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# taz.de -- Jugendliche mit Behinderungen: Unterschätzt und nicht mitgedacht
> Politische Teilhabe von jungen Menschen ist ohnehin nicht einfach. Mit
> Behinderungen oder chronischen Krankheiten wird es für sie noch
> schwieriger.
Bild: Oft fühlen sich junge Menschen mit Behinderungen allein gelassen
Berlin taz | Hannah ist im Grundschulalter, als sie das erste Mal so
richtig mitbestimmen will. Auf ihrem Schulweg muss sie eine große Straße
kreuzen, das ist ihr zu gefährlich. Also schreibt sie einen Brief an den
Vorsteher des kleinen Allgäuer Ortes, in dem sie aufwächst, und fordert
eine Straßenunterführung. Diese war zwar schon vor Hannahs Brief geplant,
wurde aber lange nicht verwirklicht. Nun kommt sie tatsächlich, und Hannah
wird zur Eröffnung der neuen Wegführung eingeladen.
Diese Geschichte erzählt die heute 16-Jährige, wenn sie nach ihrem Wunsch
nach mehr Mitsprache gefragt wird. Teilhabe von jungen Menschen ist in
Deutschland ohnehin nicht immer einfach – doch Hannah gehört zu einer
Gruppe, deren Belange besonders selten mitgedacht werden. Die junge Frau
lebt aufgrund eines Hirntumors im Kindesalter mit einer chronischen
Krankheit.
Sie habe andere Erfahrungen und Bedürfnisse als viele Gleichaltrige,
erzählt Hannah. „Ich bin keine typische Jugendliche.“ Ihre Krankheit sehe
man ihr nicht direkt an. „Dadurch falle ich auch irgendwie immer durchs
Raster“, sagt sie. Hannahs voller Name, wie auch die der anderen jungen
Menschen in diesem Text, wird zum Schutz ihrer Privatsphäre nicht genannt.
Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene [1][mit Behinderungen] oder
chronischen Krankheiten sind die Möglichkeiten zur Beteiligung oft
schwierig, sei es in den mancherorts existierenden Kinder- und
Jugendparlamenten oder auf anderen Wegen. Zum einen sind Räume zum
Austausch oft nicht barrierearm zugänglich – baulich und kommunikativ. Zum
anderen werden sie oft nicht mitgedacht, wenn es um junge Menschen geht.
Dort, wo sich erwachsene Menschen mit Behinderungen organisieren, wie
beispielsweise in Selbstvertretungen, sind hingegen häufig die Perspektiven
der älteren Generationen dominant.
## Mit Betroffenen reden statt über sie
Dass das auch anders geht, dafür gibt es Beispiele. Im vergangenen Jahr
konnte Hannah gemeinsam mit anderen jungen Menschen bei einem Besuch im
Bundestag die inklusionspolitischen Sprecher:innen der SPD, der Grünen
und der Unionsfraktion treffen. Organisiert wurde der Austausch von der
Jungen Selbsthilfe des Kindernetzwerks, dem bundesweiten Dachverband der
Selbsthilfe von Familien mit Kindern und jungen Erwachsenen mit
Behinderungen und chronischen Krankheiten.
Ein solches Treffen könne durchaus Wirkkraft haben, glaubt Benita
Eisenhardt, Referentin für Projekte und Entwicklung beim Kindernetzwerk.
„Wenn junge Menschen Politikerinnen und Politikern ganz konkret erzählen
können, was sie fordern, erst dann realisieren diese, [2][welche Probleme
es überhaupt gibt]“, glaubt Eisenhardt. Beim Treffen im Bundestag forderten
die jungen Menschen unter anderem bessere Bildungsmöglichkeiten für
behinderte Kinder und Jugendliche und den Ausbau eines inklusiven
Arbeitsmarktes.
Auch Hannah konnte den Politiker:innen von ihrer Situation erzählen.
Sie besucht ein Gymnasium, setzt aber derzeit für ein Jahr aus, da die
langen Schultage für sie nicht zu bewältigen sind. Sie geht etwa zwei
Stunden pro Tag zum Unterricht, absolviert aber keine Prüfungen. Sie
fordert für Jugendliche mit seltenen Erkrankungen oder Behinderungen
Unterstützung, auch unabhängig vom Pflegegrad. „Nur weil ich selbst meine
Schuhe anziehen kann, brauche ich ja trotzdem Unterstützung“, stellt sie
klar. Außerdem wünscht sie sich die Möglichkeit, online zur Schule zu
gehen, in ihrem eigenen Tempo. Ihr Vorschlag: „Onlineschulen in jedem
Bundesland, die mit den Schulen vor Ort kooperieren, das wäre wichtig.“
„Ein grundsätzliches Problem in der Politik ist ja, dass immer über
Betroffene geredet wird, egal von welcher Betroffenheit wir in dem Fall
reden, ohne diese mit einzubeziehen“, sagt die 26-jährige Laura-Jane. Sie
koordiniert die etwa 60-köpfige „Grüne Bande“, war früher selbst dort
Mitglied. Das Jugendprojekt des Bundesverbands Kinderhospiz bringt seit
2017 junge Menschen mit einer chronischen oder lebensverkürzenden
Erkrankung zusammen. Auch Geschwisterkinder und andere enge Bezugspersonen
sind willkommen. Ihr Motto: „Wir haben was zu sagen“.
