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# taz.de -- Jurist über Behinderung und Teilhabe: „Nichts mehr im Gesetz ver…
> Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel fordert eine Abkehr vom Begriff
> „geistige Behinderung“. Den Ministern für Arbeit und Gesundheit gibt er
> Hausaufgaben.
Bild: Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Mens…
taz: Herr Dusel, zucken Sie zusammen bei dem Begriff „geistige
Behinderung“?
Jürgen Dusel: Ja. Die wirklich überwiegende Anzahl der Menschen, die so
genannt werden, empfinden diesen Begriff als stigmatisierend, abwertend und
diskriminierend. Sie sagen: „Wir möchten nicht so genannt werden. Unseren
Geist kann man nicht behindern.“
Und was sagen wir jetzt stattdessen?
Für die Teilhabeempfehlungen, die ich unter anderem dem Gesundheitsminister
und dem Arbeitsminister übergebe, verwenden wir den Begriff „Menschen mit
intellektuellen Beeinträchtigungen“ – das entspricht der englischsprachigen
UN-Behindertenrechtskonvention. Dieser Begriff ist auch nicht
unproblematisch, weil es verschiedene Formen der Intelligenz gibt, zum
Beispiel die emotionale oder soziale Intelligenz. Aber es ist ein Einstieg
in die Debatte um einen neuen Begriff.
In diesen Teilhabeempfehlungen legen Sie den Fokus ausschließlich auf
Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Warum und warum gerade
jetzt?
Ein wichtiger Auslöser waren die [1][Special Olympics, die wir im Sommer in
Berlin hatten]. Die haben aus meiner Sicht gezeigt, wie bunt und gut es
ist, wenn Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen sichtbarer sind.
Dazu kommt, dass gerade die Teilhabechancen dieser Menschen noch schlechter
sind als von Menschen mit Behinderungen insgesamt.
Den Begriff „geistige Behinderung“ zu ersetzen, ist eine zentrale Forderung
in den Empfehlungen. Ist das Aufgabe der Bundesminister?
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat jetzt gerade begonnen,
das Behinderten-Gleichstellungsgesetz zu überarbeiten. Das ist eine gute
Möglichkeit für eine nötige Diskussion. Der Begriff „geistige Behinderung�…
ist von der Lebenshilfe als Elternorganisation in den 1960er Jahren
eingeführt worden und war damals viel besser als die furchtbaren Begriffe,
die man vorher hatte. Aber wenn 60 Jahre später eine Gruppe, die so
bezeichnet wird, das nicht möchte, dann hat der Begriff nichts mehr in den
Gesetzen oder im Sprachgebrauch verloren. Die Lebenshilfe Österreich zum
Beispiel hat den Begriff „geistige Behinderung“ bereits aus ihrem Namen
gestrichen.
Hängt die Abwertung, die Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen
erfahren, nicht an viel mehr als einem Begriff?
In der Tat. Der medizinische Begriff von Behinderung wurde in den letzten
Jahrzehnten von einem menschenrechtlichen abgelöst. Aber Menschen mit
intellektuellen Beeinträchtigungen werden immer noch viel zu oft als
defizitäre Wesen betrachtet. Es wird viel zu viel über sie und nicht mit
ihnen gesprochen.
Wie haben Sie diese Gruppe zu Wort kommen lassen?
Mein Job ist es, ein Bindeglied zwischen Bundesregierung und
Zivilgesellschaft zu sein. Die Teilhabeempfehlungen sind ja nichts, was
sich der Behindertenbeauftragte Dusel ausdenkt, sondern Teil eines
Kommunikationsprozesses. Selbstvertretungsorganisationen wie „Mensch
zuerst“ sind da unsere ersten Ansprechpartner. Ich ziehe persönlich so
viel Energie aus diesen Begegnungen und sie zeigen mir, dass wir gut
beraten sind, uns auf die Expertise dieser Menschen einzulassen. Menschen
mit intellektuellen Beeinträchtigungen haben eine ganze Menge zu sagen und
können das auch sehr gut artikulieren, wenn sie die Zeit und die nötige
Assistenz dafür haben.
Haben Sie ein Beispiel für solch eine Begegnung?
Für den Arbeitsbereich haben wir Bildungsfachkräfte eingeladen, das ist
eines meiner Lieblingsprojekte. Das sind Menschen, die in der Regel keinen
Hauptschulabschluss haben, vorher in einer Werkstatt für Menschen mit
Behinderungen gearbeitet haben und denen man immer gesagt hat, mehr schafft
ihr sowieso nicht. Und jetzt arbeiten diese Menschen an der Hochschule Kiel
oder Heidelberg und bilden zukünftige Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit
Menschen mit Behinderungen aus.
In den Teilhabeempfehlungen nehmen Sie die [2][Debatte um die Werkstätten
für Menschen mit Behinderungen] auf. 2015 erteilten die Vereinten Nationen
Deutschland eine fette Rüge, weil das noch immer für so viele Menschen der
einzig mögliche Arbeitsplatz ist. Hat sich seitdem etwas verbessert?
