| # taz.de -- Misshandlungen behinderter Kinder: Opfer der Anstalten | |
| > Bis in die 1970er-Jahre wurden behinderte Kinder in der Behindertenhilfe | |
| > misshandelt. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf in Hamburg stellt sich | |
| > den eigenen Verfehlungen | |
| Bild: Hinter verschlossenen Türen wurden behinderte Kinder misshandelt | |
| Hamburg taz | „Die haben uns behandelt wie Gefangene“, so betitelte die | |
| Evangelische Stiftung Alsterdorf vor einigen Wochen eine Veranstaltung, bei | |
| der es auch um die eigene Geschichte ging: um die Gewalt und das Unrecht, | |
| die behinderten Kindern und Jugendlichen noch bis in die 1970er-Jahre | |
| hinein in den Anstalten widerfuhren. | |
| Die Geschichte der Anstalten in der Zeit nach 1945 ist bisher nur an | |
| wenigen Orten aufgearbeitet worden. Einer größeren Öffentlichkeit wird erst | |
| langsam klar, was damals dort passiert ist. Und erst seit Kurzem können die | |
| Betroffenen, sofern sie heute noch leben, offen darüber reden, ohne dass | |
| ihre Berichte übergangen oder als unglaubwürdig abgetan werden. | |
| Körperliche Züchtigungen, sexuelle Übergriffe, Isolierung, Fixierung, | |
| Bestrafung mittels Essens- oder Schlafentzug, Demütigungen, Medikation zur | |
| Ruhigstellung gehörten zum Alltag. Es war ein Leben im Getto, weggesperrt | |
| von der Gesellschaft, ohne Aussicht auf ein normales Leben und den | |
| Schwestern und Pflegern, die es nur selten gut meinten, ausgeliefert. | |
| Wieso erfolgte die Aufarbeitung dieser Geschehnisse, das Sprechen darüber | |
| und schließlich auch die Anerkennung als entschädigungsfähiges Unrecht erst | |
| jetzt und erst so spät? Es fällt auf, wie viel heute über die NS-Zeit in | |
| den Anstalten, Heimen und Psychiatrien aufgearbeitet ist und wie wenig über | |
| die Jahrzehnte nach 1945 in eben denselben Anstalten und Heimen. Die Scham, | |
| die die Aufarbeitung der NS-Zeit so lange blockiert hat, spielt | |
| offensichtlich wegen der zeitlichen Nähe hier eine noch wirksamere Rolle. | |
| Vieles, was jetzt berichtet wird, war in den Anstalten und Heimen zwar | |
| immer präsent, es drang aber nicht heraus und es wurde innerhalb wie | |
| außerhalb schamhaft beschwiegen. Diejenigen, die versuchten, es öffentlich | |
| zu machen wie beispielsweise 1979 der Alsterdorfer Kollegenkreis, eine | |
| Gruppe junger, engagierter Mitarbeiter, die die Dinge, die sie während | |
| ihrer Arbeit sahen, einfach nicht hinnehmen wollten, wurden als | |
| Nestbeschmutzer denunziert und von Kündigung bedroht. | |
| Auch die Evangelische Stiftung Alsterdorf, deren langsamer Reformprozess | |
| und später vollzogene Auflösung und Neuorientierung mit den Aktivitäten des | |
| Kollegenkreises eingeleitet wurde, hat die wissenschaftliche Aufarbeitung | |
| der Geschichte der 1950er- bis 1970er-Jahre erst 2012 begonnen und 2013 | |
| publiziert. | |
| Das war lange nachdem der Umzug der Bewohnerinnen und Bewohner in die | |
| Stadtteile, ihre Anerkennung als Bürgerinnen und Bürger und die | |
| Umorientierung der Arbeit von einer gängelnden Betreuung zu einer | |
| Begleitung in ein selbständiges Leben vollzogen war. „Mitten in Hamburg“ | |
| heißt das Buch und will damit nicht den Ort bezeichnen, wo Menschen mit | |
| Behinderung heute angekommen sind, sondern den Ort, wo all das | |
| Ungeheuerliche in den Jahren 1945–1979 stattfand, nämlich mitten in der | |
| Stadt. | |
| „Die Tür war zu, die wurde nur aufgemacht, wenn das Essen gekommen ist“, | |
| berichtet eine Bewohnerin in dem Buch. „Schlagen war ganz normal“, eine | |
| andere. „Man durfte nicht allein sein. Das war das schlimmste“, erzählt ein | |
| Bewohner, der noch heute daran leidet, dass er immer unter der Kontrolle | |
| der Pfleger und der Gruppe sein musste, beim Essen, beim Schlafen und auch | |
| auf der Toilette, auf der es keine Trennwände gab. Was die Betroffenen | |
| erlebt und erlitten haben, welche Traumata damit ausgelöst wurden, wurde | |
| lange Zeit, eine viel zu lange Zeit, nicht für den Skandal gehalten, der es | |
| war. Ganz offensichtlich auch noch weit in die Jahre der Reformen hinein. | |
| Ich greife mir hier auch an die eigene Nase. Haben wir Jüngeren, die wir | |
| Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre neu in den Anstalten angefangen | |
| haben, anpacken wollten und auch zu einem guten Teil angepackt haben, es | |
| ebenfalls nicht ganz ernst genommen? Zu lange hingenommen? Oder gar für so | |
| alltäglich gehalten, dass es des öffentlichen Berichts nicht würdig sei? | |
