# taz.de -- Geschichte von Menschen mit Behinderung: So löst man eine Anstalt … | |
> Bis in die 1970er wurden in den Alsterdorfer Anstalten Menschen mit | |
> Behinderung gequält. Eine neue Homepage berichtet von der Aufarbeitung. | |
Bild: Die Alsterdorfer Anstalten haben sich seit den 1970ern grundlegend verän… | |
HAMBURG taz | 1978/79 sind Schicksalsjahre für die seit 1863 bestehenden | |
[1][Alsterdorfer Anstalten]. Schon länger gärt es unter manchen | |
Mitarbeitenden: Die altehrwürdige Anstalt für Menschen mit Behinderung, | |
ummauert im Hamburger Stadtteil Alsterdorf gelegen, muss sie nicht | |
grundlegend reformiert werden? | |
Im Herbst 1978 dann beginnt der heutige Intendant des Kieler | |
Schauspielhauses, Daniel Karasek, in Alsterdorf seinen Zivildienst. Er ist | |
zutiefst schockiert über die Zustände, die er vorfindet: [2][Bewohner | |
werden tagsüber fixiert], dann sich selbst überlassen. Beruhigungsmittel | |
werden verabreicht, oft ist das Pflegepersonal nicht ausgebildet. | |
Das alles kann nicht in Ordnung sein! Karasek nutzt seine Kontakte in die | |
Hamburger Medienwelt, nimmt die Journalistin Katharina Zimmer mit auf seine | |
Dienststelle. Im [3][Zeit-Magazin bietet sie 1979 mit „Die Gesellschaft der | |
harten Herzen“] eine schonungslose Reportage aus dem Inneren der Anstalt, | |
die für bundesweites Aufsehen erregt. | |
Die Aktion gibt den internen KritikerInnen und ReformerInnen die dringend | |
notwendige Aufmerksamkeit, sie bringt die aufsichtsführenden Behörden in | |
Erklärungsnöte, sie kostet auch Karasek seinen Job, aber am Ende wird die | |
Welt in Alsterdorf eine andere werden: Aus der Anstalt wird eine Stiftung. | |
Statt in Wohn-Sälen verwahrt zu werden, ziehen die BewohnerInnen nach und | |
nach in eigene Wohnungen. Aus Verwahrung wird Assistenz, und die Mauer, die | |
das Areal vom Leben in der Stadt buchstäblich trennt, fällt. | |
## Geschichte der Alsterdorfer Anstalten | |
Erzählt wird die Vorgeschichte zum Weg dorthin faktenreich und kundig in | |
dem Buch „Mitten in Hamburg – Die Alsterdorfer Anstalten 1945–1979“ der | |
Kulturwissenschaftlerinnen Gerda Engelbracht und Andrea Hauser, so wie | |
Jahre zuvor mit dem Buch „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten | |
mehr“ von Michael Wunder, Ingrid Genkel und dem Alsterdorf-Archivar Harald | |
Jenner die lange verschwiegene Geschichte der Institution während der | |
NS-Jahre offengelegt worden war. | |
„Wir hatten also schon Bücher“, sagt Hanne Stiefvater, die als Vorständin | |
der Stiftung zehn Jahre lang die Geschicke der Institution prägte. Als 2023 | |
das 150. Jubiläum ansteht, dazu eine wissenschaftlich-fundierte | |
Gesamtgeschichte in Buchform auf den Weg gebracht wird, kommt sie ins | |
Nachdenken: „Ich wollte so gerne parallel die letzten 40 Jahre und | |
besonders die Entwicklung der Behindertenhilfe in dieser Zeit in den Fokus | |
nehmen“, erzählt sie. | |
Auch, weil immer wieder BesucherInnen aus dem In- wie Ausland fragen: Wie | |
schafft man es, eine Anstalt aufzulösen? Zudem soll erklärt werden, warum | |
Stiefvater und ihr Team so hartnäckig um das Thema Inklusion und Teilhabe | |
kämpfen. Also noch ein weiteres, spezielles und viertes Buch? | |
Stattdessen ist nun die Homepage [4][www.chronik-alsterdorf.de] | |
freigeschaltet, konzipiert von Hanne Stiefvater und dem langjährigen | |
