dinge, die wir neben dem Lateinpauken gemacht haben.
## Gefahr: heutige Bioethik
Und das möchte ich noch sagen, es gibt die ’Grafenecker Erklärung‘, das i…
unsere Erklärung. Im Oktober 1995 kam unser ’Arbeitskreis zur Erforschung
der Euthanasie-Geschichte‘ in Schloss Grafeneck zusammen, und wir
diskutierten über die Gefahren der heutigen Bioethik. Daraus ist die
Grafenecker Erklärung hervorgegangen. Können sie im Internet lesen auf der
Seite des Arbeitskreises (Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb war
die erste Tötungsanstalt für die „T4-Aktion“ zur „Vernichtung
lebensunwerten Lebens“, auch als „Aktion Gnadentod“ bezeichnet. Es war
zugleich die Zentralstelle der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“,
einem Busunternehmen zum diskreten Antransport der Behinderten und
psychisch Kranken in grauen Bussen mit blinden Scheiben. Im Jahr 1940
wurden dort mehr als 10.000 Hilfsbedürftige von Ärzten ermordet. Anm. G.
G.)
„In der Erklärung haben wir auch die geplante Bioethik-Deklaration der
Unesco sowie die ’Menschenrechtskonvention zur Biomedizin‘ vom Europarat
scharf kritisiert. Es geht um das, was wichtig ist, auch um die
Auseinandersetzung mit der Präimplantationsdiagnostik und um solche Dinge.
Das ist genau das, was wir in der Gesundheitsbewegung seit 1980 versuchen
zu tun. An der Geschichte lernen, Stück für Stück. Wir haben auch mal eine
themengebundene Zeitschrift geschaffen: Forum für Medizin und
Gesundheitspolitik. Sie war angesiedelt zwischen den Zeitschriften Argument
und Dr. Mabuse, einige Hefte sind erschienen, wir haben uns selber
ausgebeutet, aber dann war es nicht mehr zu finanzieren, unser letztes Heft
war ’Ausländer und Medizin‘. Ich bin dann in die Mabuse-Redaktion gegangen.
Und das sind eigentlich die Zusammenhänge, in denen ich – der ich ja kein
Mediziner bin, mein Rüstzeug bekommen habe.
Und jetzt komme ich zum Thema Sterbehilfe. Es ist besonders wichtig, denn
wir haben eine Gesellschaft, die erstens älter wird und zweitens durch ein
spezielles Krankheitsbild bedroht wird – aus welchen Gründen auch immer –,
das ist die Demenz mit dem Extremfall Alzheimer. Auf Grund unserer
Familien- und Gesellschaftsstruktur ist es ganz klar, dass die Pflege
dieser Kranken weitgehend in Heimen stattfinden wird. In quasi privat
geführten Heimen. Da hat ein gewaltiger Umschlag stattgefunden bei der
Bevorzugung privater oder privatrechtlicher Initiativen vor öffentlichen
Initiativen. Und auch die großen Wohlfahrtsverbände haben sich sehr
verändert seit den 60er Jahren – sogar die Arbeiterwohlfahrt, die mal eine
Art Begleitorganisation war für soziale Notfälle – sie sind quasi zu
Konzernen geworden, und nun konkurrieren sie auch noch gegen die rein
gewinnorientierten Gesundheitskonzerne. Also der Kommerzialisierung sind
Tür und Tor aufgerissen worden. Der Kommerzialisierung von allem.
Und mittendrin haben wir eine Debatte über das ’Recht auf den eigenen Tod‘,
wobei in medizinethischer Sicht jetzt etwas zum entscheidenden Kriterium
gemacht wird, die Autonomie. Das ist im Prinzip ja etwas Wunderbares,
besser könnten wir es uns gar nicht vorstellen, aber angesichts einer
Situation, wie wir sie jetzt mit den Heimen und folglich auch in den Heimen
haben, kann dieses Prinzip sich natürlich nicht durchsetzen. In den Heimen
regiert nicht nur die Kommerzialisierung, sondern auch der Kostendruck, dem
sich alle beugen müssen. Und mitten in so einem immer schärfer
eingreifenden Einspar- und Rationalisierungssystem wird sog.