| Was die Aufarbeitung dieser Zeit zu Tage gebracht hat, sind nicht nur die | |
| unerträglichen Kontinuitäten aus der Zeit vor 1945, sondern auch eine | |
| interessante Binnenwelt der Anstalt. Eine Welt der Abschottung und des | |
| Beharrens auf Altem, aber auch vorsichtigen Annährungen an modernere | |
| pädagogische und therapeutische Vorstellungen – sicherlich nicht untypisch | |
| für viele vergleichbare Einrichtungen der Behindertenhilfe und der | |
| Psychiatrie. | |
| Zur Kontinuität aus der NS-Zeit ist zu sagen, dass 1945 natürlich wie | |
| vielerorts eine neue Leitung kam. Aber wegen des Arbeitskräftemangels und | |
| einer theologisch begründeten Haltung des Vergebens wurden Tätern und | |
| Mittätern „Persilscheine“ ausgestellt, damit sie aus den „Belastungen“… | |
| NS-Zeit unbeschadet herauskamen. | |
| Viele arbeiteten deshalb einfach in Alsterdorf wie in anderen | |
| vergleichbaren Einrichtungen weiter. Sie selektierten dann zwar nicht mehr | |
| die „Schwächsten der Schwachen“ zur Euthanasie, aber sie versahen ihren | |
| Dienst mit derselben Abwertung und Verachtung für die Menschen mit | |
| Behinderung und psychischer Erkrankung wie früher. Es gab, wie in so vielen | |
| anderen gesellschaftlichen Bereichen der Bundesrepublik, 1945 keinen | |
| wirklichen Bruch mit der Vergangenheit. | |
| In diesem Milieu konnten sich die alten Ideen von Zucht und Ordnung, von | |
| Bestrafung und Isolation bei Fehlverhalten und Begünstigung bei | |
| Wohlverhalten natürlich trefflich fortsetzen. Und mit den neuen | |
| medikamentösen Möglichkeiten konnte der Wachsaal zur Dopingstation | |
| mutieren, in dem nicht nur pädagogisches Versagen pharmakologisch | |
| vertuscht, sondern unangepasstes Verhalten drastisch bestraft wurde. Und | |
| die NS-Geschichte selbst wurde– das ist heute hinlänglich bekannt – bis in | |
| die 1980er-Jahre unter Verschluss gehalten. | |
| Aber die Kontinuitäten der Personen und des Denkens können natürlich nicht | |
| alles erklären. Umgeben waren Alsterdorf und die vielen anderen Anstalten | |
| auch immer von einer Gesellschaft, die Abschottung, Ausgrenzung und | |
| Diskriminierung von Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung | |
| nicht nur toleriert hat, sondern auch brauchte und wollte. Nicht anders zu | |
| erklären sind die vielen Neubauten dieser Zeit innerhalb der Anstalten, die | |
| nur den alten Geist in modernerer Form fortgeführt haben. | |
| Interessant ist, dass es auch in früheren Jahren erstaunliche | |
| Reformbemühungen gab. So stammt die erste deutsche Übersetzung des | |
| skandinavischen Normalisierungsprinzips, das die enormen Reformprozesse in | |
| Schweden und Dänemark in den 1970er-Jahren in Gang gesetzt hat, aus | |
| Alsterdorf. Und es gab immer wieder Ansätze, Schule, Arbeit und Therapie | |
| einzuführen. Diese blieben aber stets innerhalb der Anstalt, sodass die | |
| vorsichtigen Annäherungen an die Moderne nur neue Sonderformen in der | |
| Sondereinrichtung hervorbrachten. | |
| Seit vielen Jahren schrie all dies nach einer öffentlichen Anerkennung des | |
| erlittenen Unrechts. Doch erst durch die neue Stiftung „Anerkennung und | |
| Hilfe“, die die Bundesregierung, die Kirchen und die Bundesländer nach | |
| langem Ringen Anfang 2017 ins Leben gerufen haben, werden das Leid und das | |
| Unrecht öffentlich anerkannt und die Betroffenen bei der Bewältigung der | |
| Folgewirkungen unterstützt. Das ist gut so, aber leider auch sehr spät. | |
| Aus den ehemaligen Alsterdorfer Anstalten haben wir bislang 200 Betroffene | |
| erreicht, die noch Anträge stellen können. Natürlich ist das ein Anlass zur | |
| Freude. Aber es mischt sich auch Bitterkeit dazu. Es sind eben nur 200 von | |
| weit über 1.000 potenziell Betroffenen. Die meisten erreicht diese | |
| Anerkennung nicht mehr zu Lebzeiten. | |
| Zu wünschen ist jetzt, dass wirklich alle, die noch leben, erreicht werden | |
| und schnell ihre Anerkennung erhalten. Und zu wünschen ist natürlich, dass | |
| die notwendige Information und niedrigschwellige Erreichbarkeit des | |
| Hilfefonds auch in den anderen Bundesländern in Angriff genommen werden. | |
| Der Eindruck ist, dass dies leider nur sehr schleppend vorangeht. | |
| Mehr über die Vergangenheit der Alsterdorfer Anstalten und ihre | |
| Aufarbeitung lesen Sie im Schwerpunkt in der gedruckten Ausgabe der | |
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| 27 May 2017 | |
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| Michael Wunder | |
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