| # taz.de -- Pro und Contra: Dienen Werkstätten der Inklusion? | |
| > Ob Werkstätten zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung beitragen, ist | |
| > umstritten. Einerseits gibt es dort Freiheiten, andererseits niedrige | |
| > Löhne. | |
| Bild: Geschützter, aber auch ausgrenzender Ort: Werkstatt für Menschen mit Be… | |
| ## Ja, | |
| denn Werkstätten sind wichtig für viele dort Beschäftigte. Zum Beispiel für | |
| diesen Mann, den ich vor einigen Jahren in Kiel traf. Er strahlte so viel | |
| Fröhlichkeit aus, dass er die ganze Umgebung damit ansteckte, schon beim | |
| Anblick seines Rollstuhls, der mit bunten Stickern beklebt war. Er steuerte | |
| das schwere Gefährt mit dem Mund, sein Körper war spastisch gelähmt und | |
| kaum beweglich. Sprechen konnte er nicht, aber seine Mimik war | |
| ausdrucksstark. An seinem Job in der Werkstatt mochte er alles – die | |
| Kolleg:innen, die Tätigkeit selbst, das Geld, das er dort verdiente. | |
| Es gibt viel Kritik an solchen Einrichtungen, vor allem an zwei Punkten: | |
| Dass die Entlohnung niedrig ist und dass nur wenige Menschen den Sprung auf | |
| den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Beides stimmt, zu diesem Schluss kamen | |
| auch die Behindertenbeauftragten der Länder und des Bundes in ihrer | |
| „Erfurter Erklärung“ von 2022: Der Auftrag der Werkstätten, Menschen für | |
| den ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren, müsse „bei einer Übertrittsquote | |
| von unter einem Prozent als weitestgehend gescheitert“ angesehen werden. | |
| Aber in derselben Erklärung heißt es auch: „Für viele dort Arbeitende | |
| bedeuten die Werkstätten Orte der Wertschätzung und Gemeinschaft sowie der | |
| Teilhabe am Arbeitsleben.“ | |
| [1][Menschen mit Behinderung] haben dieselben Rechte wie alle anderen, so | |
| steht es in der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 auch in der | |
| Bundesrepublik gilt. Aber dort steht genauso, dass diejenigen, die | |
| intensivere Unterstützung benötigen, gefördert und geschützt werden sollen. | |
| „Mit den Schwächsten beginnen“, nannte das der 2022 verstorbene Psychiater | |
| und Sozialreformer Klaus Dörner. Dörner ist eigentlich der Letzte, der als | |
| Befürworter der Werkstätten infrage kommt, denn er setzte sich für die | |
| „heimlose Gesellschaft“ ein, wollte psychisch Kranke, Alte und | |
| Pflegebedürftige aus Sondersystemen herausholen. | |
| Aber er beschrieb auch das „Grundbedürfnis, Bedeutung für Andere zu haben, | |
| gebraucht zu werden. Um Gottes Willen nicht zu viel davon! Aber auch nicht | |
| zu wenig.“ Eine Antwort auf dieses Bedürfnis sei Arbeit, glaubte Dörner. | |
| Und diese Arbeit kann nicht nur auf dem ersten Arbeitsmarkt stattfinden, | |
| weil der Hürden hat, die nicht jeder bewältigen kann. Sich krankmelden, | |
| wenn es einem nicht gut geht – für psychisch Kranke ist das ein Horror. | |
| Unter Zeitdruck etwas schaffen zu müssen – auf keinen Fall. Eine | |
| festgelegte Stundenzahl am Tag arbeiten – bitte nicht. | |
| Es ist ein Missverständnis, dass [2][Inklusion] bedeutet, Menschen | |
| hinzubiegen, damit sie in den kapitalistischen Arbeitsmarkt passen. Echte | |
| Inklusion meint das Eingeständnis, dass es keine normale Norm und | |
| behinderte Nichtnorm gibt, sondern dass wir alle manches können und vieles | |
| nicht: Ich zum Beispiel kann schreiben, aber habe Inklusionsbedarf bei | |
| IT-Fragen. | |
| In einer perfekten Welt wären alle Arbeitsplätze so individuell wie die | |
| Menschen, die sie besetzen. Da wir aber in einer unperfekten Welt leben, | |
| braucht es einerseits Schutzräume wie die Werkstätten. Und andererseits | |
| braucht es mehr Unternehmen, die sich trauen, diejenigen Menschen mit | |
| Behinderung zu beschäftigen, die das wollen und können. Dafür stehen mit | |
| Instrumenten wie dem Budget für Arbeit oder der Arbeitsassistenz bereits | |
