# taz.de -- Kein Bock auf Festanstellung in der Pflege: Letzter Ausweg Leiharbe… | |
> Innerhalb eines Jahres ist der Anteil von Pflegenden in der Leiharbeit um | |
> 20 Prozent gestiegen. Die Arbeitsbelastung ist geringer, die Bezahlung | |
> oft besser. | |
Bild: Als Zeitarbeiter in der Pflege muss man keine Überstunden leisten | |
BREMEN taz | Als sich Ende Juni der Bundesgesundheitsminister mit seinen | |
LänderkollegInnen in Bremen traf, ging das Pflegepersonal auf die Straße, | |
um „Rabatz für gute Pflege“ zu machen. Die Demo war eine Aktion der | |
Gewerkschaft Ver.di, die vor allem verbindliche und bessere | |
Personalschlüssel in Kliniken und Altenheimen fordert. Denn die | |
Arbeitsbedingungen sind so schlecht, dass sich Pflegende mittlerweile | |
freiwillig von Leiharbeitsfirmen beschäftigen lassen. | |
Außer in bestimmten Bereichen – wie zum Beispiel auf Frühgeborenenstationen | |
– können Krankenhäuser ihren Personalschlüssel weitestgehend selbst | |
bestimmen. „Und hier tun sich die privaten Konzerne wie Helios, Ameos und | |
Co., die ja Gewinn machen wollen, besonders negativ hervor“, sagt Jörn | |
Bracker, Ver.di-Sekretär für Bremen und Nordniedersachsen. | |
Gewinn machen Kliniken mit den sogenannten „Fallpauschalen“: Sie bekommen | |
nicht mehr wie früher Geld pro Liegetag eines Patienten, sondern seit 2004 | |
pro „Fall“. Das bedeutet, dass es immer die gleiche Summe gibt – egal wie | |
schwer oder leicht ein Krankheitsverlauf ist und egal wie lange ein Patient | |
im Krankenhaus liegen muss. Die Fallpauschale hat aus Kostengründen oft zur | |
Folge, dass PatientInnen viel zu früh entlassen werden – aber auch, dass | |
sie schlecht versorgt werden: Denn je weniger Pflegepersonal eingesetzt | |
wird, umso mehr Geld bleibt übrig. | |
Während die Fallzahl in Krankenhäusern von 1995 bis 2014 um knapp zwölf | |
Prozent gestiegen ist, hat die Zahl der Pflegekräfte in dieser Zeit um gut | |
13 Prozent abgenommen. Das bedeutet: Immer weniger Pflegende müssen sich um | |
immer mehr akut kranke, also pflegeintensive PatientInnen kümmern.„Das | |
Pflegepersonal ist am Limit“, sagt Bracker und berichtet von „immer mehr | |
Pflegenden, die sich in Teilzeit flüchten und dann als Nebenjob lieber | |
irgendetwas völlig anderes machen“ und von Auszubildenden, die nach ihrem | |
Examen keinen einzigen Tag mehr in der Pflege arbeiteten. Statt einer | |
Praxisanleitung müssten sie während der Ausbildung oft bloß Personallücken | |
stopfen. | |
## „Der Arbeitsdruck bei den Festangestellten ist zu hoch“ | |
Eine einzige Nachtwache sei nicht selten für 20 bis 30 PatientInnen | |
zuständig: „Viele wollen deswegen gar keinen Nachtdienst mehr machen“, sagt | |
Bracker. Und während die einen ihre Stellen reduzieren oder den Beruf | |
wechseln, setzen andere auf Leiharbeit: Laut einer statistischen | |
Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit im Auftrag des | |
Interessenverbandes Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) hat sich von | |
Juni 2016 bis Juni 2017 die Zahl der in der Zeitarbeit tätigen Pflegekräfte | |
um 20 Prozent erhöht. | |
„Der Arbeitsdruck bei den Festangestellten ist zu hoch“, begründet | |
IGZ-Sprecher Wolfram Linke diese Entwicklung. „Und aufgrund des | |
Fachkräftemangels können die Pflegenden gegenüber den Leiharbeitsfirmen | |
sowohl ihre Bedingungen als auch ihre Preise diktieren.“ Die Bezahlung sei | |
deswegen „mindestens genauso hoch, als wenn sie fest angestellt wären – oft | |
sogar noch höher“. | |
Absurd, denn während die Kliniken am Personal sparen, müssen sie an die | |
Leiharbeitsfirmen ungleich mehr zahlen als an einen direkt Angestellten: | |
„Das stimmt, aber was sollen sie machen, wenn sie niemanden finden?“, sagt | |
Linke. Viele Kliniken würden Stellen ausschreiben und dann auf externe | |
Kräfte zurückgreifen, weil sich schlicht niemand direkt bei ihnen beworben | |
habe. | |
## Keine Überstunden und Doppelschichten | |
In seinem [1][Weblog „Pflegebild“] schreibt Blogbetreiber und Pfleger Tim | |
Schenk über seine Erfahrungen in der Zeitarbeit: „Als Festangestellter | |
wurde ich und viele von euch sicher auch mit der Zeit als ‚Kollegenschwein‘ | |
bezeichnet, wenn man hier nicht einspringe, da keine Überstunden leistet | |
und dort keine Doppelschicht kloppt, dies habe ich als Zeitarbeiter nicht.“ | |
Und er bestätigt die Einschätzung des IGZ: „Die Bezahlung ist meistens | |
genauso oder besser als ein fest angestellter Mitarbeiter.“ | |
Auch Bracker weist auf einen Fallstrick hin: „Aber Fakt bleibt auch, dass | |
diese KollegInnen als erste entlassen werden, wenn es mal nicht mehr | |
läuft.“ Und: je mehr LeiharbeiterInnen, umso kleiner die ohnehin schon | |
überlastete Stammbelegschaft in den Kliniken. Die Flucht in die Leiharbeit, | |
so Bracker, sei auf jeden Fall ein weiteres Alarmsignal für die schlechten | |
Arbeitsbedingungen in der Pflege. | |
Ver.di hat mit den bundesweiten „Appellen für gute Pflege“ fast eine | |
viertel Millionen Unterschriften gesammelt und sie | |
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) überreicht: „Wir fordern, | |
dass sofort nach der Bundestagswahl deutschlandweit mindestens 20.000 | |
Stellen geschaffen werden.“ | |
11 Jul 2017 | |
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[1] https://www.pflegebild.net/ | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
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