## Junge Menschen oft unterschätzt
Diejenigen, um die es geht, einbeziehen – genau das hat das
Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) zuletzt versucht. Es ging um eine
geplante Gesetzesänderung: Leistungen für Kinder und Jugendliche mit
Behinderung sollen künftig in die rechtliche Zuständigkeit der Kinder- und
Jugendhilfe fallen. Bisher sind sie gesondert bei den Leistungen für
Menschen mit Behinderungen geregelt. Das sei ein Problem, erklärt Benita
Eisenhardt vom Kindernetzwerk. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen
gerieten bei der Gesetzgebung oft aus dem Blick. „Besonders bei Bereichen
wie Gesundheit oder Pflege, die nicht originär einen Blick auf Kinder
haben, gehen ihre Interessen oft verloren.“
Im Beteiligungsverfahren „Gemeinsam zum Ziel“ lud das BMFSFJ neben Stimmen
aus der Forschung und der Fachöffentlichkeit auch sogenannte Expertinnen
und Experten in eigener Sache ein. Selbstvertretungen anzuhören, ist bei
geplanten Gesetzesänderungen nicht ungewöhnlich. Bei Themen, die Kinder und
Jugendliche betreffen, werden bisher aber vor allem erwachsene
Fürsprecher:innen befragt, zum Beispiel Kinderschutz- oder
Elternverbände.
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und chronischen Krankheiten hätten
sich so „erstmalig direkt bei einem Gesetzgebungsverfahren einbringen“
können, sagte eine Sprecherin des BMFSFJ der taz. Wo regelmäßig Fachleute,
die Wissenschaft und die Politik zu Wort kommen, da sei es nun unmittelbar
um die Perspektive betroffener junger Menschen gegangen. Ihre Forderungen
würden nun „in den weiteren Prozess einfließen“.
Auch das Kindernetzwerk organisierte für diesen Prozess sogenannte
Thinktanks. Mit bei diesen Onlinetreffen waren mehrere Vertreter*innen
der Grünen Bande, darunter die 21-jährige Marie. Junge Menschen würden
allgemein politisch unterschätzt, findet sie. „Das sieht man doch alleine
daran, dass man erst ab 18 wählen darf.“ Es gebe zahlreiche Vorschriften,
an die man sich halten müsse, aber mitreden könne man nur ganz selten.
Marie ist selbst vor Kurzem in eine Partei eingetreten und dort im
Jugendverband aktiv. Um welche Partei es sich handelt, verrät sie im
Gespräch nicht. Sie nutzt einen Rollstuhl und auch in der Parteiarbeit muss
sie sich viele Zugänge selbst mühsam erarbeiten. Das Parteibüro war
beispielsweise nicht barrierefrei, als sie im Jugendverband anfing, erzählt
sie. „Da war eine Stufe davor und man musste mich monatelang reintragen.“
## Viele weiterhin gänzlich von Teilhabe ausgeschlossen
Ein Parteifreund hätte dann selbst eine Rampe gebaut. „Jetzt planen sie
Treffen barrierefreier, aber eben erst seitdem ich da bin“, stellt sie
fest. Um mehr Bewusstsein für diese Bedarfe zu schaffen, müsste man viel
mehr Menschen mit Behinderungen in die Stadträte und allgemein in die
Politik holen, schlägt Marie vor.
Die 21-jährige Lilith aus München war sowohl bei den Thinktanks als auch im
Bundestag dabei. Sie kommuniziert mit einer sogenannten Buchstabentafel und
einer Assistenzperson und ist in mehreren jungen Selbsthilfegruppen aktiv.
Das könne sie aber nur, weil ihre Familie sie unterstützt, berichtet
Lilith. Viele, die wie sie unterstützt kommunizieren, aber in Heimen oder
Wohngruppen leben, hätten nicht die gleichen Möglichkeiten. „Die meisten
Menschen in meiner Lage verbringen ihr Leben in einer Förderstätte, ohne
die Möglichkeit, sich einzubringen oder für ihre Belange zu kämpfen“, sagt
die Münchnerin. Deswegen sei es wichtig, sich zu engagieren.
Der Beteiligungsprozess im Bundesfamilienministerium ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Davon sind auch die überzeugt, die daran teilgenommen
haben. Lilith etwa berichtet von einem sehr wertschätzenden Umgang. „Ich
wurde öfter um meine Meinung gefragt und konnte immer einen kleinen Beitrag
vorbereiten, den alle gerne angehört haben“, erzählt sie.
Ähnlich sehen es die Mitglieder der Grünen Bande, fordern aber noch mehr
solcher Mitsprachemöglichkeiten. Benita Eisenhardt vom Kindernetzwerk
betont, es gebe schon viele gute Strukturen der Selbsthilfe. Aber die
müssten auch von Anfang an miteinbezogen werden. Sie ist optimistisch, dass
sich die Mühe der jungen Menschen und Familien lohnt, die sich an den
Thinktanks beteiligt haben. „Man kann ja nicht die Leute zusammenbringen
und ihnen eine Stimme geben, und dann hinterher sagen: Das interessiert uns
jetzt doch nicht“, sagt sie.
Noch gebe es kein genaues Datum für den Referentenentwurf für das Gesetz
zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe, heißt derweil vom
Bundesfamilienministerium.
2 Sep 2024
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## AUTOREN
Anna Laura Müller
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Leben mit Behinderung
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