Selbstbestimmung nachgefragt und von einem ’Recht auf den eignen Tod‘
gesprochen.
## Eugenik und Autonomie
Da müssen wir uns dann fragen, welche Eugenik haben wir eigentlich heute?
Wir haben nicht die Rasseneugenik der 20er Jahre oder die ’Rassenhygiene‘
des NS. Wir haben eine Eugenik in Form einer scheinautonomen Nachfrage!
Eine, die sich im Wunsch nach einem selbst wählbaren Tod äußert. Aber diese
Nachfrage wird produziert durch die Missstände einer kapitalistischen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, durch die Unfähigkeit, mit den
Folgen fertig zu werden. Wir haben hier das Problem einer ’fehlgeleiteten
Autonomie‘.
Zur Verdeutlichung dessen, was mit ’fehlgeleiteter Autonomie‘ gemeint ist,
ein Beispiel: Sowohl beim genetischen Screening als auch bei der
’Präimplantationsdiagnostik‘ ist uns versprochen worden, das wären
Methoden, die nur in einem kleinen, beschreibbaren Raum für absolute
Ausnahmefälle notwenig und sinnvoll sind. Wir sind bei der PID noch nicht
so weit, aber ich kann ihnen Gift darauf geben, dass es bald zur Routine
gehören wird. Und zwar nicht deshalb, weil zuerst eine Nachfrage da war,
sondern weil die Methoden in interessengeleiteten Diskussionen den Leuten
aufgedrängt wurden, und es in ’fehlgeleiteter Autonomie‘ zu einer
’Nachfrage‘ gekommen ist. Die Produktion solcher ’Nachfragen‘ ist rein
ökonomisch bedingt und gesteuert von der Pharmaindustrie. Und das ist es,
was wir in allen Bereichen haben. Ich möchte sagen, die
Präimplantationsdiagnostik, das genetische Screening, alles, womit wir uns
rumgeschlagen haben in den letzten Jahren, das ist übergegangen in die
Sterbehilfedebatte. Im Moment sind wir mittendrin. In einer Debatte, die
definiert wird, als ausgehend vom ’autonomen Individuum‘. Das ist genau die
Debatte, die uns heute wieder aufgezwungen wird. Das ist das ganz, ganz
Gefährliche daran! Da sagen wir Nein!
Diese Debatten ziehen sich schon über viele Jahre hin. Wir hatten die
Singer-Debatte über die ’Praktische Ethik‘ dieses australischen
Euthanasiebefürworters, der Menschenrechte und Menschenwürde und letztlich
ein Lebensrecht nur solchen Menschen zugesteht, die über ein Bewusstsein
verfügen. Wir haben es sogar geschafft, seine Auftritte an den
Universitäten zu verhindern. Das war die Zeit, wo ich nur auf Podien
gesessen habe, zusammen mit Betroffenen. Ich habe gesagt: Ich diskutiere
nicht ’über‘ Behinderte, ich diskutiere ’mit‘ Behinderten. Irgendwann
dachten wir, die Debatte ist vorbei, es hat sich erledigt. Aber sie hat
dann ’98 wieder begonnen mit ’Dignitas‘, der Schweizer Sterbehilfe. Das
beginnt ja immer schleichend, Suizid, begleiteter Suizid, passive
Sterbehilfe usw. Die Forderung nach einer humaneren Medizin stößt auf eine
Grenzzone. Und die wird überschritten in dem Augenblick, wo ich
’begleitenden Suizid‘ kommerzialisiere. Wenn Institutionen wie die
’Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben‘ hier gegen Geld Mittel zur
Selbsttötung bereitstellt und meint, auf der Basis einer sogenannten
Autonomie gesellschaftliche Positionen besetzen zu müssen, dann sind wir
aufgerufen, auf der anderen Seite zu stehen!“ (Dignitas verlangt neben
einer einmaligen Aufnahmegebühr und einem Mitgliedsbeitrag von seinen
Mitgliedern für die Vorbereitung und Durchführung einer sog.
