| # taz.de -- NS-Morde an Kindern: „Ich habe bei keiner Ärztin Unrechtsbewusst… | |
| > Der Journalist Andreas Babel hat zu den NS-Morden an Kindern mit | |
| > Behinderung geforscht. Die Taten wurden lange gebilligt und sind heute | |
| > kaum bekannt. | |
| Bild: Inzwischen wird endlich an die in den NS-Kliniken ermordeten Kinder erinn… | |
| taz: Wie sind Sie darauf gestoßen, dass die Ärztin Helene Sonnemann während | |
| der NS-Zeit mindestens zwölf Kinder mit Behinderung getötet hat, Herr | |
| Babel? | |
| Andreas Babel: 2009 verstarb ihr Ehemann hier in Celle. Er war einer der | |
| letzten lebenden persönlichen Adjutanten von Adolf Hitler. Und ich dachte: | |
| Wie kann es sein, dass ein Mann mit so einer Vorgeschichte hier völlig | |
| unbehelligt leben konnte? Dann kam ich relativ schnell auf seine Ehefrau | |
| Helene Sonnemann. | |
| taz: Gibt es Zeugnisse zu ihren Morden? | |
| Babel: Es wurde direkt nach dem Krieg eine gerichtliche Voruntersuchung | |
| aufgenommen. Dabei sind fast alle Beteiligten [1][am Kinderkrankenhaus | |
| Rothenburgsort] und auch Frau Sonnemann befragt worden. Sie haben ganz | |
| offen ihre Schuld eingestanden. | |
| taz: Das heißt, es gab eine Form von Unrechtsbewusstsein? | |
| Babel: Nein. Sie hat klar geschildert, wie sie die Kinder getötet hat und | |
| dass sie der Meinung war – alle Ärztinnen haben das gesagt –, dass das | |
| gesetzmäßig war. Ich habe die Lebenswege dieser Ärztinnen bis zu ihrem Ende | |
| verfolgt – ich habe bei keiner ein Unrechtsbewusstsein finden können. | |
| taz: Hat sich Helene Sonnemann mit ihren Taten überhaupt | |
| auseinandergesetzt? | |
| Babel: Nein, ich glaube nicht. Ich habe auch keine Quelle dafür gefunden, | |
| dass sie jemals in einem offiziellen Rahmen darauf angesprochen worden | |
| wäre. Sie ist 1976 ehrenhaft in den Ruhestand gegangen. Ihrem Neffen hat | |
| sie erzählt, dass man das damals eben so gemacht habe und dass sie es heute | |
| nicht mehr so machen würde. | |
| taz: Wie haben die Angehörigen auf den Tod ihrer Kinder in der Klinik | |
| reagiert? | |
| Babel: Die Eltern sind zum Teil befragt worden. Es gab Eltern, die alles | |
| dem Krankenhaus überlassen haben, die gar nicht nachgefragt haben. Es gab | |
| auch ganz wenige, die gesagt haben: Verkürzt das Leben meines Kindes, das | |
| ist besser so. Der Großteil der Eltern ist aber getäuscht worden. | |
| taz: Wie? | |
| Babel: Man hat ihnen vorgegaukelt, es gäbe ein letztes, hoch riskantes | |
| Verfahren, dass man noch versuchen könne. Der Krankenhausleiter hat immer | |
| von 90- bis 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit gesprochen, dass die | |
| Behandlung mit dem Tod ende. Die meisten der Eltern haben gesagt: Ja, | |
| versucht das. Es gab einen Fall, wo ein Vater in den 60er-Jahren eine der | |
| Ärztinnen angezeigt hat. Sie ist mit der gleichen Begründung freigesprochen | |
| worden, wie sie in den anderen Prozessen benutzt wurde: dass sie nicht | |
| wissen konnte, dass es Unrecht war, was sie getan hat. | |
| taz: Gab es einen expliziten, schriftlichen Befehl zu diesen Morden? | |
| Babel: Es gab ein einziges [2][Ermächtigungsschreiben], das von einem | |
| Ausschuss aus Berlin kam, und abgeheftet wurde. Vor Ort geschah alles | |
| mündlich und man hat sich einer gewissen Tarnsprache bedient. Man sprach | |
| von Behandlung, wenn man Tötung meinte. Die Kinderfachabteilung in | |
| Rothenburgsort hatte einen wissenschaftlichen Anstrich, obwohl es nichts | |
