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# taz.de -- Erzieher über Reform in Behindertenhilfe: „Wir waren die Nestbes…
> Mit dem „Kollegenkreis“ machte Horst Wallrath in den 70ern Missstände in
> den Alsterdorfer Anstalten öffentlich und verlor seinen Job. 25 Jahre
> später kam er zurück.
Bild: Wollte unwürdigen Umgang mit Behinderten nicht mitmachen: Horst Wallrath
taz: Herr Wallrath, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Tag in den
Alsterdorfer Anstalten?
Horst Wallrath: Nur sehr dunkel. Das war im November 1971. Ich weiß noch,
dass das für mich sehr besonders war. Ich hatte nie zuvor Kontakt zu
Menschen mit Behinderungen gehabt und war noch nie in einer Anstalt. Ich
bin offen und neugierig gewesen für all das, hatte aber auch ein
schummriges Gefühl.
Warum wollten Sie mit Menschen mit Behinderungen arbeiten?
Das war eher Zufall. Ich hatte den Realschulabschluss gemacht und eine
Lehre als Holzkaufmann in Lübeck angefangen. Nach einem halben Jahr war
klar, dass das nichts für mich ist. Ich wollte in die Kinderpflege gehen,
aber habe keine Stelle bekommen. Über eine Freundin bin ich zu den
Alsterdorfer Anstalten gekommen.
Sie hatten keine Ausbildung, haben aber trotzdem sofort dort angefangen?
Das war überhaupt kein Problem, Alsterdorf nahm jeden. Ich bin als
Pflegehelfer sofort in die Praxis eingestiegen. Dann hatte ich aber das
Glück, dass drei Monate später die Ausbildung zum Heilerzieher begonnen hat
und ich einen Platz bekam.
Haben sie Ihre Arbeit eigentlich schnell infrage gestellt?
Schnell nicht unbedingt. In der Anfangszeit gingen wir alle ganz unbedarft
an die Sache ran. Ich habe sogar bei Werbeveranstaltungen mitgemacht, um
Geld für die Alsterdorfer Anstalten zu sammeln. Das, was ich gesehen habe,
habe ich zwar zur Kenntnis genommen und es war mir irgendwie nicht
erklärbar, aber viel Wahrnehmungsverarbeitung hat da noch nicht
stattgefunden.
Was haben Sie gesehen?
Dass Menschen zum Teil den ganzen Tag fixiert waren. In den geschlossenen
Abteilungen war es besonders schlimm. Da wurden die Menschen morgens
losgebunden, zwei Pfleger haben Gummistiefel und Lederschürze angezogen und
20 bis 25 Personen gewaschen. Nach dem Abtrocknen ging es in einen
Tagesraum und da wurden die Menschen zum Großteil wieder mit Lederriemen
und Steckschloss am Tisch oder Stuhl fixiert und haben dort auf ihre
Mahlzeiten gewartet. Und das war im Grunde der Tagesablauf.
Wann haben Sie verstanden, dass das keine menschenwürdigen Zustände sind?
Ich habe schon nach einem halben Jahr in Alsterdorf alleine Nachtwachen
gemacht und war zum Teil für 300 Bewohner zuständig. In den Schlafsälen hat
es teilweise extrem nach Exkrementen gerochen, weil die Menschen dort
nachts nicht zur Toilette gehen durften. Da war ich manchmal wirklich froh,
als ich Feierabend hatte. Und ich glaube, das waren so die ersten Momente,
in denen ich festgestellt habe, dass das alles nichts mit Humanität und
lebenswertem Alltag zu tun hat.
Wie kam es dann zur Gründung des Kollegenkreises?
Wir haben alle zusammen auf dem Anstaltsgelände im Wohnheim gelebt und
waren alle in einem ähnlichen Alter, um die 20 Jahre alt. Da kommt man ins
Gespräch. Anfang der 70er begann auch seitens der Wissenschaft so etwas wie
eine Entdämonisierung von Menschen mit Behinderungen und es gab einen
Wandel von einer rein medizinischen Betreuung hin zu einer sozialen
Betreuung. Und es war die Zeit der politischen Bewegungen. Irgendwann saßen
wir dann zu dritt zusammen und haben Überlegungen angestellt, wie die
Situation in Alsterdorf verbessert werden könnte.
Es sollte ein Freizeitzentrum geben, oder?
Diese Idee gab es seitens der Anstaltsleitung auch schon. Der Plan war, ein
kneipenähnliches Freizeitzentrum aufzubauen, unter anderem mit einem
Kicker. Die Idee war sicherlich ganz hübsch, aber so eine Einrichtung wäre
nur einem ganz kleinen Teil der Menschen zugutegekommen. Vor allem die
mehrfach behinderten Menschen hätten davon aber nicht profitiert und für
genau diese Leute wollten wir ein Angebot schaffen, im Sinne einer
Tagesförderung.
Sie haben Ihre Idee für ein Freizeitzentrum auf Flugblätter gedruckt und
auf dem Anstaltsgelände und unter Kollegen verteilt. Die Reaktion kam
prompt: Ihnen wurden derlei Aktionen untersagt und Sie wurden zum Rapport
bei der Anstaltsleitung geladen. Sind Sie zu naiv an die Sache
herangegangen?
Wir waren alles andere als auf Krawall gebürstet oder auf Konflikte
eingestellt. Wir dachten, dass unsere Idee etwas Gutes sei und unser Ziel
im Interesse aller sein müsste. Naiv waren wir vielleicht in dem Sinne, als
dass wir nicht richtig eingeschätzt haben, wie repressiv die Anstalt sein
kann. Andererseits war die Aktion auch ein Test, um zu schauen, wie weit
wir gehen können und wie die Kolleginnen und Kollegen reagieren.
