# taz.de -- In der Anstalt: „Mein Leben ist nicht die Hälfte wert“ | |
> Werner Boyens kam als Baby in die Alsterdorfer Anstalten, weil seine | |
> Mutter ihn nicht haben wollte. Erst Anfang der 80er Jahre gelang ihm die | |
> Flucht. | |
Bild: Seit seiner Flucht lebt Werner Boyens selbstständig in Hamburg | |
Nachts im Bett oder wenn man so still sitzt oder Musik hört, dann läuft es | |
hier oben wie ein Film ab. Meine Jugendzeit, das Leben, die Menschheit, das | |
ist für mich dann auf Hochdeutsch gesagt scheiße. | |
Ich war ein halbes Jahr alt, als ich nach Alsterdorf gekommen bin, das war | |
1947. Ich bin unehelich geboren, ich habe einen älteren Bruder, der auch | |
unehelich geboren ist. Das habe ich recherchiert, ich habe die Papiere im | |
Wohnzimmerschrank gefunden. Die wollten mich nicht haben. Der neue Mann | |
meiner Mutter hat gesagt: „Das, was du unter der Brust trägst, muss weg, | |
egal wie.“ Meine Mutter hat sich vor die Straßenbahn geschmissen, sie | |
wollte, dass ich abgehe. Aber ich bin leider nicht totgegangen, ich bin zur | |
Welt gekommen, und dann bin ich gleich von meiner Mutter weggekommen, sie | |
hat mich gar nicht berührt. | |
Erst bin ich ein halbes Jahr auf die Säuglingsabteilung gekommen und dann | |
nach Alsterdorf in das Haus Fichtenheim. Das ist eine Holzbaracke gewesen, | |
wir haben später KKST dazu gesagt, also Kinderkrankenstation. Da lagen | |
zwischen 15 und 20 Leute in einem Raum. Abends wurden wir am Fuß am Bett | |
angekettet, damit wir nachts nicht rausgingen. Es wurde nur einmal in der | |
Woche gebadet und wenn man sich nass gemacht hat – wenn man noch klein ist, | |
macht man sich ja auch nass – dann wurde man nur ein bisschen mit einem | |
nassen Lappen abgewischt. Ich war dort ein paar Jahre und dann ging es auch | |
los. Wissen Sie, was das heißt? Wir sind geschlagen worden. | |
## Würmer im Eintopf | |
Es gab ein Scheißessen. Wir haben morgens und mittags drei Scheiben Brot | |
bekommen, wenn ich es drückte, kam da das Wasser raus. Deswegen haben wir | |
Kinder es viel mit dem Magen gehabt. Montags gab es Kohlsuppe, Eintopf, da | |
konnte man mit der Hand reingreifen, da hing es wie eine Traube dran. Wir | |
hatten Blechteller, ich habe mit dem Löffel drin rumgewühlt und was habe | |
ich in dem Kohl gefunden – so lang und so dick wie der Finger – Kohlwürmer | |
mit rotbraunen Köpfen. Wir konnten ja nichts sagen. | |
Wir wurden nicht mit Namen genannt, wir haben alle eine Kleidernummer | |
gehabt. Ich hatte die Nummer 967, wenn jemand zum Beispiel die Nummer 71 | |
hatte, dann kam der Pfleger oder die Schwester: „71, komm’ mal her, du hast | |
Scheiße gebaut“, und dann ging es ab. Wir haben die Suppe gegessen und dann | |
wieder ausgebrochen, weil ich die Würmer gesehen hatte, und dann kam die | |
Schwester, setzte sich neben mich hin und hat das Gebrochene wieder in mich | |
reingeschaufelt. | |
Nach dem Fichtenheim war ich im Haus Alstertal, vielleicht knapp zwei | |
Jahre, da waren Jugendliche und Schulkinder. Angeblich war ich Epileptiker, | |
dabei hatte ich gar keine Anfälle, und bekam jahrelang eine kleine Pille, | |
die hieß Zentropil, da war ich vielleicht sieben, acht Jahre alt. | |
Später ist noch etwas ganz Hartes passiert: Ich bin sterilisiert. Ich | |
wusste das lange nicht, ich habe es erst rausgekriegt, nachdem ich | |
abgehauen war, verheiratet und ein Kind kriegen wollte. Es passierte nichts | |
und da bin ich zum Urologen gegangen. Da stellte sich die Sterilisation | |
raus. | |
In Alsterdorf war eine große Mauer, Männlein und Weiblein getrennt, aber | |
ich war doch mit jemandem zusammengekommen, mit 17, 18 Jahren und dann | |