| anderes war als eine Abteilung, in der die Kinder mit Behinderung verlegt | |
| wurden, um sie zu töten. Wenn die Ärztinnen den Befehl bekamen, einem Kind | |
| die Überdosis eines Schlafmittels zu verabreichen, dann bekamen sie einen | |
| Zettel. Auf dem Zettel stand der Name des Kindes und dann vielleicht noch | |
| der Zusatz „Ermächtigung liegt vor“. Und dann wussten sie, was sie zu tun | |
| haben. | |
| taz: Welche Art von Behinderung hatten diese Kinder? | |
| Babel: Es gab fünf Kategorien: Das war einmal Trisomie 21. Dann war das | |
| eine besonders große Ausformung oder eine besonders kleine Ausformung des | |
| Kopfes, spastische Lähmung und das Fehlen von Gliedmaßen. Nach diesen fünf | |
| Kategorien mussten Hebammen und Kinderärzte die Kinder an die | |
| Gesundheitsämter melden. Und dann wurde ein Meldebogen zu einem Ausschuss | |
| nach Berlin geschickt und drei Gutachter, die überall verteilt in | |
| Deutschland saßen, haben aufgrund eines zweiseitigen Meldebogens | |
| entschieden, welches Kind zu töten sei und welches nicht. | |
| taz: Wie alt waren die Kinder? | |
| Babel: Anfangs hat man gesagt, man geht vom Säuglingsalter bis zu drei | |
| Jahre und später wurde diese Grenze immer weiter nach oben gesetzt, sodass | |
| auch 13- bis 14-jährige Kinder getötet wurden. In Rothenburgsort waren das | |
| aber größtenteils Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter. | |
| taz: Als es spät dann doch zu Prozessen gegen Ärzt:innen kam, die Kinder | |
| mit Behinderung getötet haben, gab es zahlreiche Protestbriefe dagegen an | |
| die Gerichte. Sind Sie auch solchen Stimmen begegnet? | |
| Babel: Auf schriftliche Zeugnisse bin ich da nicht gestoßen. Es ist aber | |
| der Fall eines guten Bekannten von Helene Sonnemann überliefert. Der war | |
| hier Gynäkologe in Celle und hat die Liste geführt über erwachsene Menschen | |
| mit Behinderung, die vergast werden sollten. Als er dann zwischenzeitlich | |
| nicht mehr praktizieren durfte, [3][gab es hier in Celle eine | |
| Unterschriftensammlung], die 5.000 Leute unterschrieben haben. Und das muss | |
| in den 70er-Jahren gewesen sein. | |
| taz: Ist Ihr Eindruck, dass die Vorstellung von „unwertem Leben“ | |
| gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet worden ist? | |
| Babel: Ich habe bei meiner Recherche 2009 von altgedienten | |
| Krankenschwestern gehört: „Das war doch Usus. Und was wissen Sie denn, wie | |
| schlimm es ist, wenn ein Kind, das da vor sich hinvegetiert, so leidet.“ | |
| Der Nachfolger von Frau Sonnemann, der bis in die 90er-Jahre in Celle | |
| Chefarzt der Kinderklinik war, war erbost darüber, dass ich es wagte, diese | |
| Frau durch den Dreck zu ziehen. | |
| taz: Beschäftigt sich die Ärzt:innenschaft heute mit ihrer Rolle in der | |
| NS-Maschinerie? | |
| Babel: Einer meiner ersten Vorträge war hier vor der Ärzteschaft in Celle. | |
| Ein junger Arzt aus der Kinderklinik sagte danach zu einem Kollegen: „Die | |
| Kategorien, nach denen damals die behinderten Kinder umgebracht worden | |
| sind, sind ja dieselben, die wir heute anwenden bei der Tötung ungeborenen | |
| Lebens.“ Man muss natürlich ganz klar sagen, dass heute bei der | |
| Entscheidung, ungeborenes Leben zu töten, ein viel stärkerer | |
| Überwachungsmechanismus existiert. Das ist eine freie Entscheidung der | |
| Mutter und die freie Entscheidung eines Arztes. Die Ärzte damals waren | |
