| # taz.de -- ExpertInnen über Inklusion: „Warum soll das nicht gehen?“ | |
| > Erneut wird die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geprüft. | |
| > Leander Palleit und Britta Schlegel vom Deutschen Institut für | |
| > Menschenrechte üben Kritik. | |
| Bild: Wenn es schon mal Grund zum Jubeln gibt: Fans bei den Special Olympics Wo… | |
| wochentaz: Frau Schlegel, Herr Palleit, werden die Rechte eines Kindes, das | |
| heute mit einer Behinderung geboren wird, besser gewahrt als vor 15 Jahren? | |
| Leander Palleit: Ganz pauschal ja, aber der Unterschied ist relativ gering. | |
| Es passiert durchaus, dass Kinder, die heute mit Behinderung geboren | |
| werden, die gleichen schlechten Erfahrungen machen wie vor 15 Jahren. | |
| Was ist dann aus dem großen Paradigmenwechsel geworden, den die | |
| Unterzeichnung der [1][UN-Behindertenrechtskonvention] einläuten sollte? | |
| Palleit: Bis 2016 ist relativ viel passiert und danach relativ wenig. Der | |
| Begriff Inklusion taucht zwar überall auf – inklusive Gesellschaft, | |
| inklusiver Sport. Aber wenn man genau hinsieht, dann steckt da oft wenig | |
| Inklusion drin. Ein Wandel in der Rhetorik reicht nicht. | |
| Diese Konvention ist rechtlich bindend. Wieso sitzen wir überhaupt hier, 14 | |
| Jahre nach Inkrafttreten, und sagen, dass es mit der Umsetzung gewaltig | |
| hapert? | |
| Palleit: Weil es erst ein paar Jahre gedauert hat, bis sich überhaupt | |
| rumgesprochen hatte, dass sie bindend ist, und zwar komplett und auch für | |
| die Länder und die Kommunen. Als es sich dann rumgesprochen hatte, kam die | |
| Zeit der großen Abers: Wir haben die Ressourcen nicht, wir brauchen noch | |
| Zeit, da hängen so viele Sachen dran. | |
| Britta Schlegel: Am schlimmsten ist, wenn die Konvention als solche infrage | |
| gestellt wird. Personen, die keine Menschenrechtsexpert*innen sind, | |
| nehmen sich heraus, die Konvention umzuinterpretieren. Dann ist das | |
| [2][Förderschulsystem] plötzlich bereits ein inklusives System, weil die | |
| Kinder dort ja überhaupt beschult werden. | |
| Sowohl von Eltern als auch von Lehrer*innen kommt immer wieder das | |
| Argument, die Bedingungen an den Förderschulen in Deutschland seien für | |
| bestimmte Kinder geeigneter. | |
| Schlegel: Fakt ist, dass diese Eltern im Moment nur ein Scheinwahlrecht | |
| haben. In den meisten Fällen, vor allem im ländlichen Raum, gibt es | |
| überhaupt keine wohnortnahen inklusiven Regelschulen. Dazu kommt, dass die | |
| Kinder in die Förderschulen mit dem Fahrdienst gebracht werden und die | |
| Therapien in der Schule stattfinden. Bei einem Regelschulbesuch müssen | |
| Eltern das alles in der Regel selbst organisieren. Was ist das für ein | |
| Wahlrecht? Und selbst in den sogenannten inklusiven Schulen ist es noch | |
| viel zu oft so, dass bei Problemen die Kinder infrage gestellt werden: zu | |
| laut, zu schwierig, eine Zumutung für die Klasse. Das Kind passt dann | |
| nicht. Obwohl es in Wirklichkeit Aufgabe der Schule ist, zum Kind zu | |
| passen. | |
| Das ist im Grunde doch eine Katze-Schwanz-Diskussion: Solange wir keine | |
| inklusive Gesellschaft haben, brauchen wir Schutzräume wie Förderschulen, | |
| Wohnstätten, Werkstätten. Aber solange wir diese Sondersysteme | |
