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# taz.de -- Digitalisierung deutscher Kommunen: Von wegen barrierefreier Staat
> Menschen mit Beeinträchtigungen haben die Webseiten der etwa 11.000
> deutschen Kommunen auf Barrieren geprüft. Schön ist das Ergebnis nicht.
Bild: Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert – auch im Netz
## 1. Was ist der „Atlas der digitalen Barrierefreiheit“?
Wenn es um Barrierefreiheit geht, denken viele von uns zuerst an
Rollstuhlrampen, Fahrstühle oder Toiletten für Menschen mit Behinderung –
also den Zugang und die Nutzbarkeit von Gebäuden und öffentlichen Räumen.
Das ist ohne Frage ein wichtiges Thema, und in deutschen Städten und
Gemeinden ist in der Hinsicht noch eine Menge zu tun. Aber es gibt einen
Bereich, in dem Barrierefreiheit ungleich einfacher, ohne Intervention des
Denkmalschutzes und ohne große Kostenblöcke umsetzbar ist: das Internet.
Dass staatliche Internetangebote barrierefrei zugänglich sein müssen, ist
rechtlich festgelegt. Es ergibt sich aus den
[1][Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes] und der Länder. Wie weit
die Internetangebote der deutschen Kommunen allerdings von der Erfüllung
dieser Pflicht entfernt sind, zeigt jetzt ein Projekt aus der
Zivilgesellschaft.
Ab 27. Juni soll der „Atlas der digitalen Barrierefreiheit der Kommunen in
Deutschland“ veröffentlicht werden. Für jede einzelne Kommune Deutschlands
ist dort abrufbar, wie zugänglich deren Internetangebot ist. Dafür hat eine
Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen zunächst Kriterien entwickelt
und dann in monatelanger Fleißarbeit geprüft. Impuls und technische
Unterstützung kamen vom gemeinnützigen Berliner Verein Inclusion Technology
Lab.
„Häufig wird digitale Barrierefreiheit nur nach technischen Kriterien
getestet, mit dem echten Erleben hat das nichts zu tun“, sagt Vorstand
Raimund Schmolze-Krahn. Die Tester*innen sind Beschäftigte der DasDies
GmbH, einem Unternehmen zur Arbeitsintegration der Arbeiterwohlfahrt im
westfälischen Unna. Geldgeberin war die Aktion Mensch.
## 2. Was sind die Kriterien für digitale Barrierefreiheit?
Das Projekt begann schon mit einer mühsamen Aufgabe, denn ein
Gesamtverzeichnis der knapp 11.000 deutschen Kommunen gibt es laut
Schmolze-Krahn nicht. „Wir wollten keine Stichprobe, sondern jede einzelne
Kommune anschauen – damit sich niemand rausreden kann.“
Geprüft wurden die Startseiten der Internetauftritte. „Wenn ich keinen
Zugang zu den Schlüsseldienstleistungen der Kommunen habe, dann ist die Tür
von Anfang an zu.“ Manchmal würden Kommunen darauf verweisen, dass
Unterseiten zu behinderungsspezifischen Themen barriereärmer sein als die
Startseite. „Aber da muss man ja erst einmal hinkommen“, sagt
Schmolze-Krahn.
Schlanke 5 Prüfkriterien haben die Tester*innen in einem Workshop
entwickelt Sie bilden längst nicht alle Dimensionen von digitaler
Barrierefreiheit ab, dafür scheinen sie aber ziemlich leicht umsetzbar:
Lässt sich die Schriftgröße ändern? Gibt es eine Vorlesefunktion? Ein
Angebot in leichter Sprache? Wird das Thema Barrierefreiheit auf der Seite
erwähnt? Kann man in wenigen Minuten erfahren, wo man einen Termin zur
Verlängerung seines Personalausweises vereinbaren kann?
