# taz.de -- Behindertenfeindliche Übergriffe: Die alltägliche Gewalt | |
> Die behindertenfeindlichen Angriffe von Mönchengladbach erinnern an ganz | |
> dunkle Zeiten. Aber „Euthanasie“-Drohungen sind auch Teil der Geschichte | |
> der BRD. | |
Bild: Eingeschlagene Tür der Lebenshilfe in Möchengladbach | |
Zuerst wird ein Ziegelstein in die Eingangstür der Geschäftsstelle der | |
[1][Lebenshilfe in Mönchengladbach] geworfen. Die implizierte Botschaft: | |
bedrohte Sicherheit. | |
Wenige Tage später fliegt ein weiterer Stein. Diesmal gegen die Hauswand | |
einer Wohnstätte von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen der lokalen | |
Lebenshilfe. Die Aufschrift auf dem Wurfgeschoss, „Euthanasie ist die | |
Lösung“, transportiert noch mehr: Der oder die Täter_innen rufen die | |
Verbrechen der Nazis auf. Naheliegenderweise sind sie selbst welche. | |
Die Message ist eine Morddrohung, gar eine Massenmorddrohung; sie soll | |
Verunsicherung, Angst und Schrecken unter den Menschen verbreiten, die | |
hinter der Hauswand zu Hause sind. Außerdem soll sie Signalwirkung an alle | |
Menschen mit vor allem kognitiven Beeinträchtigungen entfalten – und: an | |
Angehörige, an Freund_innen wie auch an die Mitarbeiter_innen sowie | |
Leiter_innen von Einrichtungen zum Wohnen oder Arbeiten. Es ist eine | |
massive Form verbaler, psychischer Gewalt. | |
Der Begriff der „Lösung“ verweist dabei zusammen mit den „Euthanasiemord… | |
nicht nur semantisch auf die „Endlösung der Judenfrage“ und damit auf den | |
über sechsmillionenfachen Mord an Jüd_innen. Aufgerufen wird damit auch | |
eine mit Exklusion verbundene und das Lebensrecht absprechende Konstruktion | |
von Menschen mit Beeinträchtigungen beziehungsweise chronischen | |
Erkrankungen als vermeintliches biopolitisches Problem und ökonomischer wie | |
sozialer Ballast. Nicht zuletzt sollen die beiden zerstörerischen Geschosse | |
eine vermeintliche Verzichtbarkeit dieser Einrichtungen versinnbildlichen. | |
Mindestens 300.000 Menschen mit Beeinträchtigungen und Erkrankungen wurden | |
im Zuge des [2][planmäßigen „Euthanasie“-Programms] zwischen 1939 und 1945 | |
in Europa insbesondere in den Gastötungsanstalten ermordet; für Osteuropa | |
liegen bislang lediglich Schätzungen vor. Vor 1939 starben in Deutschland | |
bereits seit Sommer 1933 mehrere Tausend Menschen an den Folgen von | |
Zwangssterilisierungen sowie erzwungenen Abtreibungen. In der „T4-Aktion“ | |
mordeten Nazis erstmals systematisch und massenhaft: 70.000 Menschen, die | |
in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten lebten. Das Mordprogramm gilt | |
nicht zuletzt aufgrund seines Testcharakters mit Giftgas als Vorstufe des | |
industriellen Massenmords an den europäischen Jüd_innen. | |
Ein Einzelfall sind die beiden Übergriffe auf die Lebenshilfe in | |
Mönchengladbach nicht, ebenso wenig sind sie neu. Denn Angriffe von | |
(mutmaßlich) extrem rechten Täter_innen gegen Menschen mit | |
Beeinträchtigungen hat es auch nach der Nazi-Herrschaft immer wieder | |
gegeben. Die 1990er und nuller Jahre waren ein bitterer Höhepunkt: kaum | |
thematisierte und bislang unerforschte Baseballschlägerjahre. | |
Ähnliches wie die beiden Angriffe in Mönchengladbach passierte damals in | |
Hameln und Bremen: Am 26. 10. 1992 berichtete der Weserkurier, dass ein | |
Mann in einem Wohnheim der Lebenshilfe in Hameln angerufen und dabei die | |
Ermordung der Bewohner_innen und Mitarbeiter_innen mit Giftgas | |
gefordert hatte. Wenige Wochen später war in der taz vom 5. 12. 1992 | |
nachzulesen, dass Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen und | |
Mitarbeitende einer Schule für Kinder mit Behinderungen in Bremen anonyme | |
Drohanrufe erhielten. Eine Mutter kritisierte, dass die Polizei zunächst | |