wurde ich geschnappt. Ich wurde genommen, Hände auf den Rücken, und es ging | |
zum „Guten Hirten“. Jedes Haus hatte seinen Namen, das war die weibliche | |
geschlossene Abteilung und bei dem Arzt, Doktor Borg, musste ich die Hose | |
runterziehen, er hat die Eichel mit Jod eingerieben, dann konnte ich wieder | |
gehen. Das hat mehrere Tage wie Feuer gebrannt. | |
Sie dürfen nicht vergessen: Bis in die 80er-Jahre herrschte in Alsterdorf | |
teilweise die Nazizeit, die ganzen Oberpfleger und Ärzte waren alle Nazis, | |
die haben das bestimmt: die Misshandlung, die Sterilisation. Es war ein | |
ganz kleiner Prozentsatz von Leuten, mit denen man richtig reden konnte, | |
ansonsten war das alles scheiße. Wir lagen in Hanneshöh ja in einem Raum, | |
mit 45 Mann in einem Zimmer, dreifach gestockte Betten. Da waren oben die | |
Trockner, in der Mitte die Halbnässer und unten die schweren Bettnässer. | |
Die Toiletten waren abgeschlossen, wir durften nachts nicht aufs Klo. Ich | |
habe auch einmal nass gemacht, da musste ich auf einem Spreusack, danach | |
habe ich mich wieder nass gemacht. Da musste ich morgens den Spreusack | |
schütten, die Spreu in einen sauberen Sack hinein und dann in den | |
angepinkelten Spreusack einsteigen und damit im Hof Sackhüpfen machen, | |
solange bis er trocken war. Gebadet wurde ich nicht. | |
Morgens mussten alle Kinder an der Linie stehen und wenn da ein Zeh ein | |
Zentimeter drüber war, ist der Hausleiter mit seinem Fuß daraufgetreten. | |
Bei mir war dann das Band auf der rechten Seite gebrochen und ich war | |
etliche Wochen im Krankenhaus. | |
## Folter mit der „Packung“ | |
Schlimm war auch die Packung. Da musste ich mich hinstellen und wurde mit | |
Bettlaken und Deckenbezügen eingepackt, dann konnte ich mich nicht mehr | |
bewegen, wurde gekippt, mit vier Mann gehalten, und in eine große | |
weiß-gelbliche Porzellanwanne gelegt. Da blieb ich 20 Minuten drin, dann | |
wurde ich rausgeholt und auf ein Bett gepackt. Feste Nahrung habe ich nicht | |
gekriegt, nur Flüssignahrung, weil ich ja nur gelegen habe. Wenn ich | |
pinkeln musste, musste ich schreien, dann kam ein anderer Pflegebefohlener | |
und hat die Ente, eine Plastikflasche, dran gehalten. In der Packung blieb | |
ich 14 Tage, bis das trocken war, dann wurde ich hochgestellt, ich konnte | |
mich nicht mehr selbst halten, die Muskeln waren zurückgegangen. Dann wurde | |
ich abgewickelt, das hat gebrannt wie Feuer, überall hatte ich rote | |
Striemen und es hat geblutet. | |
Die anderen haben mich nicht ordentlich gehalten und ich bin | |
zusammengebrochen. Dann wurde ich mit dem Schlauch abgespritzt, wurde auf | |
eine Krankenbahre gelegt, es ging ab zum Krankenhaus und da wurde ich erst | |
einmal hochgepäppelt. | |
Aber bevor ich die Packung bekommen habe, habe ich eine Beruhigungsspritze | |
bekommen. Warum? Weil ich ein Kämpfer war. Ich habe einige Pfleger auch ins | |
Krankenhaus gebracht, also geschlagen. Also bekam ich eine Spritze, die | |
haben wir „Zöglinge Paral“ genannt, weil sie so gestunken hat wie das | |
Reinigungsmittel. Da war man innerhalb einer Minute weg und hat geschlafen. | |
Dann haben die Angestellten in der geschlossenen Abteilung ihre Ruhe | |
gehabt. Ich habe die Packung und die Spritze nicht nur einmal gekriegt, das | |
war mindestens 15- bis 20-mal. Das war die Strafe, wenn ich einen Pfleger | |
zusammengeschlagen habe. | |
Ich habe mich nur gewehrt. Die haben uns gequält, überall gekniffen, wenn | |
wir nur vorbeigegangen sind, das musste ich mir nicht gefallen lassen. Da | |
hab’ ich ein bisschen ausgelangt. Ich habe zu einem von ihnen gesagt: „Wenn | |
