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# taz.de -- Kurzfilmfestival Hamburg: Sozialgeschichte aus erster Hand
> Umgang mit Menschen mit Behinderung und Gentrifizierungs-Protest: Beim
> Kurzfilmfestival Hamburg geht es um Aussonderung und Widerstand in der
> Stadt.
Bild: Der eigentliche Schrecken ist nicht zu sehen: Biese Bilder entstammen dem…
Wie reagiert man, wenn man erfährt, dass einer der eigenen Vorfahren genau
die Art von Menschen töten wollte, um die man selbst sich 45 Jahre seines
Lebens lang liebevoll gekümmert hat? Passiert ist das Andreas Grützner, der
als 60-Jähriger erfuhr, dass Gerhard Wagner sein Urgroßonkel war, ein
Bruder seines Urgroßvaters – „Reichsärzteführer“ Gerhard Wagner, der s…
im „Dritten Reich“ wie kein anderer für [1][„Euthanasie“] und
Zwangssterilisation einsetzte.
Grützner selbst hat sich für die Menschen in Heil- und Pflegeanstalten
eingesetzt, seit er 1979, als 17-Jähriger, in den damals noch so heißenden
[2][„Alsterdorfer Anstalten“] in Hamburg zu arbeiten begann: einem
vormaligen nationalsozialistischen Musterbetrieb, der mindestens 600
Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen in die
NS-Tötungsanstalten deportierte. Mit „Eigentlich wollte ich nicht lange
bleiben“ hat Grützner aus diesem Aspekt seiner Biografie einen kurzen
Dokumentarfilm gedreht. Der wird das erste Mal gezeigt im Deutschen
Wettbewerb des 41. Kurzfilmfestivals Hamburg, das am 3. Juni eröffnet wird
(Mittwoch, 14 Uhr, Zeise-Kino 2).
Wurde ihm unbewusst eine „tiefe familiäre Schuld anerzogen?“ Weiter als bis
zu diesem eher hilflosen Erklärungsansatz ist Grützner mit der Analyse
seiner Generationsgeschichte nicht gekommen – aber als Filmemacher weiß er,
dass im Kino die Fragen immer interessanter sind als die Antworten.
Grützner arbeitet heute als Sozialpädagoge, hat sich aber auch als
Regisseur von Dokumentarfilmen über soziale Fragen einen Namen gemacht. Er
hat zudem das erklärt inklusive und diverse Hamburger [3][Kurzfilmfestival
„Klappe auf!“] gegründet.
In „Eigentlich wollte ich nicht lange bleiben“ montiert er eigene Aufnahmen
mit Archiv- und anderem existierenden Material und zeichnet so ein freies
Doppelporträt seiner selbst und seines Urgroßonkels. Den Nazi-Funktionär
stellt er mithilfe kurzer Ausschnitte aus damaligen Propagandafilmen vor:
Der Wochenschaubericht von Wagners pompöser Trauerfeier im Jahr 1939 wirkt
heute vielleicht eher lächerlich, aber ein ebenfalls berücksichtigter
„Lehrfilm“ mit ideologischer Rechtfertigung der „Euthanasie“, also der
planmäßigen Ermordung „unwerten“ Lebens schockiert durch seine
menschenverachtende Terminologie und die Häme, mit der er kranke Menschen
vorführt.
Grützner macht als Erzähler auf der Tonspur seine subjektive Perspektive
deutlich. Vor allem aber stellt er Menschen vor, mit denen er in
Wohnprojekten gelebt hat oder in der von ihm mitgegründeten [4][inklusiven
Band „Station 17“] Musik gemacht hat. So zum Beispiel Günther, der
Marschmusik und Uniformen liebt. Oder Helga, die gerne in Cafés geht, aber
nie Geld dabei hat. Und Olaf, der nicht sprechen kann, bei einem Konzert
dann aber so laut in ein Mikrophon schrie, dass er vielleicht zum ersten
Mal überhaupt seine eigene Stimme hören konnte.
Grützner stellt also Menschen vor, die Gerhard Wagner vernichten wollte. Er
zeigt sie lebendig, ja: in Momenten des Glücks. Indem er auch von den heute
kaum noch vorstellbaren Zuständen in den „Anstalten“ erzählt, ist sein Fi…
aber auch ein Dokument Hamburger Sozialgeschichte – und hätte gut in die
Festivalsektion „HH – Soziale Stadt“ gepasst.
Die versammelt in diesem Jahr vor allem Archivalien über den meist
vergeblichen Kampf um ein soziales Wohnen. Dieser Stadtaktivismus war und
ist in Hamburg auch künstlerisch geprägt, und so zeigt Kurator Florian Wüst
im Programmpunkt „Hamburger Positionen“ zwei Programme mit Kurzfilmen gegen
die Boomtown-Strategien der Stadtentwicklung. „Wohnste sozial …“ ist zu
sehen am 4. Juni, 19 Uhr, im Festival-Center sowie am 7. Juni, 21.30 Uhr,
im 3001-Kino; „ … haste die Qual“ läuft am 5. Juni, 19 Uhr, im Lichtmess
sowie am 6. Juni, 18.30 Uhr, im Festival-Center.
Auf dem Programm steht da etwa der „Thedebadfilm“ (1985), in dem die
Filmemacher*innen der [5][Filmkooperative „Die Thede“] vom Kampf gegen
den Abriss einer schönen alten Badeanstalt erzählen – und sich selbst als
Teil dieser Kampagne verstanden. Ebenfalls 1985 entstand [6][das sieben
Minuten lange Video „Mottenburg“], hergestellt vom Medienpädagogik Zentrum
Hamburg. Es dokumentiert die kurzzeitige Besetzung eines Betriebsgeländes
in Hamburg-Ottensen, und zwar konsequent aus der Perspektive der jungen
Aktivist*innen: Die wehrten sich unter anderem mit Punkkonzerten gegen die
Gentrifizierung des damals so genannten „Abbruchstadtteils“, heute eine
sehr begehrte, alternativ angehauchte Wohnlage.
Mit Musik versuchten Aktivist*innen auch 2013 den Abriss der
[7][Esso-Häuser] nahe der Reeperbahn im Stadtteil St. Pauli zu verhindern.
Eine Initiative unter dem schönen Namen „The Good, The Bad And The Ugly“
produzierte auch ein Musikvideo für den Song „Echohäuser“, das in schön
dreckigem Schwarz-Weiß den Protest umso cooler erschienen ließ.
3 Jun 2025
## LINKS
[1] /Euthanasie/!t5010021
[2] /Geschichte-von-Menschen-mit-Behinderung/!6003145
[3] https://klappe-auf.com/
[4] /Inklusives-Bandprojekt-Station-17/!5565635
[5] https://www.diethede.de/5-0-Ueber-uns.html
[6] https://festival.shortfilm.com/de/films/30585
[7] /Esso-Haeuser/!t5012905
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Kurzfilm
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Gentrifizierung
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Euthanasie
Menschen mit Behinderung
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