nicht einmal eine Anzeige aufnehmen wollte. Eltern organisierten | |
schließlich selbst Schutz vor der Schule. | |
Der Blick auf die Todesopfer rechter Gewalt zeigt, dass es nicht bei | |
Drohungen bleibt. Mindestens 15 Menschen sind seit 1990 beispielsweise im | |
Bundesland Sachsen-Anhalt von rechten und rassistisch motivierten Tätern | |
getötet worden, schreibt die dortige Mobile Opferberatung. Vier von ihnen | |
hatten eine kognitive Beeinträchtigung: Im Jahr 1999 wurden Jörg Danek in | |
Halle-Neustadt und Hans-Werner Gärtner im Saalekreis ermordet. Erst Jahre | |
später, 2012, wurden beide durch die Landesregierung offiziell als | |
Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. | |
Als Verdachtsfälle werden zudem die Tötung von Andreas Oertel in Naumburg | |
2003 und Hans-Joachim Sbrzesny in Dessau-Roßlau 2008 genannt. Wenn an diese | |
Todesopfer erinnert wird, dann bislang nur, weil dies zivilgesellschaftlich | |
organisiert wird. Das liegt auch daran, dass Behindertenfeindlichkeit als | |
Tatmotiv von Ermittlungsbehörden wie auch von Medien nur selten in Betracht | |
gezogen wird. | |
## Verteilungskämpfe verschärfen die Lage | |
Zudem sind die aktuellen Gewalttaten in Mönchengladbach als Teil des | |
Kampfes um sozialstaatliche Ressourcen zu verstehen. Dies gerade in einer | |
Zeit, in der beispielsweise Finanzminister Christian Lindner (FDP) ein | |
dreijähriges Moratorium für die Erhöhung von Sozialausgaben fordert. | |
Zumindest indirekt werden diese Ausgaben damit als eine Art Belastung des | |
Haushalts gerahmt, anstatt als selbstverständliche sozialstaatliche | |
Absicherung, ja, als politische Errungenschaft, die es aus- und nicht | |
abzubauen gilt. So verschärfen sich Konkurrenzen um Ressourcen, die zudem | |
als Teil struktureller Gewalt gegen Menschen mit verschiedenen Formen von | |
Beeinträchtigungen verstanden werden können. | |
Mit einer Diskursverschiebung nach rechts – seit mindestens einer Dekade | |
werden wieder Aussagen getätigt, die im öffentlichen Raum zwischenzeitlich | |
als nichtsagbar galten – fühlen sich Personen legitimiert oder ermuntert, | |
wie in Mönchengladbach Gewalt anzuwenden. Hört man Betroffenen zu, was | |
ihnen etwa auf der Straße widerfährt, kann man darauf schließen, dass | |
solche Morddrohungen für Menschen mit Beeinträchtigungen schon länger und | |
immer wieder Teil ihres Alltags sind. Die Bedrohung mit dem Tod meint | |
demokratisch gesehen uns alle. In Frage gestellt sind damit ein | |
[3][diskriminierungs- und gewaltfreies Leben], Freiheit, Gleichheit, | |
Gleichwertigkeit und soziale Gerechtigkeit. | |
## Dem Hass entgegenwirken | |
Die Lebenshilfe Mönchengladbach mobilisierte für den 6. Juni 2024 zu einer | |
Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ in der | |
Hauptkirche Rheydt und auf dem davorliegenden Marktplatz. Rund 1.000 | |
Menschen nahmen einem WDR 1-Bericht zufolge daran teil. Zu Jahresbeginn | |
hatten die Demonstrationen gegen rechts in der Stadt – je nach Angaben – | |
zwischen 5.000 und 7.000 Menschen zusammengebracht. Daher darf und muss die | |
Frage gestellt werden, weshalb es nunmehr so viele weniger gewesen sind. | |
Medial wurde über die Attacken kaum berichtet, insbesondere überregional. | |
Eine solche Ignoranzstarre gab es bereits nach den vierfachen Morden in | |
Potsdam oder, als in Sinzig im Ahrtal 12 Bewohner_innen in den Fluten | |
ertranken. So wird die Gesellschaft wohl eher vor sich selbst geschützt. | |
Minoritäten-Schutz, Stimmen hörbar machen und Empowerment sähen anders aus. | |
Die Attacken auf die Geschäftsstelle und ein Wohnprojekt der Lebenshilfe | |
und damit ihre 30 Bewohner_innen und Mitarbeiter_innen sind eingebettet in | |
