| # taz.de -- Aktivist über Inklusion im Arztwesen: „Es geht um die Regelverso… | |
| > Das Gesundheitswesen ist bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung | |
| > hinterher. Aktivist H.-Günter Heiden fordert mehr als barrierefreie | |
| > Toiletten. | |
| Bild: Behindert durch Strukturen: Ein Rollstuhl-Übungsparcours am Klinikum Kar… | |
| wochentaz: Herr Heiden, haben alle gesetzlich versicherten Menschen in | |
| Deutschland gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem? | |
| H.-Günter Heiden: Absolut nicht. Für Menschen mit Behinderungen kann ich | |
| Ihnen da gleich ein konkretes Beispiel nennen: Gestern suchte eine Kollegin | |
| aus unserem Bündnis von Behindertenrechtsorganisationen, die den Rollstuhl | |
| nutzt, ganz verzweifelt nach einem barrierefreien Zahnarzt. Wir haben dann | |
| aus allen Himmelsrichtungen versucht, einen Zahnarzt ausfindig zu machen. | |
| Das ist die Situation, und das zeigt eigentlich schon: Es gibt für Menschen | |
| mit Behinderungen überhaupt keine freie Arztwahl. | |
| Obwohl dieses Recht allen gesetzlich Versicherten zusteht. | |
| Selbst wenn die Praxis erreichbar ist, fehlt es oft an barrierefreiem | |
| Mobiliar oder Toiletten. Es gibt zum Beispiel in ganz Deutschland nur eine | |
| Handvoll gynäkologischer Praxen, die wirklich barrierefrei behandeln | |
| können. [1][Darauf machen Organisationen behinderter Frauen seit Jahren | |
| aufmerksam]. Das ist die Realität 15 Jahre nach Inkrafttreten der | |
| UN-Behindertenrechtskonvention. | |
| Sie arbeiten selbst seit Jahrzehnten zum Thema Behindertenrechte und | |
| Inklusion. Ist es hierzulande um das Gesundheitswesen besonders schlecht | |
| bestellt? | |
| Eindeutig ja. Mit der [2][UN-Behindertenrechtskonvention] sollte sich der | |
| Blick auf Behinderung verändern – hin zum menschenrechtlichen Modell. Aber | |
| das Gesundheitswesen und das Gesundheitsministerium beharren noch am | |
| beständigsten auf dem medizinischen Modell: Die Behinderung ist das Defizit | |
| und das ist dann dafür verantwortlich, dass ich irgendwo nicht reinkomme. | |
| Und nicht andersherum: Es ist ein Menschenrecht, gleichberechtigt mit | |
| anderen Menschen Zugang zu allen Lebensbereichen zu haben. Da sind andere | |
| Ministerien schon viel weiter. | |
| Ausgerechnet der Gesundheitsbereich hinkt hinterher? Wo eine gute | |
| Versorgung für viele Menschen mit Behinderungen und chronischen | |
| Erkrankungen doch so elementar ist. | |
| Ja, da stoßen wir immer wieder auf Granit. Teilweise will man uns dann | |
| wieder in spezialisierte Sonderabteilungen abschieben. Aber darum geht es | |
| halt nicht. Es geht darum, die stinknormale Regelversorgung – auch | |
| außerhalb der Großstädte – diskriminierungsfrei zu gestalten, sodass ich | |
| als Mensch mit Beeinträchtigung die freie Wahl habe. Das geben unsere | |
| Gesetze schon jetzt vor: Im Sozialgesetzbuch steht, dass die Versorgung | |
| barrierefrei erbracht werden soll und dass den besonderen Belangen | |
| behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist. Aber | |
| wenn man dann mit den Ärztekammern spricht, dann geht das immer alles nicht | |
| und ist zu teuer. Dabei wäre es ein Leichtes, bei Neuzulassungen und | |
| Praxisübernahmen Barrierefreiheit zur Bedingung zu machen. Stattdessen | |
| werden immer noch Praxen zugelassen, die dann wieder Jahrzehnte nicht | |
| barrierefrei nutzbar sind. | |
| Wenn wir über Barrierefreiheit im Gesundheitswesen sprechen, dann umfasst | |
| das ja nicht nur die Zugänglichkeit für Rollstuhlnutzer*innen. | |