Freitodbegleitung einen „Sondermitgliedsbeitrag“ von 6.000 Schweizer
Franken. Ausländer bekommen den Service, inkl. Arzt und Kremation, für etwa
8.600 Schweizer Franken. Anm. G. G.)
## Jemanden gehen lassen
„Dabei gibt es Alternativen! Verantwortungsvolle Begleitung beim Sterben
heißt auch, dass ich jemanden „gehen lasse“, dass ich nicht alles
medizinisch Mögliche ausschöpfe. Und es gibt eine Medizin, die ganz bewusst
unterentwickelt gehalten wird, das ist die Palliativmedizin, die
Schmerztherapie. Sie ist auch so etwas, was in Deutschland weitgehend
unterentwickelt ist. In den Staaten ist eine gute Schmerztherapie gang und
gäbe. Palliativmedizin erfordert allerdings mehr Geld und Personal, Ärzte,
Psychologen, Sozialarbeiter und Pflegekräfte, die vor allem eines haben,
nämlich Zeit für ihre Patienten. Aber das Problem ist, da ist kein großes
Geschäft zu machen. Das meiste Geld in der Medizin bringt die apparative
Medizin, die operativen Fächer und die Transplantationsmedizin. Es geht
nicht um das Patientenwohl, sondern um die – sprechen wir es ruhig aus –
Kapitalinteressen einer unserer größten Industrien, nämlich der
Medizinindustrie. Sicher, ich kann den lobbyverstärkten großen Einfluss der
Medizinindustrie, der Pharmaindustrie auf die Gesetzgebung beklagen usw.
Das hilft mir aber nicht weiter. Wir haben gesehen, wir können den
Kapitalismus nicht aus den Angeln heben, aber was wir können, müssen wir
tun. Schritt für Schritt. Wir müssen diese Alternativen einfordern. Es geht
um Kernfragen des menschlichen Daseins, deshalb muss es uns gelingen, die
Palliativmedizin und Pflege voranzutreiben und die Hospizbewegung
auszubauen. Wir müssen Gegenkräfte entwickeln und uns zivilgesellschaftlich
organisieren.
Ein wichtiger Punkt, über den wir noch nicht gesprochen haben, ist die
Selbstbestimmung. Ist die Möglichkeit, eine Verfügung zu treffen für den
Fall, dass ich eines Tages nicht mehr handlungsfähig bin und vielleicht
nicht mehr entscheidungsfähig, damit uns kein amtlich bestimmter Pfleger
übernimmt. Dieses Bedürfnis nach Selbstbestimmung konnte lange Zeit nur
sehr unzureichend befriedigt werden. Es gab die ’Patiententestamente‘, da
hat sich bald gezeigt, dass die zu ungenau sind. Dass der eigene Wille des
Patienten kaum wahrnehmbar gewesen ist. Und das letztlich hat – auch wegen
der Rechtsunsicherheit der Ärzte – dazu geführt, zu sagen: Wir brauchen
jetzt was Festes. Und das ist dann gekommen durch die gesetzliche Regelung
und die Patientenverfügung. Das war ein gewaltiger Schritt vorwärts. Und
hier haben wir endlich eine sinnvolle Autonomie und nicht eine
fehlgeleitete. In der Patientenverfügung kann ich genau sagen, wo die
Grenzen für mich sind, wo ich medizinische Hilfe haben möchte und wo nicht.
Es ist natürlich nicht möglich, aktive Sterbehilfe zu verlangen, sondern es
sind die Eingrenzungen gegenüber einer übertechnisierten Medizin, die man
für sich bestimmt.
Ich könnte mich ja zurücklehnen, bin Mitglied in einer liberalen jüdischen
Gemeinde. Im jüdischen Glauben ist es so, dass kein Fünkchen Leben verkürzt
werden darf, zusätzlich ist es so, dass der im Sterbeprozess Befindliche
nicht berührt werden darf, drittens darf aus seinem Tod kein Gewinn gezogen
werden … und die Grabstatt ist für immer! Aber natürlich habe ich selber
auch so eine Patientenverfügung gemacht, mit ganz klaren Eingrenzungen,
beispielsweise: keine Maschinen, keine Chemotherapie, keine künstliche
Ernährung, keine Magensonde, keinen Dauerkatheter. Aber eine ordentliche
Schmerzbehandlung! Von den Ärztekammern gibt es Blöcke, Bausteine, die du
individuell zusammenfügen kannst. Das ist recht praktisch. Und da gibt’s
einen Baustein, den ich verweigert habe. Nämlich den, dass ich – auch wenn
eine Patientenverfügung da ist – im letzten Moment, wo ich nicht mehr
direkt ansprechbar bin, durch irgendeine, von den anderen zu verstehende
Willensäußerung, meine Verfügungen widerrufen kann.