| einem ungeheuren Druck ausgesetzt. | |
| taz: Gab es Ärzt:innen, die sich dem widersetzt haben? | |
| Babel: Ich habe herausgefunden, dass sich zwei, drei Ärztinnen verweigert | |
| haben. Denen ist nichts passiert. Aber zumindest eine musste ihre Papiere | |
| abgeben, was in Nazideutschland schon für Probleme sorgte. | |
| taz: Das heißt, sie durfte dann nicht mehr ausreisen aus Deutschland. | |
| Babel: Genau – und da sie aus Südtirol kam, war ihr Weg dann sehr | |
| verschlungen. Leider ist genau diese Ärztin in den Ermittlungen nicht | |
| befragt worden. Sie ist früh verstorben und hat sich zu Lebzeiten wenig zu | |
| diesem Thema geäußert. Insgesamt hat das NS-System einigen Druck auf seine | |
| Bevölkerung ausgeübt. Aber das Hauptargument, das ich herausgefunden habe, | |
| ist bei diesen jungen Ärztinnen der Obrigkeitswahn – die Hacken | |
| zusammenzuschlagen und nicht nachzufragen. Aber das zweite war, dass sie | |
| Karriere machen wollten. Es war der Zeitpunkt, wo die Ärzte an der Front | |
| waren und auch Frauen Karriere im Krankenhaus machen konnten. | |
| taz: Also reines Kalkül? Oder hatten sie die eugenischen Vorstellungen von | |
| unwertem Leben verinnerlicht? | |
| Babel: Das denke ich schon. Zumindest bei zweien habe ich Beispiele für | |
| schlimmsten NS-Jargon in der Abitur- und in der Doktorarbeit gefunden. | |
| taz: Sie arbeiten seit über 15 Jahren zu diesem Thema – von außen denkt | |
| man, dass die Bilder und Schicksale einen sehr verfolgen müssen. | |
| Babel: Ich beschäftige mich damit, weil ich überhaupt nicht verstehen kann, | |
| dass sich ansonsten so wenige damit beschäftigen, und es mir selbst bis vor | |
| 15 Jahren völlig unbekannt war, dass Kinder so gezielt getötet worden sind. | |
| Diese Menschen werden von den meisten immer noch an den Rand gedrängt. Es | |
| hilft nicht, irgendwelche Schuldzuweisungen zu machen, aber ich versuche | |
| mir vorzustellen, [4][wie Menschen, die auch nicht anders waren als ich, | |
| auf diesen Weg gelangt sind]. Die Erkenntnis muss sein, heutzutage wirklich | |
| kritisch zu sein, nachzufragen, auch im Beruf. | |
| 19 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Euthanasie-und-ihr-Erbe/!6035683 | |
| [2] /Gesellschaft/!6059600&s=euthanasie/ | |
| [3] /Menschen-in-Deutschland-wollen-laut-einer-Studie-einen-Schlussstrich-unter… | |
| [4] /Goetz-Alys-Wie-konnte-das-geschehen/!6107576 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
| ## TAGS | |
| Euthanasie | |
| Menschen mit Behinderung | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Hamburg | |
| Reden wir darüber | |
| Social-Auswahl | |
| Social-Auswahl | |
| Euthanasie | |
| Gabriele Goettle | |
| Euthanasie | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| NS-Euthanasie aufarbeiten: „Die Anerkennung blieb aus“ | |
| Menschen mit Behinderungen, die die Nazis ermordeten oder sterilisierten, | |
| sind bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt. Der Bundestag will das ändern. | |
| Geschichte der Gesundheitsbewegung: Autonomie und Sterbehilfe | |
| Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat die NS-Euthanasie erforscht. Die | |
| heutigen Debatten um Bioethik und Sterbehilfe sieht er als Gefahr. | |
| Götz Alys Buch über Euthanasie 1939-1945: In stillem Einvernehmen | |
| Götz Aly hat die Geschichte der NS-Programme zur Tötung behinderter | |
| Menschen gebündelt und erkannt: Perfektionswahn hatten nicht nur Nazis. |