Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Götz Alys Buch über Euthanasie 1939-1945: In stillem Einvernehmen
> Götz Aly hat die Geschichte der NS-Programme zur Tötung behinderter
> Menschen gebündelt und erkannt: Perfektionswahn hatten nicht nur Nazis.
Bild: Aly möchte alle Opfer-Namen veröffentlichen: Hier ein Gedenkbuch mit me…
Gänzlich exakte Zahlen gibt es nicht, und wahrscheinlich können sie auch
nie ermittelt werden. Aber mehr als 200.000 Menschen wurden in Deutschland
zwischen 1939 und 1945 ermordet – und es waren die wehrlosesten Männer,
Frauen und Kinder überhaupt, denn sie waren in irgendeiner Weise behindert,
körperlich oder geistig, zeitweise oder dauerhaft. Sie wurden in zu
Erstickungskammern umgebauten Omnibussen vergast, in Krankenhauszellen
totgespritzt oder man ließ sie verhungern.
Die Geschichte der NS-Programme zur Tötung von Menschen, die buchstäblich
unnütz, aber hilfsbedürftig waren, ist keine verdunkelte mehr – im
öffentlichen Bewusstsein kann gewusst werden, dass Staat wie Gesellschaft
des Nationalsozialismus von Menschen träumten, die keine Makel tragen,
weder geistig noch körperlich. Der Politikwissenschaftler und Historiker
Götz Aly hat wesentlich dazu beigetragen, dieses Wissen zu bergen. Er hat
die stummen Archivalien, die Leser heftig berührend, zum Sprechen gebracht.
Der wichtigste Befund aber, ein zweigeteilter, der von ihm stammt, lautet:
Menschen in psychiatrischen Anstalten, die Angehörige hatten, die sich nach
ihnen erkundigten, wurden seltener umgebracht als etwa Behinderte, die von
ihren Verwandten abgeschrieben wurden. Und schließlich: Dieser Wahn,
Menschen zu perfektionieren, entstammt nicht spezifisch
nationalsozialistischer Gedanklichkeit, sondern einer Haltung, die man
ingenieurhaft-planerisch-prognostisch nennen kann. Besser: eine
intellektuelle Frucht der Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, der
auch Linke zuneigten – Menschen zur Sonne, zur Freiheit, zum reinen
Menschen.
Aly schreibt die Geschichte des falsch „Euthanasie“ (schöner Tod) genannten
Verbrechens nicht neu. Muss er ja auch nicht: Sein Buch bündelt die eigenen
Arbeiten, die er seit den frühen 80er Jahren verfasst hat, anfänglich oft
im Bund mit dem Arzt und Historiker Karl-Heinz Roth und der Historikerin
Angelika Ebbinghaus. Diese drei forschten teilweise unabhängig vom
Mainstream der Historiker – ein starkes, bleibendes Verdienst.
Aly nun hat seine „Gesellschaftsgeschichte“ eben „Die Belasteten“ genan…
weil die Menschen, um die es geht, tatsächlich eine Last waren: unter
perfektionspolitischen Umständen aber eine, die nicht getragen werden
sollte.
## Die Spritze als Erlösung
Euthanasie – ein Wort übrigens, das verschwiegen die
nationalsozialistischen Ärzte nicht, das vor allem auf die Last der
Angehörigen anspielte: Indem man so tat, als trüge eine tödliche Spritze
oder ein Gas zur „Erlösung“ des Pfleglings, des Patienten bei, wurde die
moralische Hemmschwelle zum Einverständnis mit dem Töten des behinderten
Angehörigen krass gesenkt. Dass es, alles in allem, auch für viele
Angehörige eine Erleichterung bedeutete, sich nicht mehr um ihre unheilbar
versehrten Angehörigen kümmern zu müssen, dass es für das Regime darum
ging, weniger „unnütze Esser“ versorgen zu müssen, wird beklemmend
deutlich.
Der Autor erläutert, weshalb gerade in katholischen Gegenden der familiäre
Widerstand gegen das euthanasierende Regime zäh ausfiel. Der Text Alys
räumt neuerlich mit dem Gerücht auf, das NS-Regime habe diktatorisch, „ohne
Rücksicht auf Verluste“ (Alltagssprache im Dritten Reich) über alles hinweg
regiert – in puncto Mord an Behinderten lag es den beteiligten Ärzten und
Funktionären stets an irgendeinem Einvernehmen mit den Angehörigen.
## Ein weiteres Erinnerungsgroßmöbel
„Die Belasteten“ enthält ein Plädoyer. Aly möchte, dass die Namen aller …
Namen der Euthanasie Ermordeten in einem zentralen Register veröffentlicht
werden. Alle sollen so erfahren können, ob es in ihrer Familie ein Opfer
der NS-Morde an Behinderten und Traumatisierten gegeben hat. Der Grund, ein
solches Verzeichnis nicht aufzubereiten, sei unter anderem, dass die
Familien der Opfer nicht belastet werden mögen. Aly findet das falsch.
Ein weiteres Denkmal, wie jüngst auf einer EU-Konferenz zur Euthanasie
gefordert, ist in diesem Sinne unnötig. Es wäre ein Stück Mahnmal, das nur
das Ganze nennt, nicht die einzelnen Menschen, es wäre ein weiteres
Erinnerungsgroßmöbel, eines für die Scham, die an diesem Thema immer noch
haftet. Aly hat entscheidendes Verdienst daran, diese falsche Scham
gelüftet zu haben.
## Die Belasteten. ,Euthanasie' 1939-1945“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.
M. 2013, 356 S., 22,99 Euro
12 Mar 2013
## AUTOREN
Jan Feddersen
## TAGS
Euthanasie
Götz Aly
Götz Aly
Nazis
Schwerpunkt Occupy-Bewegung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Historiker Götz Aly über Euthanasie: „Ich habe katholisch geantwortet“
Götz Aly und Morlind Tumler haben eine behinderte Tochter. Ein Gespräch
über sein neues Buch, Euthanasie und integrative Wohngemeinschaften.
80 Jahre Bücherverbrennung: Der Vergessene
Der Autor Oskar Maria Graf war Sozialist, die Nazis hielten ihn für einen
der Ihren. Graf wehrte sich und forderte für seine Bücher „den
Scheiterhaufen“.
„taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Schlechtes suspendieren
Die Startheoretiker der Rebellion, das Duo Antonio Negri/ Michael Hardt
schlagen wieder zu. In „Demokratie - Wofür wir kämpfen“ geht es ums Ganze.
„taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Darauf einen Sechsämtertropfen
Stilbildender Humorist, eigenwilliger Autor: Eckhard Henscheids neues Buch
„Denkwürdigkeiten“ könnten als seine Memoiren durchgehen.
„taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Reformvorschläge eines Insiders
Winfried Ridder war Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz.
Könnte es einen besseren Autor für ein Buch über die Misere der deutschen
Geheimdienste geben?
„taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Schiedsrichter in Karlsruhe
Das Bundesverfassungsgericht genießt höchste Autorität. Warum eigentlich?
Christian Rath antwortet in „Schiedsrichterstaat“. Selbstverständlich
parteiisch.
„taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Der Auskenner
Er trifft toughe Medien-Frauen und weinende Männer, sensible Nerds und
schwule Mädchen: Martin Reichert ist auf „Friedensmission zwischen Mann und
Frau“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.