du das noch mal machst, dann bist du erledigt, dann bist du erst mal ein | |
halbes Jahr im Krankenhaus, dann musst du mit dem Rollstuhl gefahren | |
werden, das kann ich dir nur flüstern.“ Da war ich 17, 18 Jahre alt. | |
Die schlimmste Zeit war für mich die Packung und dann die in Karlsruh, in | |
einer Abteilung mit zu 100 Prozent geistig Behinderten, die nur ins Bett | |
geschissen und sogar ihre Scheiße gefressen haben. Da wurde ich nach der | |
Packung, als ich wieder fit war, für sechs Wochen hingeschickt. Ich sollte | |
sie morgens saubermachen. Da lag ich nachts zwischen den ganzen | |
Hosenkackern. 30 Mann, was glauben Sie, was das für ein Geruch war. Wenn | |
wir am Wochenende weg wollten, haben wir einen kleinen Ausgangsschein | |
gekriegt, und um 20 Uhr mussten wir wieder in Alsterdorf sein. Und wenn es | |
nach 20 Uhr war, haben wir ein halbes Jahr Ausgangssperre gekriegt. Das war | |
eine grausame Zeit. | |
Wir haben jedes halbe Jahr eine Besprechung gehabt, da mussten wir hingehen | |
und der Vormund kam. Es dauerte nicht drei Minuten, da war es schon fertig. | |
Er hatte mir gesagt, dass er versucht, dass ich rauskomme, ich hatte auch | |
selber an die Behörde geschrieben. Bei der Besprechung hat er dann gesagt: | |
„So, Herr Boyens, jetzt sind wir fertig“, und hat mir ein kleines Stück | |
Schokolade gegeben. Die habe ich genommen, vor ihn auf den Tisch | |
geschmissen und gesagt: „Den Scheiß können Sie behalten. Ich dachte, Sie | |
kommen, um mit mir darüber zu reden, dass ich schneller aus diesem Loch | |
herauskomme, aus der Hölle.“ Deswegen habe ich es ganz alleine in die Hand | |
genommen. | |
## Lang geplante Flucht | |
Ich bin abgehauen, als ich 34, 35 Jahre alt war. Ich wohnte da in einer | |
Bude in Alstertal, ein schönes kleines Apartment eigentlich und außerhalb, | |
aber alle zwei Tage kam ein Mitarbeiter der Anstalten und hat mich | |
kontrolliert. Es war verboten, mit einer Frau zusammen zu sein. Erst | |
nachdem ich abgehauen war, wurde es dort lockerer. Wir hatten eine eigene | |
Betriebsmalerei in Alsterdorf, da war ich täglich, sodass ich nicht den | |
ganzen Tag herumgammelte. Wir hatten morgens von halb zehn bis zehn Pause, | |
da bin ich abgehauen. Wir durften ja nicht raus. Wissen Sie, wie lange ich | |
die Flucht geplant habe? Zwischen sieben und acht Jahre. Das muss bis ins | |
Kleinste geplant werden, dass kein Fehler passiert. | |
Ich bekam zehn Mark Taschengeld pro Monat, und wir haben keine | |
Personalausweise gehabt. Wenn ich auf der Bank ein Konto eröffnen will, | |
brauche ich ja einen Ausweis. Als ich es ohne versucht habe, haben sie die | |
Polizei geholt und ich bin mit dem Peterwagen zurück nach Alsterdorf | |
gekommen. Ich war ja so eingestuft worden, dass ich richtig bekloppt bin. | |
Ich hatte ein Schreiben von der Oberärztin, ich sei 100-prozentig geistig | |
behindert und 100-prozentig geschäftsunfähig und nicht in der Lage, eine | |
Arbeit richtig auszuführen. Das hat mir natürlich den größten Hammerschlag | |
auf den Kopf gegeben. | |
## Von der Polizei gesucht | |
Ein Freund hatte ein eigenes Haus in Alsterdorf, mit dem habe ich meine | |
Flucht abgesprochen. Er hat meine wichtigen Sachen mitgenommen und dann bin | |
ich verschwunden. Ein halbes Jahr wurde ich von der Polizei gesucht, ich | |
kam auch ein paar Mal ins Radio. Ich bin ja auch nicht auf den Kopf | |
gefallen, ich habe einen speziellen Empfänger gehabt, den ich aus einem | |
Kofferradio gebaut hatte, und da habe ich den Polizeifunk gehört. | |
Bei dem Freund, bei dem ich damals wohnte, habe ich das ganze Haus | |
renoviert, weil ich sonst Langeweile gehabt hätte. Dieses halbe Jahr nach | |