| viele Tore offen – sie müssen nur durchschritten werden. Oder mit dem Rolli | |
| durchfahren. Esther Geißlinger | |
| Nein, | |
| denn Werkstätten verbessern nicht die gesellschaftliche Teilhabe von | |
| Menschen mit Behinderungen, sondern verlagern sie in ein Parallelsystem, | |
| das sie abschottet. Werkstätten sind heute ein Niedriglohnsektor, der vom | |
| ersten Arbeitsmarkt völlig abgekoppelt ist und mit ausländischen | |
| Unternehmen um die billigsten Dienstleistungen konkurriert. | |
| Ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben bleibt so für viele eine | |
| Illusion. Immer wieder protestieren Betroffene mit Kampagnen wie | |
| #ihrbeutetunsaus oder #stelltunsein gegen ihre schlechten Chancen auf dem | |
| Arbeitsmarkt und ihre Arbeitsbedingungen. In Hamburg gingen | |
| Werkstattbeschäftigte auf die Straße, um für einen besseren Lohn zu | |
| demonstrieren – derzeit liegt er bei durchschnittlich nur 1,30 Euro pro | |
| Stunde. | |
| Denn Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderung haben per | |
| Gesetz nur einen „arbeitnehmerähnlichen“ Status. Damit genießen sie zwar | |
| den weitestgehenden Kündigungsschutz und müssen dem Arbeitgeber gegenüber | |
| keine bestimmte Leistung erbringen. Zugleich haben sie aber weder das | |
| Recht, einen Betriebsrat zu gründen noch ein Streikrecht – also keine | |
| rechtliche Grundlage, um ihre Arbeitsbedingungen zu kritisieren. Und eben | |
| auch keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. | |
| Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 hat | |
| sich Deutschland jedoch verpflichtet, Menschen mit [3][Behinderung] gleiche | |
| Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu bieten. Daher müssen Unternehmen mit | |
| mindestens 20 Arbeitsplätzen mindestens fünf Prozent ihrer Stellen mit | |
| schwerbehinderten Menschen besetzen. Wer dieser Pflicht nicht nachkommt, | |
| muss eine gestaffelte Ausgleichsabgabe zahlen. Aber auch die | |
| Ausgleichsabgabe kann umgangen werden: Wenn Unternehmen Werkstätten mit | |
| Dienstleistungen beauftragen, können sie die Hälfte ihrer Aufwendungen mit | |
| der Ausgleichsabgabe verrechnen und die Dienstleistung mit dem ermäßigten | |
| Umsatzsteuersatz von sieben Prozent versteuern. | |
| Der Anreiz, Menschen mit Behinderung einzustellen, ist für die meisten | |
| Unternehmen aufgrund der damit verbundenen Umstände gering. Für manche ist | |
| es vielleicht auch ein Anreiz, Dienstleistungen kostengünstig auszulagern | |
| und sich am Ende mit Begriffen wie „inklusiv“ oder „sozial produziert“ … | |
| schmücken. Das klingt eher nach Ausbeutung und nicht nach Inklusion. | |
| Auch die Werkstätten haben kaum Anreize, ihre Beschäftigten in den ersten | |
| Arbeitsmarkt zu vermitteln, da sie selbst wirtschaftlich handeln. Bislang | |
| erhalten nicht einmal ein Prozent der 320.000 Beschäftigten mit | |
| [4][Behinderung] eine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. | |
| Zugleich steigt die Zahl der Menschen, die in Werkstätten vermittelt | |
| werden, kontinuierlich an, denn viele von ihnen werden schon in der | |
| Sonderschule entmutigt, einen Berufsweg außerhalb der Werkstatt | |
| einzuschlagen. Ihnen wird vermittelt, dass sie in den Einrichtungen der | |
| Träger besser aufgehoben sind. Wenn sie Ausbildungsangebote wahrnehmen oder | |
| an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen wollen, werden sie oft abgewiesen. | |
| Während Werkstätten für manche Menschen einen wichtigen Schutzort bieten, | |
| behindern sie einen noch viel größeren Teil dabei, sich zu entfalten und | |
| selbstbestimmt zu leben. Daher braucht es mehr staatliches Engagement für | |
| das Ziel, inklusive Strukturen zu etablieren, die die Teilhabe am | |
| gesellschaftlichen Leben tatsächlich ermöglicht. Sarah Lasyan | |
| 9 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
| Sarah Lasyan | |
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