## 3. Warum ist ein Test mit echten Menschen wichtig?
Zwar gibt es schon seit 2002 die
[2][Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung BITV], die einen ganzen
Prüfkatalog technischer Kriterien zur Barrierefreiheit von Internetseiten
enthält. Auch die wurden im Projekt zum Vergleich mit geprüft. „Aber von
den Erfahrungen der Menschen weichen diese Ergebnisse zum Teil deutlich
ab“, sagt Schmolze-Krahn.
So habe zwar inzwischen jeder Browser Werkzeuge zur Veränderung der
Schriftgröße oder zum Vorlesen von Texten. Aber wie zugänglich sind diese
für Menschen, die auf Übersichtlichkeit und einen leichten Einstieg
angewiesen sind? Daher war die grundlegende Idee des Projektes: Menschen,
die sich mit Ausgrenzung und Barrieren aus eigenem Erleben auskennen,
testen selbst die fast 11.000 Internetseiten. Langweilig sei das nie
gewesen, sagt Miriam Langhoff, eine der Tester*innen aus Unna. „Wir
konnten aktiv werden für mehr Inklusion, wir konnten etwas tun.“
## 4. Warum ist das Ergebnis so unglaublich schlecht?
Für jedes der 5 Prüfkriterien wurde 1 Punkt vergeben – maximal also 5
Punkte. Das Resultat im Bundesdurchschnitt: nicht einmal 2 Punkte. Man habe
mit schlechten Ergebnissen gerechnet, sagt Miriam Langhoff. „Aber das war
doch sehr ernüchternd.“ Das ganze Team sei überrascht gewesen.
„Unglaublich, wie schlecht die Barrierefreiheit gerade hier ist, wo sie
sich so viel leichter und kostengünstiger umsetzen ließe“, sagt auch
Schmolze-Krahn. 7 Prozent aller Kommunen haben die Prüfer*innen gar
keinen Punkt gegeben. Nur jede zehnte hat auf der Startseite eine
Vorlesefunktion oder einen Hinweis auf leichte Sprache eingebaut. Die
Schriftgröße ließ sich bei einem Drittel der Seiten unkompliziert ändern,
die Hälfte enthielt einen Hinweis auf das Thema Barrierefreiheit. Bei über
80 Prozent war binnen 3 Minuten zu erfahren, wo man einen Termin zur
Personalausweisverlängerung vereinbaren kann.
## 5. Welche Kommunen taugen als Vorbilder?
Aber es gibt auch Kommunen, die volle 5 Punkte erreicht habe – Essen,
Bielefeld, Kiel und Lübeck zum Beispiel. „Das zeigt doch, es kann
funktionieren“, sagt Testerin Miriam Langhoff. Leicht zugängliche digitale
Angebote, die zum Beispiel mobilitätseingeschränkten Menschen Wege
ersparen: „In der digitalen Barrierefreiheit liegt eine große Chance, aber
sie muss auch ergriffen werden“, sagt Langhoff.
## 6. Was muss jetzt passieren?
Schmolze-Krahn wünscht sich, dass die digitale Barrierefreiheit schon in
der Konzeptionsphase von Internetseiten mitgedacht wird. „Digitale
Barrierefreiheit ist nichts, was am Ende mal eben noch irgendein Techniker
erledigt.“ Nächste Woche sollen die detaillierten Ergebnisse des Projekts
und der Atlas vorgestellt werden. Angeschrieben wurden alle
Bürgermeister*innen, die zuständigen Minister*innen und auch der
Bundeskanzler.
„Wir wollen das Potenzial der Digitalisierung für die
Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen, für Wohlstand, Freiheit, soziale
Teilhabe und Nachhaltigkeit nutzen“, [3][steht im Koalitionsvertrag] der
Ampelregierung. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll [4][ab 2025
erstmals auch private Unternehmen] zu digitaler Barrierefreiheit
verpflichten. „Aber mit elementaren Angeboten wie den Internetauftritten
der Kommunen fängt es an“, sagt Miriam Langhoff.
23 Jun 2024
## LINKS
[1] https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/bitv_2_0/BJNR184300011.html
[3] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_…
[4] https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Fachwissen/Produkte-und…
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Digitalisierung
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