der Flucht, als ich nicht aus dem Haus konnte, habe ich ausgenutzt und | |
einen Hauptschulabschluss gemacht. Jeden Abend ist ein Privatlehrer zu mir | |
gekommen, ein Bekannter meines Freundes, und hat mir vier Stunden | |
Unterricht gegeben. In Alsterdorf war ich ja nur auf der Sonderschule, | |
damit kann man draußen nichts anfangen. | |
Dann musste ich die „Geld-Markus“ anrufen. Die hat in Alsterdorf gearbeitet | |
und mein Konto verwaltet. Wir haben „Geld-Markus“ zu ihr gesagt und | |
„Web-Markus“ zu ihrer Schwester, weil die in der Weberei gearbeitet hat. | |
Ich habe die „Geld-Markus“ von der Telefonzelle aus angerufen und gefragt, | |
ob sie mir sagen kann, wie viel Geld auf meinem Konto ist. „3.500 Mark“, | |
hat sie mir gesagt. „Kommen Sie bitte nicht nach Alsterdorf, ich rufe Sie | |
heute Abend privat an.“ Dann haben wir uns am nächsten Tag heimlich beim | |
Bäcker getroffen, und ich habe das Geld von ihr bekommen. Ich brauchte es | |
ja für meine Weiterentwicklung. | |
## Kampf gegen Vormund | |
Aber vor dem Hauptschulabschluss kam das Gerichtsverfahren, ich wollte | |
meinen Vormund loswerden. Das war ein hartes Thema. Dieser Doktor Kritzke, | |
der in Alsterdorf tätig war, hat gesagt: „Wir würden Herrn Boyens gern eine | |
Pflegschaft geben.“ Dann wurde ich dazu gefragt. „Wenn ich eine Pflegschaft | |
kriege, die auf meinem Konto rumschnüffelt und das Geld verwaltet“, habe | |
ich gesagt, „kann ich gleich nach Alsterdorf zurückgehen und einen Vormund | |
nehmen. Dann kann ich mich auch ganz und gar doof machen.“ In der Pause kam | |
der Richter zu mir: „So, Herr Boyens“, hat er gesagt. „Ich möchte jetzt | |
gern nach Hause und Mittag essen, Sie sind mit eingeladen. Letzte Frage: | |
Wollen Sie eine Pflegschaft haben oder einen Vormund oder wollen Sie ganz | |
und gar alleine auf den Beinen stehen?“ „Ich möchte mein Leben selber in | |
die Hand nehmen und selber aufbauen“, habe ich geantwortet. „Auch arbeiten | |
gehen, damit ich Rente kriegen kann. Ich bin 35 Jahre und viel Zeit habe | |
ich nicht mehr.“ Ich war dann ein freier Mann. Der Richter hat mich zum | |
Essen eingeladen, nicht in eine Currybude, in ein Vier-Sterne-Restaurant. | |
Am ersten Tag, als ich den Vormund los war, habe ich gefeiert und mir einen | |
angetrunken. | |
Dann habe ich das durchgezogen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich habe als | |
erstes den Malergesellen gemacht und bei einer Malerfirma gearbeitet. Als | |
die abwärts ging, bin ich zu Dornheim gegangen, das ist eine Bootswerft. Da | |
fing ich meine Lehre als Bootsbauer an, fünf Jahre hat das gedauert. Und | |
jetzt, wo ich Rentner bin, das ist die Kunst, das würde keiner von euch in | |
dem Alter schaffen, da habe ich noch eine Lehre als Elektriker gemacht. | |
Weil es mein Hobby ist und ich es von der Pike auf lernen wollte. | |
Ob ich mich über den Prozessausgang gefreut habe? Nein, es ist eine | |
traurige Sache, dass man so eine Aktion durchziehen muss. Dass ich in der | |
heutigen Zeit so eine Scheiße mitmachen musste. Mein Leben ist nicht mehr | |
die Hälfte wert. Die Leute, die Alsterdorf jetzt leiten, haben sich | |
entschuldigt, aber das habe ich nicht akzeptiert. Das hätten die Leute tun | |
müssen, die all das gemacht haben, aber die leben gar nicht mehr. Natürlich | |
freue ich mich über die Entschädigung, die ich bekommen soll, damit kann | |
ich mein Leben schöner machen, aber es ändert nichts an dem, was war. | |
31 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
## TAGS | |
Evangelische Kirche | |
Hamburg | |
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