| Der Begriff der Barrierefreiheit ist im Behindertengleichstellungsgesetz | |
| definiert und umfasst alle Formen von Beeinträchtigungen. Denken Sie da nur | |
| an die Lesbarkeit von Aufklärungsformularen für Menschen mit | |
| Sehbeeinträchtigungen oder die Verfügbarkeit von medizinischen | |
| Informationen in Gebärden- oder Leichter Sprache. | |
| Nun will doch aber das Bundesgesundheitsministerium einen Aktionsplan für | |
| ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen v[3][orlegen]. | |
| Ändert sich jetzt endlich etwas? | |
| Es ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Das Problem ist aber | |
| aus unserer Sicht, dass dieser Aktionsplan nicht an der | |
| UN-Behindertenrechtskonvention ausgerichtet ist. | |
| Wieso denn nicht, es heißt doch „für ein inklusives Gesundheitssystem“? | |
| Wenn uns Leute aus dem Ministerium anrufen und fragen, was wir eigentlich | |
| unter Inklusion verstehen, dann frage ich mich: Wie weit sind wir | |
| eigentlich?! In der Projektgruppe im Ministerium sitzen engagierte | |
| Menschen, die versuchen, die vielen Vorschläge aus dem schriftlichen | |
| Beteiligungsverfahren einzuordnen. Aber ich habe das Gefühl, wir befinden | |
| uns da noch auf dem Level eines Fortbildungsprogramms für das Ministerium. | |
| Irgendwann wird es sicher ein dickes Bündel Papier geben. Aber wenn da | |
| keine konkreten Maßnahmen drinstehen, sondern nur Modellprojekte, wenn | |
| keine verbindlichen Regelungen und Sanktionen in Gesetzen und | |
| Zulassungsverordnungen verankert werden und keine Mittel zur Verfügung | |
| gestellt werden, dann wird das so wirksam, wie wir es schon von anderen | |
| Aktionsplänen kennen. Im Moment ist eh Funkstille, obwohl eigentlich im | |
| Frühjahr ein Entwurf vorgelegt werden sollte. Wir werden da jetzt mal | |
| nachfragen im Ministerium. | |
| Egal, was da jetzt genau kommt: So schnell werden Arztpraxen nicht im | |
| großen Stil barrierefrei werden. | |
| Das stimmt, aber für Neuzulassungen ließe sich das verankern. Außerdem gibt | |
| es noch das Mittel der angemessenen Vorkehrungen: Auch wenn eine Praxis | |
| nicht sofort komplett barrierefrei gestaltet werden kann, kann sie zum | |
| Beispiel eine Abmachung mit dem benachbarten Sanitätshaus zur Nutzung der | |
| barrierefreien Toilette treffen. Im anglo-amerikanischen Raum gibt es | |
| dieses Konzept schon sehr lange. | |
| Was sind weitere Baustellen? | |
| Es gibt noch immer keine allgemeingültige Regelung zur Aufnahme von | |
| Begleitpersonen im Krankenhaus, und die Selbstbestimmungsrechte von | |
| Patient*innen mit Behinderungen werden oft nicht gewahrt. Da wird zum | |
| Beispiel nicht die [4][Person mit Beeinträchtigung angesprochen, sondern | |
| zuerst die Begleitperson]: „Was hat er oder sie denn …“ | |
| Eine Frage von Wissen und Sensibilisierung … | |
| Ja, das gehört in die Aus- und Fortbildung der medizinischen Kräfte. Auch | |
| da müssen Verordnungen entsprechend geändert werden. Im Moment ist es | |
| tatsächlich Glückssache, ob und wie ich behandelt werde. Und das muss sich | |
| ganz dringend ändern. | |
| Am [5][5. Mai ist mal wieder ein Aktionstag], an dem vielleicht mehr | |
| Menschen auf das Thema Inklusion schauen. Aber ist die Geschwindigkeit der | |
| Veränderungen nicht insgesamt frustrierend? | |
| Ich war ja schon 1992 dabei, vor über 30 Jahren, als wir den 5. Mai als | |
| Europäischen Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen ins Leben | |
| gerufen haben. Seitdem gab es sehr langsame Fortschritte. Wir haben | |