Zur Zeit arbeiten ungefähr 270.000 Menschen in Werkstätten, diese Zahl hat
sich in den letzten Jahren nur minimal verbessert. Gerade für Menschen mit
intellektuellen Beeinträchtigungen ist die Werkstatt ein Automatismus:
einmal Förderbereich, immer Förderbereich. Vielleicht 0,5 Prozent der
Beschäftigten schaffen den Übergang aus der Werkstatt auf den allgemeinen
Arbeitsmarkt. Dabei sind Werkstätten eigentlich Einrichtungen der
Rehabilitation.
Warum glauben Sie, dass sich jetzt etwas ändern könnte?
Vor allem, weil wir einen massiven Arbeitskräftemangel haben, ist jetzt
eine gute Gelegenheit, die Automatismen zu unterbrechen. Wir haben die
Situation, dass Menschen nach der Schule direkt in den Bildungsbereich der
Werkstätten kommen. Aber bildet der denn tatsächlich für den allgemeinen
Arbeitsmarkt aus oder nicht eher für die Beschäftigung in der Werkstatt?
Wir fordern, diesen Berufsbildungsbereich komplett aus den Werkstätten
rauszunehmen.
Wer muss das machen?
Das wäre jetzt eine Aufgabe des Arbeits- und Sozialministeriums bei der
Reform des Werkstattrechts.
Sie fordern auch einen Hochschulzugang für Menschen mit intellektuellen
Beeinträchtigungen.
Ja, ich weiß, das geht für viele gar nicht zusammen. Aber da sollten wir
mal in andere Länder schauen, wo Menschen mit intellektuellen
Beeinträchtigungen durchaus Zugang zur Hochschule haben, beispielsweise
wenn es um Kunsthochschulen geht. Wir denken, wir könnten uns über die
Begabungen dieser Menschen ein Urteil erlauben. Viele werden da richtig
emotional, von wegen, jetzt sollen die auch noch studieren können. Aber da
sage ich: Macht euch mal locker und lasst uns schauen, was möglich ist.
Sie haben Ihre Teilhabeempfehlungen auch an den Gesundheitsminister Karl
Lauterbach adressiert. Was läuft schief im Gesundheitsbereich?
Mich hat es noch mal aufgerüttelt, als ich mir die Ergebnisse des
Healthy-Athlets-Programms angeguckt habe. Da wurde der Gesundheitszustand
auch der deutschen Athletinnen und Athleten bei den Special Olympics
untersucht. Rund 50 Prozent hatten die falsche Sehhilfe, 30 Prozent zu
kleine Schuhe, es gibt unentdeckte Diabetes, unentdeckten Bluthochdruck,
große Mängel in der Zahngesundheit. Das kann doch nicht allen Ernstes unser
Anspruch an ein modernes Gesundheitssystem sein!
Viele denken bei Barrierefreiheit vor allem an die Rampe vor der Arztpraxis
…
Die ist auch wichtig. Aber wir brauchen auch Leichte Sprache in der
Behandlung und vor allem mehr Zeit, die sich auch in der Vergütung
widerspiegelt. In der Aus- und Weiterbildung müssen Ärztinnen und Ärzte
mehr lernen über Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Gerade
für erwachsene schwerstmehrfachbehinderte Menschen brauchen wir
flächendeckend medizinische Zentren, und wir müssen dafür sorgen, dass
Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen Zugang zu Prävention haben
wie alle anderen auch.
Angesichts riesiger Reformvorhaben: Hat der Gesundheitsminister die Gruppe,
über die wir grad sprechen, überhaupt auf dem Zettel?
Das Gesundheitsministerium muss nach dem Koalitionsvertrag einen
Aktionsplan vorlegen für ein diverses, nachhaltiges, barrierefreies
Gesundheitswesen. Das ist jetzt auch angelaufen. Natürlich kann auch der
Gesundheitsminister keine 24 Stunden am Tag arbeiten, also ist das eine
Frage der Priorisierung. Ich lege großen Wert darauf, dass da jetzt etwas
passiert, und ich bin damit nicht alleine. Ich bin Teil des Drucks, der
nötig ist, um den Staat daran zu erinnern, dass Menschen mit
intellektuellen Beeinträchtigungen bislang nicht die gleichen Rechte haben.
Teilhabeempfehlungen – das klingt auch ein bisschen nach Schublade. Woher
nehmen Sie die Hoffnung, dass die auch fruchten?
Ich habe 2019 die ersten Teilhabeempfehlungen abgegeben und stelle jetzt
fest, dass sich manche in Gesetzen wiederfinden – Stichwort Assistenz im
Krankenhaus oder Einführung einer vierten Stufe der [3][Ausgleichsabgabe
für beschäftigungspflichtige Unternehmen], die keinen einzigen Menschen mit
Schwerbehinderung beschäftigen. Auch im Koalitionsvertrag ist in Sachen
Teilhabe mehr verabredet worden als in der Legislatur davor. Jetzt geht es
darum, auch zu liefern.
31 Jan 2024
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## AUTOREN
Manuela Heim
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