# taz.de -- NS-Euthanasie aufarbeiten: „Die Anerkennung blieb aus“ | |
> Menschen mit Behinderungen, die die Nazis ermordeten oder sterilisierten, | |
> sind bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt. Der Bundestag will das | |
> ändern. | |
Bild: Euthanasieopfer in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein | |
taz: Herr Grundl, Sie bringen am Donnerstag einen fraktionsübergreifenden | |
[1][Antrag zur Aufarbeitung von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation] in | |
den Bundestag ein. Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Antrag? | |
Erhard Grundl: Schätzungsweise 300.000 Menschen mit Behinderungen oder | |
psychischen Erkrankungen wurden während der NS-Zeit ermordet, 400.000 | |
wurden zwangssterilisiert. Dass diese explizit als NS-Opfergruppe benannt | |
werden, ist ein Versprechen des Koalitionsvertrags, das wir einlösen | |
wollen. Meinen persönlichen Impuls dazu hat mir eine Inschrift auf der | |
Gedenkstätte des heutigen Bezirksklinikums Mainkofen in Niederbayern | |
gegeben. Auf einer der Gedenktafeln stand, den Opfern sei zwar Mitgefühl | |
und Anerkennung entgegengebracht worden; [2][„eine Anerkennung als | |
Verfolgte des Nationalsozialismus blieb aber aus“]. Und das hat mich | |
angetrieben. | |
Was haben Sie vor? | |
Wir fordern von der Bundesregierung ein Projekt, um die Akten sowohl der | |
Patienten wie auch der Täter zu sichern und der Forschung zugänglich zu | |
machen. Außerdem soll es eine Fachtagung geben, die sich unter anderem mit | |
der Unterstützung Betroffener und der Verankerung der NS-„Euthanasie“ etwa | |
in der Bildung oder auch der medizinischen Ausbildung befasst. Und wir | |
fordern, dass die Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen | |
„T4“-Tötungsanstalten auch in Zukunft nachhaltig unterstützt werden. | |
Fast 80 Jahre sind seit dem Ende des Nationalsozialismus vergangen. Warum | |
kommen die Bemühungen so spät? | |
Das stimmt. Es ist eine Katastrophe, dass es so lange gedauert hat. | |
Gleichzeitig passt es leider gut in die Zeit, wenn ein [3][Björn Höcke | |
davon spricht, dass Menschen mit Behinderung nicht in die Regelschule gehen | |
sollen], weil sie andere beim Lernen aufhalten. Die von den Rechtsradikalen | |
im Bundestag befeuerte Debatte darüber, wer ein „nützliches“ Mitglied der | |
Gesellschaft sei, zeigt leider: Eine kontinuierliche Aufarbeitung braucht | |
es noch viele Jahre im Nachhinein. Erinnerungskultur ist nicht nur wichtig | |
als Erinnerung, sondern auch, um Mechanismen zu erkennen, die zu einem | |
totalitären Regime geführt haben. | |
Was sagen die Betroffenen selbst? | |
Überlebende – und da muss ich mich auf die Auskünfte aus den Gedenkstätten | |
berufen – gibt es nur noch eine Handvoll. Aber es geht auch darum, dass | |
deren Familien Gerechtigkeit erfahren. | |
Was wünschen sich Familien und Angehörige der Opfer? | |
Für die Familien ist das alles Entscheidende, dass ihre ermordeten | |
Angehörigen als [4][Opfergruppe des Nationalsozialismus anerkannt] werden. | |
Deshalb stand das auch für mich immer im Mittelpunkt. | |
Es gibt schon länger Kritik daran, dass eine Anerkennung der | |
„Euthanasie“-Opfer durch das Bundesentschädigungsgesetz bis heute | |
ausbleibt. Warum finden sich keine Reformvorschläge dazu in Ihrem Antrag? | |
Ich kann nur sagen, dass es mich sehr freut, dass die Union den Antrag mit | |
stellt. Bei Themen, die den Nationalsozialismus betreffen, ist es wichtig, | |
eine breite Unterstützung im Parlament zu finden. Wir wollten zwar, dass | |
Opfer im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt werden. Aber im | |
aktuellen Antrag ist das nicht geregelt, das stimmt. | |
Soll Erinnerungskultur, zum Beispiel die Gedenkstätten, auch finanziell | |
stärker gefördert werden? | |
Da formuliere ich jetzt einfach nur Erwartungen an das | |
Gedenkstätten-Konzept, das ja in dieser Wahlperiode noch kommen wird und | |
auch im Koalitionsvertrag steht. Zentraler Bestandteil davon werden die | |
Fragen nach zukünftiger Finanzierung sein. Unsere Erinnerungskultur ist | |
nicht nur wichtig als Erinnerung, sondern auch, um Mechanismen erkennen zu | |
können, die in der Geschichte bereits zu einem totalitären Regime geführt | |
haben. Auch angesichts der aktuellen Haushaltslage gilt: Ein | |
Gedenkstätten-Konzept für lau ist nicht machbar. Das ist ganz klar. | |
Soll sich der Antrag auch positiv auf die Lage von Menschen mit | |
Behinderungen und psychischen Erkrankungen heute auswirken? | |
Auf jeden Fall. Die Diskussion um „lebensunwertes Leben“ wird von | |
antidemokratischen Kräften heute wiederholt, wenn auch vielleicht subtiler. | |
Die [5][Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung] ist auch mit dem Ende | |
des Nationalsozialismus nicht vorbei. Das [6][treibt Menschen mit | |
Behinderung und ihre Initiativen auch heute um]. Deshalb ist es auch so | |
wichtig, dass wir die Forderungen des Antrags – etwa bei der Sicherung der | |
Akten – ausdrücklich in Zusammenarbeit mit Verbänden von Menschen mit | |
Behinderungen sowie Vertreterinnen und Vertretern der Disability Studies | |
vorantreiben. | |
27 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://dserver.bundestag.de/btd/20/119/2011945.pdf | |
[2] /Aufarbeitung-der-NS-Zeit/!5770954 | |
[3] /Debatte-um-Hoecke-Aussage/!5949598 | |
[4] /Sozialrassistisch-Verfolgte-in-NS-Zeit/!5996595 | |
[5] /Umgang-mit-Behinderung/!5988827 | |
[6] /Behindertenfeindliche-Uebergriffe/!6016147 | |
## AUTOREN | |
Sabrina Osmann | |
## TAGS | |
Euthanasie | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Ableismus | |
Menschen mit Behinderung | |
NS-Verfolgte | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Bundestag | |
Entschädigung | |
GNS | |
Leben mit Behinderung | |
Euthanasie | |
Grüne | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Behindertenfeindliche Übergriffe: Die alltägliche Gewalt | |
Die behindertenfeindlichen Angriffe von Mönchengladbach erinnern an ganz | |
dunkle Zeiten. Aber „Euthanasie“-Drohungen sind auch Teil der Geschichte | |
der BRD. | |
Rechter Angriff in Mönchengladbach: „Wie findet Herr Scholz das?“ | |
Ein Stein mit rechter Botschaft flog in Mönchengladbach auf das Zuhause von | |
Menschen mit Behinderung. Der Lebenshilfe-Leiter fordert mehr Solidarität. | |
Aufarbeitung der NS-Zeit: „Euthanasie“-Opfer anerkennen | |
Die Grünen stellen einen Antrag zur Anerkennung der Verbrechen während der | |
NS-Zeit. Beteiligten Ärzt:innen drohten kaum Konsequenzen. |