Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Stumpfes Verwaltungshandeln: Nicht behindert genug
> Der Grad der Behinderung ist entscheidend für den Anspruch auf
> Leistungen. Behördenmitarbeiter prüfen Fälle nur vom Schreibtisch aus und
> liegen oft falsch.
Bild: Körperlich beeinträchtigt und trotzdem zu mobil: Die Behörde entscheid…
Hamburg taz | Als schwerbehindert gilt man ab einem Behinderungsgrad von 50
Prozent. Amidou Sohona hat nur 30 Prozent – dabei ist bei ihm „alles
kaputt“, wie er sagt. Bei einem Unfall auf einer Baustelle in Madrid im
Jahr 2008 erlitt er Verletzungen am Rücken und an den Füßen. Seitdem hat er
Schmerzen: „Gehen tut weh, stehen tut weh, sitzen tut weh“, sagt er. Einen
normalen Job kann er nicht ausüben, aber die Vergünstigungen, Sonderrechte
und Hilfen, die schwerbehinderten Menschen zustehen, bekommt er auch nicht.
Sohona wirft dem zuständigen Versorgungsamt Willkür bei seiner Einstufung
vor. Dies sei kein Einzelfall, sagen Behindertenorganisationen und
JuristInnen.
Wer eine Behinderung hat, kann einen Erstantrag auf einen
Behindertenausweis beim Versorgungsamt stellen. Genaue Angabe zu den
Erkrankungen und den behandelnden Ärzten sind die Grundlage, auf der die
SachbearbeiterInnen die Anträge prüfen. Allerdings ist diese Prüfung häufig
ungenau: Die BehördenmitarbeiterInnen holten zu wenig Gutachten ein,
sprechen nicht mit den Ärzten und den Betroffenen, prüften lediglich „vom
Schreibtisch aus“, sagt Sebastian Tenbergen, Fachanwalt für Sozialrecht und
Mitarbeiter des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen.
„Eine saubere Prüfung findet häufig nicht statt.“
In seiner Kanzlei erreichen Tenbergen viele Mandanten mit ähnlichen
Anliegen wie dem von Amidou Sohona. Häufig lohne es sich, gerichtlich gegen
die Entscheidung des Versorgungsamts vorzugehen, sagt er. Die Ursache für
das Versagen der Behörden sieht er im stumpfen Verwaltungshandeln. Gerade
Schmerzen, wie Sohona sie hat, seien medizinisch schwer zu beurteilen, so
der Jurist: „Man kann sie ja nicht beweisen.“
Ein zentrales Problem sieht Tenbergen außerdem darin, dass multiple
Behinderungen sich in der Berechnung des Behinderungsgrades nicht
automatisch addieren. Wenn man, wie Sohona, am Rücken und am Fuß verletzt
ist, zählt nur die stärkere Beeinträchtigung – die schwächere spielt gar
keine Rolle. Lediglich, wenn beide Beeinträchtigungen sich gegenseitig
verstärken, werden sie auch beide eingerechnet. Das könnte zum Beispiel der
Fall sein, bei jemandem, der sowohl Hüft- als auch Beinprobleme hat, und
die Wechselwirkung dazu führt, dass der/die Betroffene noch schlechter
laufen kann, als mit nur einer Beschwerde.
## Job-Chancen für Menschen mit Behinderung sind sehr schlecht
Auch Ilja Seifert, der stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen
Behindertenverbands in Deutschland, kritisiert diese Regelung deutlich.
Auch er kann aus Erfahrung bestätigen, dass viele behinderte Menschen den
Grad ihrer Behinderung als falsch empfinden. Nur: Sohonas Problem würde es
nicht lösen, wenn er mehr Prozent im Behindertenausweis hätte.