## Nicht aufgeben
Über eines müssen wir uns klar sein. Selbst unter den katastrophalen
generellen Verhältnissen, in denen sich diese Gesellschaft befindet, dürfen
wir nicht aufgeben und müssen an den Baustellen weiterarbeiten. Das ist das
A und O in einer demokratischen Gesellschaft, gemeinsam Strukturen zu
schaffen, die wir unbedingt brauchen. Schaut’s euch die Heime an, die
defizitären Hospize …“
Lange Pause. „Am Ende steht immer die Frage nach einem menschenwürdigen
Tod. Der Gedanke an den eigenen Tod produziert zwar Ängste, zwangsläufig,
aber durch Verdrängen erledigen sich die Bedingungen, unter denen wir
derzeit sterben müssen, nicht. Die können nur wir gemeinsam ändern!“
5 Jul 2013
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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Gabriele Goettle
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Roman „Ikarien“ über NS-Eugeniker: Tod und Zynismus
Der deutsche Arzt Alfred Ploetz lieferte das Fundament für den
NS-Rassenhass. Der Roman „Ikarien“ entlarvt die Logik des historischen
Irrsinns.
Opfer der „Euthanasie“-Morde: Gedenkstätte eröffnet
Rund 300.000 kranke und behinderte Menschen sind von den Nazis ermordet
worden. Eine neue Gedenkstätte in Berlin-Tiergarten soll sie in Erinnerung
halten.
Falsche Hirntod-Diagnosen: Tödliche Organentnahmen
Die für Organentnahmen vorgeschriebene Hirntodfeststellung wird in
deutschen Kliniken nicht immer korrekt durchgeführt. Die Ärztekammer
wiegelt ab.
Debatte um Sterbehilfe in Deutschland: Vorstoß auf vermintem Gelände
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Der SPD-Justizminister verweist ans Parlament.
Hilfe zur Selbsttötung: Gröhe findet's „überaus verwerflich"
Hermann Gröhe (CDU) strebt eine Verschärfung der gesetzlichen Regelungen
zur Sterbehilfe an. Geschäftsmäßige Hilfe soll unter Strafe gestellt
werden.
Armut in Deutschland: Die Ärztin der Armen
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ein Gesundheitszentrum für Obdachlose aufgebaut.
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Einen Tag nach seiner Öffnung muss ein Hospiz in Hamburg womöglich wieder
schließen. Die Kläger wollen den Tod nicht vor der Haustür haben.
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bleibt.
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Medien, die das Leben in Heimen oft negativ darstellen, sind dafür
mitverantwortlich.
Gesundheit neu gedacht: Die Hoffnung stirbt zuletzt
„Wir hatten die Vision einer besseren Medizin“, erinnert sich Dr. Ellis
Huber, Ärztekammerpräsident a.D. Unsere Autorin hat ihn in Berlin
getroffen.
Blindenbüchereien in Deutschland: Wer nicht sehen kann, muss hören
In Frankfurt schließt die Bücherei für Blinde und Sehbehinderte. Sie ist
eine von nur zehn Hörbüchereien in Deutschland.
Personale Medizin statt schnelle Diagnose: Reden hilft mehr als Apparate
Eingeliefert wurde Joachim Guller mit „Tennisarm und Nackenschmerzen“.
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Rentner klagt gegen Steuernachteile: Vor dem Gesetz
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Hilfe zum Selbstmord: Koalition kippt Pläne für Bestrafung
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soll. Also bleibt die organisierte Hilfe beim Suizid erstmal straffrei.
Ein Besuch bei LobbyControl in Berlin: Von Böcken, die gärtnern
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zwischen Wirtschaft und Politik transparent zu machen.
Augenarzt mit sozialer Vision: Brillen für Deutschland
Dr. Roth erzählt von der verordneten Armut – und von seiner Armenklinik,
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