strukturelle Gewalt gegen Menschen mit Beeinträchtigungen in dieser | |
Gesellschaft wie auch in Formen direkter, körperlicher, oftmals | |
sexualisierter Gewalt. Das Rechercheprojekt #AbleismusTötet der | |
Behinderten- und Menschenrechtsorganisation AbilityWatch beispielsweise | |
dokumentiert mit Stand Mai 2023 218 Betroffene in 43 Fällen von Gewalt „in | |
vollstationären Wohneinrichtungen für behinderte Menschen“ in der | |
Bundesrepublik. | |
Die Spitze des Eisbergs war die Ermordung von vier Menschen mit Behinderung | |
im Oberlinhaus in Potsdam (Brandenburg) durch eine Pflegehelferin am 28. | |
April 2021. Eine weitere Person wurde schwer verletzt. Danach wurden von | |
den Macher_innen von #AbleismusTötet sofortige und langfristige Maßnahmen | |
entwickelt. Eine davon zielt auf die gesetzliche Verankerung von Wohn- und | |
Gewaltpräventionskonzepten. Diese Forderung aufgreifend möchten wir | |
ergänzen: Das Thema möglicher Angriffe durch extreme Rechte (und zwar von | |
außen wie von innen durch etwaige rechtsextreme Mitarbeitende) sollte in | |
demokratischen Leitbildern und Schutzkonzepten systematisch mitgedacht | |
werden. | |
Gesellschaftlich scheint politische Bildung zu den Verbrechen an Menschen | |
mit Beeinträchtigungen während der Nazizeit und eine breite Debatte dazu | |
bitter nötig. Die Gedenkstätten der sechs früheren Mordanstalten leisten | |
hier viel, berichtet wird auch darüber sehr selten. Die Gedenkstätte | |
Hadamar ist bereits seit 2003 Vorreiterin in der Entwicklung von | |
historisch-politischen Bildungsangeboten auch mit und für Menschen mit | |
Lernschwierigkeiten. | |
Interviews wie auch die gedenkstättenpädagogische Reflexion dieser Arbeit | |
zeigen zum einen, dass sie sich – anders als oft bei Menschen ohne | |
Beeinträchtigung – empathisch zeigen mit den Opfern der Verbrechen. Zum | |
anderen, so schreibt es die Soziologin Uta George, „wird deutlich, wie die | |
Beschäftigung mit der Geschichte der [4][NS-„Euthanasie“-Verbrechen] zu | |
Empowerment führt: ganz offensichtlich wird die Auseinandersetzung mit | |
diesem Teil des Nationalsozialismus nicht als erneute Machtlosigkeit oder | |
Reviktimisierung erlebt“. | |
Die Gedenkstätte erhielt durch die beteiligten Menschen mit | |
Lernschwierigkeiten über diese Einsichten hinaus die Anregung für eine | |
Gedenkzeremonie für Besucher_innen und Einblicke in eine bislang unbekannte | |
Nutzung eines Ausstellungsobjekts vor Ort durch Betroffene, wie George | |
beschreibt: So entschieden sich Teilnehmer_innen mit Lernschwierigkeiten | |
für die Fotos, die sie von der im Jahr 2006 wieder aufgebauten Busgarage – | |
die 1941 Ankunftsort für die Opfer gewesen ist – für eine für die | |
Mitarbeitenden „verblüffende“ Perspektive: Während die Gedenkstätte stets | |
den Fokus auf das Äußere der Garage richtete, „wählten viele Teilnehmende | |
die Perspektive von innen, das heißt die Blickrichtung der Opfer bei der | |
Ankunft an diesem Ort“. Dieser Blickwinkel, so Uta George, lässt | |
„vermutlich auf eine hohe Empathie mit dem Schicksal der Opfer“ schließen. | |
Auch vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zudem partizipativ entwickelte | |
Konzepte für die politische Bildung zur extremen Rechten auch für Menschen | |
mit unterschiedlichen kognitiven Beeinträchtigungen zu fordern – und | |
ohnehin ein breites Angebot für Selbstbehauptung und Empowerment. | |
25 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Rechter-Angriff-in-Moenchengladbach/!6013997 | |
[2] /Aufarbeitung-der-NS-Zeit/!5770954 | |
[3] /Menschen-mit-Behinderung/!5997721 | |
[4] /Dunkles-Kapitel-in-Neuruppin/!5984559 | |
## AUTOREN | |
Christiane Leidinger | |
Heike Radvan | |
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