| aufrechterhalten, kriegen wir keine inklusive Gesellschaft … | |
| Palleit: Diesen Teufelskreis haben wir unter anderem, weil | |
| Strukturveränderungen wie gemeinsamer Unterricht unter schlechten | |
| Voraussetzungen umgesetzt werden. Mit diesen schlechten Erfahrungen im | |
| Rücken wird dann der bisherige Zustand als bessere Alternative dargestellt. | |
| Gibt es eine Ermüdung in Sachen Inklusion? | |
| Schlegel: Nicht grundsätzlich. Befragungen zeigen, dass die Bereitschaft | |
| zur Inklusion im Allgemeinen hoch ist. Aber dem stehen große | |
| Beharrungskräfte der Institutionen gegenüber. In den bestehenden Wohn-, | |
| Arbeits- und Lernsystemen steckt ja auch jede Menge Geld. | |
| Und dann gibt es immer wieder die Fälle, in denen andere Normen – wie der | |
| Denkmalschutz – das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe ausstechen. Dann | |
| kann die historische Veranstaltungsstätte oder das Schulgebäude eben nicht | |
| barrierefrei umgebaut werden. | |
| Palleit: Das ist rechtlich überhaupt nicht nachvollziehbar. Es ist total | |
| eindeutig, dass es andersrum sein muss. Wir haben hier ein Menschenrecht, | |
| das den Stellenwert eines Grundrechts hat. Das scheint in Behörden und | |
| Gerichten noch nicht überall angekommen zu sein. Viel zu häufig muss das | |
| Bundesverfassungsgericht entscheiden. Oft sind diese vermeintlichen | |
| Normkollisionen aber auch nur Scheinkonflikte, die von denen | |
| heraufbeschworen werden, die nicht die Energie aufwenden wollen, beides | |
| zusammenzudenken. | |
| Da sind andere Länder weiter? | |
| Schlegel: Auf jeden Fall. In den USA sind Tankstellen auf der Autobahn | |
| barrierefreier als bei uns Hotels in der Hauptstadt. | |
| Palleit: … und in Irland hat jedes noch so historische Pub eine | |
| barrierefreie Toilette. Das haben die schon vor zehn Jahren gesetzlich | |
| verankert. Warum soll das in Deutschland nicht gehen? Was ist das für eine | |
| seltsame Regulierungsangst, was für ein Begriff von Freiheit? | |
| Es gibt die sehr grundsätzliche Kritik, dass die | |
| UN-Behindertenrechtskonvention nicht umsetzbar ist innerhalb der | |
| Verwertungslogik des kapitalistischen Systems, in dem wir nun einmal leben. | |
| Palleit: Wir haben hier immer noch den Effekt, dass Gewinne privatisiert | |
| und Kosten überwiegend vergesellschaftet werden. Grundsätzlich würde ich | |
| aber sagen: Die Behindertenrechtskonvention ist ein Ausdruck dessen, was | |
| wir in Deutschland unter Gerechtigkeit verstehen wollen, sonst hätten wir | |
| sie nicht unterzeichnet. Und wenn einer Verwirklichung dieser Konvention | |
| Verwertungslogiken entgegenstehen, dann haben wir ein Problem mit den | |
| Verwertungslogiken und dem Leistungsgedanken. Vielleicht fehlt uns an | |
| manchen Stellen noch die Fantasie, aber natürlich ist eine Umsetzung der | |
| Konvention im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft möglich. | |
| Wer genau muss den Druck aufbauen, damit sich wirklich etwas ändert? | |
| Palleit: Wir alle. | |
| Schlegel: Die Politik ist natürlich die Impulsgeberin, aber Inklusion ist | |
| eine gesellschaftliche Aufgabe. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann eine | |
| inklusive Schule für alle. Wenn Kinder von Anfang an gemeinsam leben und | |
| lernen, und jeder Mensch kennt Menschen mit Behinderung schon von Kindheit | |