| [6][Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 im Grundgesetz] („Niemand darf wegen seiner | |
| Behinderung benachteiligt werden“, Anm. d. Red.) erkämpft, gegen den | |
| Widerstand von vielen. 2001 kam das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs zur | |
| Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, 2002 das | |
| Behindertengleichstellungsgesetz. Wir haben damals schon gesagt: Wir | |
| wissen, es geht nicht alles von heute auf morgen, aber lasst uns Fristen | |
| vereinbaren, innerhalb derer Umrüstungen stattfinden müssen. Das ist nicht | |
| passiert, sonst wären wir schon sehr viel weiter. | |
| Und jetzt glauben Sie beim Aktionsplan des Bundesgesundheitsministeriums | |
| auch nicht an verbindliche Regelungen? | |
| Ich erwarte einen zahnlosen Tiger und fürchte, wir müssen die Forderung | |
| nach konkreten Gesetzesänderungen in die nächste Legislaturperiode | |
| mitnehmen. | |
| Das klingt jetzt schon ziemlich frustrierend. | |
| Wenn man lange in dem Geschäft ist, hat man kämpfen gelernt und weiß, dass | |
| Fortschritte verdammt lange dauern. Die Aktiven, die jetzt dran sind, | |
| kämpfen im Grunde für die Kids im Rollstuhl – damit die vielleicht in zehn | |
| Jahren die freie Arztwahl haben. | |
| 4 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.weibernetz.de/gynv/angebote-von-1998-bis-heute.html | |
| [2] /Teilhabe-behinderter-Menschen/!5956876 | |
| [3] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/start… | |
| [4] /mit-behinderung/!p5043/ | |
| [5] /Demo-trotz-Corona/!5679963 | |
| [6] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html | |
| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
| ## TAGS | |
| Inklusion | |
| Menschen mit Behinderung | |
| UN-Behindertenrechtskonvention | |
| Gesundheitspolitik | |
| wochentaz | |
| Hamburg | |
| Digitalisierung | |
| Herz | |
| Inklusion | |
| Pflege | |
| Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
| Inklusion | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Musiker über barrierefreie Konzerte: „Nicht bloß rollstuhlgerecht“ | |
| Der Musiker und Aktivist Felix Brückner verbindet Konzerte mit Debatten | |
| über die Zugänglichkeit von Kulturveranstaltungen. | |
| Digitalisierung deutscher Kommunen: Von wegen barrierefreier Staat | |
| Menschen mit Beeinträchtigungen haben die Webseiten der etwa 11.000 | |
| deutschen Kommunen auf Barrieren geprüft. Schön ist das Ergebnis nicht. | |
| Rückgang der Lebenserwartung: Früher sterben in Deutschland | |
| In anderen EU-Ländern leben Menschen laut einer neuen Studie länger. Einen | |
| Grund sehen die Autoren bei der Diagnose von Gefäßkrankheiten. | |
| Pro und Contra: Dienen Werkstätten der Inklusion? | |
| Ob Werkstätten zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung beitragen, ist | |
| umstritten. Einerseits gibt es dort Freiheiten, andererseits niedrige | |
| Löhne. | |
| Geschichte von Menschen mit Behinderung: So löst man eine Anstalt auf | |
| Bis in die 1970er wurden in den Alsterdorfer Anstalten Menschen mit | |
| Behinderung gequält. Eine neue Homepage berichtet von der Aufarbeitung. | |
| Schönheit und Frauen mit Behinderung: „Mode muss inklusiver werden“ | |
| Wie schauen Frauen mit Behinderung auf ihre eigene Schönheit? Und wie | |
| ändert sich das mit dem Erwachsenwerden? Vier Protokolle. | |
| Jurist über Behinderung und Teilhabe: „Nichts mehr im Gesetz verloren“ | |
| Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel fordert eine Abkehr vom Begriff | |
| „geistige Behinderung“. Den Ministern für Arbeit und Gesundheit gibt er | |
| Hausaufgaben. |