Die „Nachteilsausgleiche“, die schwerbehinderten Menschen zustehen,
bestehen unter anderem in Steuererleichterungen, einem besseren
Kündigungsschutz, mehr Urlaub und weniger Mehrarbeit. Aber Soronha findet
keinen Job – als schwarzer Portugiese mit körperlicher Behinderung hat er
auf dem deutschen Arbeitsmarkt schlechte Chancen. Würde er als
schwerbehindert gelten, wären Unternehmen zumindest verpflichtet, ihn zum
Vorstellungsgespräch einzuladen. So sieht es das Sozialgesetz zur
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vor.
Die Chancen von behinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt seien extrem
schlecht, sagt Seifert. „Die Personaler können ja hinterher ohne Weiteres
sagen, der Bewerber entspreche nicht ihren Vorstellungen.“
Trotz des am 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Teilhabegesetzes, dass die
gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen verbessern sollte, habe
sich die Situation in diesem Punkt nicht verbessert. Was die Aussichten auf
die Zukunft betrifft, ist er pessimistisch: „Da ist keine gute Lösung in
Sicht.“ Was eine gute Lösung sein könnte? Er fordert ChefInnen und
PersonalerInnen auf, mehr Mut zum Einstellen zu zeigen. „Die Menschen
müssen eine Chance kriegen, zu zeigen, was sie können.“
23 May 2017
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
## TAGS
Diskriminierung
Behinderung
Menschen mit Behinderung
Behörden
Leben mit Behinderung
Leben mit Behinderung
UN-Behindertenrechtskonvention
Schwerbehinderter
taz-Kümmern-Serie
Lesestück Recherche und Reportage
Evangelische Kirche
Autismus
Niedersachsen
Schwerpunkt Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Berliner Teilhabegesetz: Ziemlich schwer verständlich
Das Berliner Teilhabegesetz soll das Bundesgesetz umsetzen und die
Selbstbestimmtheit von Menschen mit Behinderungen stärken. Verbände üben
Kritik.
Schwerbehinderten-Vertretung in Bremen: „Es geht um Empathie“
Derzeit werden neue Vertreter*innen für Mitarbeiter*innen mit
Schwerbehinderung gewählt. Sie sollen mehr Inklusion in Betrieben
durchsetzen.
Betreuer über Ekel in der Pflege: Schleim, Haftcreme, Magensonde
„Ich könnte das nicht“ ist der Satz, den Pflegende wieder und wieder höre…
In der Praxis muss jeder mit seinem ganz persönlichen Ekel umgehen.
Menschen mit geistiger Behinderung: Was ist schon normal?
Man muss vermittelt bekommen, behindert zu sein, um selbst zu wissen, dass
man es ist. Ein Einblick in eine betreute Wohneinrichtung.
Menschen mit Behinderung: Vom Wahlrecht ausgeschlossen
Menschen mit Betreuung „in allen Angelegenheiten“ dürfen laut
Bundeswahlgesetz nicht wählen. Wie willkürlich ist diese Regelung?
Misshandlungen behinderter Kinder: Opfer der Anstalten
Bis in die 1970er-Jahre wurden behinderte Kinder in der Behindertenhilfe
misshandelt. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf in Hamburg stellt sich
den eigenen Verfehlungen
Aktivisten mit Behinderungen: Lieber mit Watte werfen
Verständnis oder Aggression – diese Frage stellt sich oft. Aber wie wirken
behinderte Menschen Diskriminierung am besten entgegen?
Bestimmen und Bestimmt werden: Die letzte akzeptierte Diskriminierung
Steven Solbrig hat für die Serie „Sich Selbst Bestimmen“ Menschen mit
Behinderung fotografiert, die sich für die Aufnahmen selbst inszenierten.
Ein Porträt.
Pädagogin über Ausgrenzung in Kitas: „Es ist wichtig, nicht einzuknicken“
In Kitas kommen Kinder unterschiedlichster Herkunft zusammen. Immer wieder
erleben schon Kleinkinder dabei auch Diskriminierung und Ausgrenzung.
Seid Ra'ad al-Husseins Rede im Wortlaut: „Ich bin zornig“
„Von allen gewählt, fast allen gegenüber kritisch“: Die Brandrede des
UN-Menschenrechtskommissars Zeid Ra'ad Al Hussein im Wortlaut.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.