Es stand aber nur Ihr Name auf dem Flyer. Wieso haben Sie allein das Risiko
auf sich genommen?
Das Ganze anonym zu verteilen, war einfach nicht unsere Art. Ich stand zu
dem, was wir forderten und wenn man zu etwas steht, kann man auch seinen
Namen darunter setzen. Wir wollten ja auch, dass sich Kolleginnen und
Kollegen mit Interesse oder Vorschlägen bei uns melden können und da
braucht es einen Ansprechpartner.
Warum haben Sie sich von der Leitung nicht einschüchtern lassen?
Ich habe das am Anfang noch nicht als Einschüchterung verstanden und hatte
auch nicht im Hinterkopf, dass das alles arbeitsrechtliche Konsequenzen
haben könnte.
Aber schließlich sind Sie gekündigt worden. Mit welcher Begründung?
Bei der ersten Kündigung wurden mir Versäumnisse bei der Arbeit
vorgeworfen. Die haben aber nicht mit der Wirklichkeit korrespondiert und
konnten mir dementsprechend auch vor Gericht nicht nachgewiesen werden. Ich
wurde deshalb wieder eingestellt, dann aber erneut fristlos gekündigt. Auch
dagegen bin ich vor Gericht gezogen. Da tauchte dann erstmals der Vorwurf
auf, dass ich kein gläubiger Christ und eine Weiterbeschäftigung deshalb
unmöglich sei. In dem Prozess hat sogar ein Kollege ausgesagt, ich hätte
ihm das Beten verboten. Das stimmt nicht, ich habe seine Beterei lediglich
infrage gestellt, weil sein Verhalten gegenüber den Bewohnern ansonsten
eher unchristlich war. Am Ende haben ich mich mit den Anstalten auf einen
Kompromiss geeinigt: Ich habe eine Abfindung bekommen und mir eine neue
Stelle gesucht.
Sie sind dem Kollegenkreis treu geblieben und haben gemeinsam mehrere
Broschüren über die Anstalten herausgegeben. 1979 veröffentlichte das
Zeit-Magazin eine große Reportage über die Alsterdorfer Anstalten und die
Öffentlichkeit wurde auf die Zustände aufmerksam. Wie war das?
Zu dem Zeitpunkt gab es in der Anstalt einen großen Bruch. Ab dann waren
wir die Nestbeschmutzer aus dem Untergrund. Was sich damals zeigte, war die
klassische Reaktion der Leitung. Sie haben die Opferrolle eingenommen. Es
wurde immer gesagt, es sei ja kein Geld da. Andererseits wurde sich auch
nie ernsthaft bemüht, mehr Geld zu bekommen, zum Beispiel durch
entsprechende Verhandlungen mit der Stadt.
Es gab Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich lautstark auf die Seite
des Anstaltsleiters, dem Pastor Hans-Georg Schmid, stellten. Hat Sie das
verwundert?
Nein. Die, die damals vor der Anstalt für Pastor Schmidt demonstrierten,
haben die Berichterstattung und den Kollegenkreis als Provokation und
persönlichen Angriff empfunden. Sie sahen ihre Lebensleistung nicht
gewürdigt und fühlten sich als Opfer von Verleumdungen. Der Umgang mit den
Bewohnern war von Ihnen ja so gewollt und von der Anstaltsleitung
mitgetragen. Und nun wurde alles öffentlich.
Die Alsterdorfer Anstalten heißen heute Evangelische Stiftung Alsterdorf
und bemühen sich, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Jetzt gibt es
einen Film über die Geschichte der Anstalten seit Kriegsende. Hat es Sie
aufgewühlt, den Film zu sehen?
Ja, denn vieles bewegt mich noch heute. Und ich war auch einen kurzen
Moment fassungslos, als ich den damaligen Pflegedienstleiter Herrn Schade
sah, der nach fast 40 Jahren immer noch davon spricht, dass wir die
Nestbeschmutzer sind. Kein Wort des Bedauerns. Alles richtig gemacht? Was
für eine Lebenswirklichkeit!
Konnten Sie denn mit der Geschichte abschließen?
Ja, weil es die Reformbewegung gegeben hat. Die Pflegesätze sind enorm
gestiegen, es wurden viele neue Mitarbeiter eingestellt. Pastor Schmidt
musste etwas zeitversetzt gehen und es hat einen Wechsel in den
Führungspositionen gegeben. Einige vom Kollegenkreis sind ja auch geblieben
und haben leitende Positionen eingenommen, dadurch gab es auch viele
inhaltliche Veränderungen.
Wieso sind auch Sie nach 25 Jahren nach Alsterdorf zurückgekehrt?
Das war schon etwas Besonderes. Nach fast 25 Jahren habe ich das, was ich
schon einmal begonnen hatte, wieder aufgenommen. Und diesmal in dem Wissen,
dass ich angefragt wurde, um ein Projekt zur Umstrukturierung zu leiten und
auch zu beenden. Das war schon sehr speziell.
Gibt es den Kollegenkreis denn noch?
Offiziell haben wir uns 1982 oder 1983 aufgelöst. Die Entwicklungen damals
haben den Kollegenkreis in seiner Ursprungsform einfach nicht mehr nötig
gemacht. Aber wir treffen uns nach wie vor zwei Mal im Jahr. Es sind
Freundschaften entstanden. Und in diesem Jahr feiert der Kollegenkreis
40-jähriges Bestehen. Wir überlegen noch, wie wir das gebührend feiern.
14 May 2018
## AUTOREN
Marthe Ruddat
## TAGS
Hamburg
Doktor Mengele
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