Geschäftsführer von ‚alsterarbeit‘, Reinhard Schulz. Sie befasst sich mit | |
dem Jahren zwischen 1980 und 2019. | |
## Prinzip der Chronik | |
Dabei folgt man dem Prinzip der Chronik: Vom Jahr 1980 an geht es dem | |
Zeitstrahl entlang bis in den Dezember 2019. Kurze Einführungen und | |
Zusammenfassungen bringen einen auf Stand; Videos mit Interviews sind | |
eingebettet, auf Zeitzeugenberichte, Bebauungspläne, aber auch auf | |
Überlastungsanzeigen wird verlinkt. | |
Man erfährt von Rücktritten, von Offenen Briefen, von Budgetierungen für | |
die Wohngruppen, vom Streit um die Höhe der Vorstandsgehälter. Die | |
Geschichte des erfolgreichen Bandprojektes „Station 17“ lässt sich ebenso | |
verfolgen wie der Weg der Malergruppe „Die Schlumper“, die im Hamburger | |
Karolinenviertel heute eine eigene Galerie führt. Unvorstellbar war das | |
1979. | |
Es lässt sich aber vor allem mittels vieler Klicks der nicht immer | |
konfliktarme Weg durch das Innere der Institution begleiten. Anweisungen | |
zur Aktenführung sind zu lesen, Heimbeiräte werden installiert, | |
Beschäftigungsträger entwickeln sich, es wird gebaut und eingeweiht. | |
Manches wird groß, anderes verschwindet wieder. | |
Auch die Sprache wandelt sich: 1996 ist kurz vom Care- und Casemanagement | |
die Rede. Taucht man ein in das Netz aus Informationen und Dokumenten, wird | |
deutlich, dass zwei Momente ineinandergreifen: die politisch hart | |
umkämpften und dann durchgesetzten Entscheidungen, Grundsätzliches zu | |
ändern – und schließlich die alltägliche Kleinarbeit, die es von | |
Montagmorgen bis Sonntagabend braucht, um die Veränderungen umzusetzen und | |
selbstverständlich werden zu lassen. | |
Und weil über die Jahrzehnte so viele an diesen Prozessen beteiligt waren, | |
die heute längst im Ruhestand sind, will man auch deren Erfahrungswissen | |
anzapfen: „Die Hoffnung ist, dass mancher sich meldet und sagt: 'Oh, ich | |
habe auch noch Unterlagen, wollt ihr die nicht noch dazunehmen?“ Ein | |
Work-in-Progress also ist die Seite, ergänzbar, ausbaufähig. Auch ein | |
Vorteil gegenüber dem gedruckten Buch. | |
Hanne Stiefvater möchte das Web-Projekt dabei über Alsterdorf hinaus auch | |
in einem allgemeineren Kontext sehen: „Wir alle wissen – Stichwort | |
[5][Klimawandel] – dass wir als Gesellschaft nicht so weitermachen können. | |
## Alsterdorfer Anstalten grundlegend verändert | |
Doch wie gelingt eine so umfassende Transformation, wie sie uns | |
bevorsteht?“ Mit Blick auf die manchmal nicht für möglich gehaltenen | |
Veränderungen, die sie in Alsterdorf erleben konnte, schaut sie durchaus | |
gefasst in die Zukunft: „Wenn eine grundlegende Veränderung ansteht, sind | |
25 Prozent der Menschen dafür, 25 Prozent dagegen und in der Mitte findet | |
sich die große, stille Mehrheit, die man Schritt für Schritt gewinnen | |
muss.“ | |
Und ganz nebenbei gibt es auch eine persönliche Ebene: Seit Beginn dieses | |
Jahres ist sie im Ruhestand. Und sie sagt: „Von daher ist diese Homepage | |
auch eine Art Abschiedsgeschenk. | |
27 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Erzieher-ueber-Reform-in-Behindertenhilfe/!5502655 | |
[2] /Misshandlungen-behinderter-Kinder/!5409346 | |
[3] https://www.zeit.de/1979/17/die-gesellschaft-der-harten-herzen | |
[4] https://www.chronik-alsterdorf.de/ | |
[5] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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