| an, dann würde man sich doch fragen, wo tauchen sie dann ab, wo sind sie | |
| denn auf einmal nach der Schule? Dann kann man sie nicht einfach in einer | |
| besonderen Wohnform oder in der Werkstatt abseits von der restlichen | |
| Gesellschaft betreuen. | |
| Die inklusive Schule als gesellschaftlicher Gamechanger? | |
| Schlegel: Ja, das kann die Initialzündung sein. Einer der Gründe, warum | |
| uns Erwachsenen die Fantasie für inklusive Lösungen fehlt, sind doch die | |
| fehlenden Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen. Das Resultat sind | |
| Berührungsängste und der schnelle Glaube an die Notwendigkeit von separaten | |
| Schutzräumen. | |
| Palleit: Und wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass die, die sich mal | |
| nach vorne wagen, nicht gleich bei ein bisschen Gegenwind den Mut | |
| verlieren. Ein Beispiel: 2016 hat Schleswig-Holstein das Wahlgesetz | |
| geändert und alle Wahlunterlagen in leichter Sprache aufgelegt, für alle. | |
| Die Landtagswahl wurde durchgeführt, der Landtag ist unfallfrei gewählt | |
| worden und durch die ganze Legislaturperiode gekommen. Die Demokratie ist | |
| nicht zusammengebrochen. Aber es gab Menschen, die sich durch die | |
| Wahlunterlagen in ihrem Intellekt beleidigt fühlten. Es gab Proteste von | |
| nichtbehinderten Menschen. Und was macht die Landesregierung? Sie dreht das | |
| Ganze zurück. Da wünsche ich mir doch etwas mehr Standhaftigkeit. | |
| Inklusion ist nicht nur ein Menschenrecht, die Umsetzung wird auch immer | |
| mit dem Nutzen für alle gerechtfertigt. | |
| Schlegel: Wir verwenden beide Argumentationen gleichzeitig. Mir fällt kein | |
| Bereich ein, wo die Inklusion nicht auch im Sinne der Mehrheitsgesellschaft | |
| ist. Eine diversere Gesellschaft ist immer eine freiere, respektvollere und | |
| tolerantere Gesellschaft. | |
| Das würden bestimmt nicht alle Menschen unterschreiben. Ist das Erstarken | |
| rechter Kräfte auch ein möglicher Grund für die Stagnation der Umsetzung | |
| der UN-Behindertenrechtskonvention? | |
| Palleit: In Teilen der Gesellschaft setzt sich mehr oder weniger verdeckt | |
| das Narrativ fest, dass die Grundrechte der Mehrheitsgesellschaft mehr wert | |
| sind als die Grundrechte der Minderheiten. Ich erinnere an [3][die | |
| Triagedebatte]. Das ist ganz gefährlich, denn diese Unterscheidung gibt es | |
| ja gerade nicht in den Grundrechten. | |
| Jetzt brauchen wir aber noch ein Beispiel, wo in den letzten Jahren | |
| wirklich was geschafft wurde. | |
| Palleit: Der barrierefreie Notruf ist ein gutes Beispiel. Der Deutsche | |
| Gehörlosen-Bund hat massiv dafür gekämpft, und 2015 gab es nach der letzten | |
| Staatenprüfung eine ausdrückliche Forderung aus Genf. Und jetzt haben die | |
| Länder tatsächlich gemeinsam die Nora-App aufgesetzt, die übrigens nicht | |
| nur von Menschen mit eingeschränkten Hör- und Sprechfähigkeiten genutzt | |
| wird. Sondern auch von Frauen, die sich zum Beispiel verfolgt fühlen. | |
| Gehen Sie davon aus, dass Deutschland in der kommenden Woche wieder eins | |
| auf den Deckel kriegt in der Staatenprüfung durch die UN? | |
| Schlegel: Auf jeden Fall. | |
| 27 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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