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# taz.de -- Betreuer über Ekel in der Pflege: Schleim, Haftcreme, Magensonde
> „Ich könnte das nicht“ ist der Satz, den Pflegende wieder und wieder
> hören. In der Praxis muss jeder mit seinem ganz persönlichen Ekel
> umgehen.
Bild: Ohne die Hilfe von Pflegern oder Pflegerinnen geht fast nichts
Kalle hat Nasenbluten. Er saß auf dem Klo, als es anfing. Es hat ihn nicht
sonderlich interessiert, dass er Nasenbluten hat, er war anderweitig
beschäftigt. Er muss sich wohl immer wieder ins Gesicht gefasst haben,
dahin, wo es warm heraustropfte; er hat sich sein gesamtes Gesicht
eingeschmiert, die Brille, die Haare, die Kleidung, bis in die Sandalen
hinein ist das Blut gelaufen. Natürlich ist auch das Bad vollständig
eingekleistert, überall Handabdrücke aus Blut, einzelne Tropfen, auf dem
Boden ganze Lachen. Er muss sich mit dem Duschvorhang abgeputzt haben, die
Schlieren haben ein zartes Muster auf dem weißen Plastik hinterlassen.
„Ich könnte das nicht.“ Diesen Satz hören Pfleger oft. „Das“, das ist…
Ekelhafte, die Körperflüssigkeiten, Schleim und Rotz und Blut und Kot.
„Das“, das ist Pflege, die Nähe zu kranken, kaputten, hilfebedürftigen
Körpern, das Waschen, das Arschabwischen. Das ist, so sagen es die
Hygieneforscher, evolutionär vernünftig, denn so vermied die Menschheit
den Kontakt mit Krankheitserregern und Parasiten. Ohne Ekel, heißt es, wäre
die Menschheit längst ausgestorben.
Ich habe in der Pflege zwei Arten Ekel kennengelernt. Der hygienische Ekel,
diese spontane Reaktion des Körpers auf unangenehme Gerüche, ist das eine.
Als ich 17 wahr, arbeitete ich die Sommerferien über in einem Altenheim. An
meinem ersten Tag, nach einer kurzen Einführung, wurde ich zusammen mit
einer erfahreneren Kollegin in ein Schlafzimmer geschickt, dessen
Bewohnerin die Nacht über Durchfall hatte. Ich erspare hier allen die
Details, es war ein Schlachtfest, wie es sich selbst nicht zu denken
getraut hätte. Ich habe viermal in den Mülleimer gekotzt, bis wir nach
einer Stunde das Zimmer sauber hatten.
Diese Form des Ekels lässt sich abtrainieren. Ich finde Exkremente und
andere Körperflüssigkeiten immer noch unappetitlich, und bisweilen würgt es
mich auch noch, aber es ist inzwischen vor allem eines: unbequem. Ein
eingenässtes Bett macht Arbeit, das ist nicht schön, aber auch nicht
dramatisch.
Interessanterweise bleiben bei den meisten Kollegen einzelne
Unappetitlichkeiten tabu. Als ich auf der Gruppe begann, sagte mir ein
Kollege, der seit 25 Jahren in dem Bereich arbeitete, es gäbe zwei Dinge,
an die er sich nie habe gewöhnen können: epileptische Anfälle und der
Geruch von Scheiße.
## Die andere Sorte Ekel
Nach und nach stellte sich heraus, dass jeder der Kollegen mit einer
anderen Idiosynkrasie zu kämpfen hatte: Die eine konnte kein Blut sehen,
der andere fand die Haftcreme für Zahnprothesen abstoßend, die Dritte hatte
Schwierigkeiten mit dem Säubern der Magensonde. Ich persönlich komme sehr
schlecht mit Schleim zurecht.
Es gibt noch eine andere Sorte Ekel, den existenzialistischen, den
Überdruss. Dass Kalle das komplette Bad vollgeblutet hatte, nun ja. Nicht
schön, anstrengend, das alles sauber zu machen, aber keine Tragödie.
Das Problem ist: Kalle ist Bluter. Er hat einen Faktor-Mangel, der
verhindert, dass sich seine Wunden von selbst schließen. Früher wäre eine
solche Blutung potenziell lebensbedrohlich gewesen, aber Kalle ist
inzwischen medikamentös gut eingestellt; kleinere Verletzungen sind in der
Regel gut mit Verband und Notfallmedikation zu behandeln.
## „Iiiihhhh! Iiiiihhhh!“
In der Regel. Ich gebe ihm also seine Notfallmedikation und drehe ihm aus
Mull ein Tampon für die Nase. Dann begebe ich mich zum Bad, um alles
großflächig zu säubern und zu desinfizieren. Ich bin keine fünf Minuten
weg, da schreit eine Mitbewohnerin: „Iiiihhhh! Iiiiihhhh!“
Auf dem Sofa sitzt Kalle, den Pfropfen in der Hand, den Finger der anderen
Hand im blutigen Nasenloch, und schaut ungerührt einen Bud-Spencer-Film.
Das Blut läuft ihm über den Finger auf den Pullover.
Ich brülle. Das sollte ich nicht. Das ist falsch, aber ich kann
schlechterdings nicht an mich halten. Karl sieht mich erschrocken an. Er
hat diese unendliche Leere im Blick, hinter seinen Augen kann ich einzelne
Gedanken wie in ein Glas fallen sehen: pling. Dann lange nichts. Noch mal
pling. Dann wieder nichts. Das Blut läuft auf sein T-Shirt, unablässig und
in großen Tropfen, es stört ihn nicht. Dafür bin ja ich da, damit das
jemanden stört.
## Souverän und distanziert
Man sollte als Pfleger ruhig bleiben, souverän und distanziert. Das ist
meine Professionalität, das ist, was Arbeit- und Gesetzgeber, mithin die
Gesellschaft, von mir erwarten; Geduld ist, denke ich, die zentrale
Eigenschaft in der Arbeit mit Menschen (Humor hilft). Ich bin Mittel zum
Zweck, ich soll den Bewohnern ermöglichen, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu
verwirklichen und Gefahren von ihnen abhalten; dass ich mich um ihr
körperliches und seelisches Wohlbefinden derart sorge, als hätte ich
selbst im Job keines.
Das ist deswegen schwierig, weil sich die Bewohner den Pflegern natürlich
sehr nah fühlen – es vergeht kein Dienst, in dem mich Kalle nicht
mindestens dreimal fragt, ob ich ihn liebhabe, und Ähnliches gilt auch für
die anderen Bewohner. Und es lässt die wenigsten unbeeindruckt; die
Zuneigung und Sympathie, die man entgegengebracht bekommt, spiegelt. Ich
finde alle meine Bewohner toll.
Zumindest meistens. Und eine Zeit lang. Es ist freilich so, dass sich
geistig Behinderte langsamer entwickeln als andere Menschen; das ist, was
man mit „geringerer Intelligenz“ medizinisch zu umschreiben sucht.
Entsprechend entwickelt sich auch jede Form der Beziehung langsamer. Keiner
meiner Bewohner hat einen Begriff davon, wer ich bin, als Individuum; ich
bin eine Funktion, ich stelle sicher, dass das Essen da ist und jeder
seiner Medikamente bekommt.
Wenn ich gehe, haben sie mich bald vergessen, und das ist auch ganz gut so;
es wäre für die Bewohner schwer auszuhalten, wenn ihnen jedes Mal das Herz
blutete, sobald einer der Betreuer geht. Wir sind ein Team von sieben
Leuten, in fünf Jahren habe ich sieben Leute kündigen sehen. Inzwischen bin
ich einer der Dienstälteren. Obwohl man als Pfleger mit seiner ganzen
Persönlichkeit einsteht, muss man ersetzbar bleiben.
## Das Blut tropft und tropft
Auch jetzt fragt Kalle mich wieder, ob ich ihn lieb habe; er ist
verunsichert. Er weiß nicht, was er falsch gemacht hat; er weiß nicht,
warum ich gebrüllt habe. Er versteht nicht, was genau jetzt passiert ist.
Ich zeige auf sein T-Shirt, mir fehlen die Worte, ich gestikuliere im
Leerlauf. „Ach so“, sagt Kalle, dann kuckt er wieder in den Fernseher. Das
Blut tropft weiter, blub, blub, blub.
Das sind Situationen, die mich sehr müde machen. Es sind Momente des tiefen
Ekels. Es ist nicht das Blut. Das Blut ist mehr unbequem als widerlich, es
macht eben Mühe, das wieder in Ordnung zu bringen. Es ist viel schlimmer:
Es ist Kalle selbst, der mich müde macht.
Der Punkt kommt unweigerlich, früher oder später: dass man seiner Bewohner
überdrüssig ist. Ihre schiere Existenz, ihr Sosein, das einen in der
täglichen Arbeit behindert, das macht, dass nichts klappt, wie es soll,
obwohl man es doch so oft . . . Himmelherrgott, warum kann das nicht
einfach . . .
Die Existenzialisten hatten schon recht, die schiere Existenz des anderen
ist bisweilen eine kaum aushaltbare Zumutung. Nirgends spürt man das
deutlicher als in der Pflege.
Meistens verfliegt der Ärger wieder. Man kompensiert. Ein gutes Team hilft,
mit dem man zusammen schimpfen und lachen kann; Zumutungen nicht persönlich
nehmen (so sind sie ja auch nur selten gemeint).
Es gibt Kollegen, die schaffen das ein Leben lang mit den gleichen
Personen, ich habe da großen Respekt vor. Andere gehen schneller, und es
ist wichtig, dass man rechtzeitig merkt, wann es Zeit wird. Wann der
Überdruss zu stark wird.
Kalles Nase hat dann aufgehört zu bluten. Das nächste Mal schneide ich ihm
einfach den Zeigefinger ab, denke ich, während Kalle mir erzählt, wem Bud
Spencer alles eine reingehauen hat. Dann zögert er kurz und fragt: „Ist das
schlimm? Mit dem Blut?“
5 Jul 2017
## AUTOREN
Frederic Valin
Frédéric Valin
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