| # taz.de -- Grüner Janosch Dahmen über Pandemie: „Es gab keine Reserven“ | |
| > Der Grünen-Politiker und Arzt im Gespräch über die Lehren aus Corona und | |
| > die Zukunft der Intensivstationen in deutschen Krankenhäusern. | |
| Bild: Patient auf einer Intensivstation wird automatisch überwacht | |
| taz am wochenende: Herr Dahmen, für die Kontaktbeschränkungen wegen Corona | |
| wurden vor allem zwei Argumente angeführt: die Gefahr des exponentiellen | |
| Wachstums der Infektionen und die drohende Überlastung des | |
| Gesundheitssystems. War Letzteres auch selbstverschuldet, weil wir auf eine | |
| solche Situation schlecht vorbereitet waren? | |
| Janosch Dahmen: Wir mussten in der Pandemie schmerzhaft lernen, welche | |
| Folgen eine starke Ökonomisierung der Krankenhäuser hat. Wir betreiben im | |
| Alltag ein System, dass sich nur unter Volllast rechnet. An manchen Stellen | |
| gibt es keine Reserven. Wenn dann eine schwere Krise kommt, gerät die | |
| Versorgung sehr schnell an ihre Grenze. | |
| Ein besonderes Nadelöhr sind die Betten auf den Intensivstationen der | |
| Krankenhäuser. Haben wir davon zu wenige, um auf einen Notfall wie Corona | |
| richtig reagieren zu können? | |
| Auf dem Papier stehen große Kapazitäten. Für die Notlage sind sie aber | |
| teilweise nicht geeignet. Wir haben zwar viele Intensivbetten, doch vor | |
| allem in kleinen Krankenhäusern fehlt es beispielsweise an ausreichend | |
| qualifiziertem Personal, aber auch spezieller Ausstattung wie etwa | |
| [1][ECMO-Geräten], die das Blut schwerkranker Corona-Patient:innen | |
| außerhalb des Körpers mit Sauerstoff anreichern. Auch in größeren | |
| medizinischen Zentren haben wir einen Mangel an hochspezialisierten | |
| Versorgungsmöglichkeiten. Insbesondere brauchen wir mehr in der | |
| Intensivmedizin ausgebildetes Personal. | |
| Gegenwärtig gibt es in hiesigen Krankenhäusern knapp 23.000 Intensivbetten | |
| mit Personal plus 10.000 in Reserve, für die bei Bedarf Pfleger:innen | |
| und Ärzt:innen woanders abgezogen werden müssen. Hätten wir | |
| beispielsweise 60.000 Intensivbetten, würde die Belastungsgrenze später | |
| erreicht. Könnten dann Beschränkungen, etwa eine Ausgangssperre, zumindest | |
| einige Wochen hinausgezögert werden? | |
| Der Shutdown und die anderen Schutzmaßnahmen dienten ja nicht nur dazu, das | |
| Gesundheitssystem vor der Überlastung zu schützen. Sie sollten auch eine | |
| große Zahl lebenslang erkrankter Menschen und die Todesfälle verringern. | |
| Gleichwohl gehört es sicherlich zu den Lehren der Pandemie, dass eine | |
| angemessene Notfallreserve den Zeitpunkt hinausschiebt, an dem nicht mehr | |
| alle Menschen bestmöglich versorgt werden können. Künftig brauchen wir eine | |
| bessere Vorbereitung und mehr Vorhaltung von Personal für | |
| Katastrophenfälle. Die Feuerwehr bezahlen wir ja auch nicht nach der Zahl | |
| der Brände im Alltag, sondern statten sie präventiv so aus, dass sie in | |
| großen Krisen gut funktioniert. | |
| Wie viele Intensivbetten sind nötig? | |
| Neben den 23.000 vorhandenen Betten sollte eine echte Reserve mit 10.000 | |
| Plätzen zur Verfügung stehen. | |
| So ist es doch heute schon. | |
| Nein, das sieht nur so aus. Wie es wirklich ist, wissen wir nicht. In der | |
| Intensivmedizin fehlt eine genaue Definition, was unterschiedliche | |
| Kategorien von Versorgungseinheiten sind. Wir brauchen dringend eine | |
| einheitliche Klassifizierung, Einstufung und Ausweitung der Datengrundlage | |
| im Intensivregister, wie die Betten und das Personal der Stationen | |
| tagesaktuell ausgestattet sind. | |
| Offenbar gibt es hierzulande keine vernünftige Krankenhausplanung. Auch die | |
| Intensivmedizin scheint sich urwüchsig entwickelt zu haben. Ist das ein | |
| Grund dafür, dass die Versorgung heute zu schlecht ist? | |
| Absolut. Die Krankenhauslandschaft orientiert sich nicht an den | |
| Bedürfnissen der Kranken, sondern überwiegend an historisch gewachsenen | |
| Strukturen. Es fehlt an Einheitlichkeit, klaren Vorgaben und Standards in | |
| der Krankenhausplanung. Die Bundesländer haben formal die Planungshoheit, | |
| doch sie können und wollen sich nicht gegen lokale Interessen und die | |
| Betreiber durchsetzen. Schlecht ausgestattete Häuser, die oft nicht nur | |
| wirtschaftliche sondern auch qualitative Defizite haben, werden am Leben | |
| erhalten. Und neue dort, wo dies erforderlich wäre, kaum gebaut, auch weil | |
| die Länder seit Jahren die Investitionsmittel nicht bereitstellen. | |
| Wie kann sich das ändern? | |
| Der Bund sollte künftig Vorgaben machen dürfen und im Gegenzug selbst auch | |
| investieren, um die notwendige Qualität für alle zu gewährleisten. Ein | |
| Fokus muss dabei sein, dass uns auf dem Land oft Notfall-Stützpunkte | |
| fehlen, die dezentral die Erstbehandlung oder Notfallabklärung wohnortnah | |
| sicherstellen. Für die spezialisierte weitere Versorgung brauchen wir | |
| außerdem absehbar ein gewisses Maß an Zentralisierung in großen Häusern. | |
| Seit Jahrzehnten wird versucht, die Kosten im Gesundheitswesen zu drücken. | |
| Die Zahl der Kliniken sinkt. Viele werden privatisiert oder schließen. Im | |
| Vergleich zu früher verbringen Patient:innen heute weniger Zeit auf der | |
| Station. Verschlechtert diese Politik die Versorgung im Alltag – und auch | |
| in Katastrophenfällen? | |
| Das Gesundheitssystem krankt an Ökonomisierung. Dieser Kurs, der vor allem | |
| auf die CDU zurückgeht, hat zur Verschlechterung der Versorgung wie auch | |
| der Arbeitsbedingungen geführt. Wir brauchen das Gesundheitssystem zur | |
| Daseinsvorsorge für die Bevölkerung, nicht zur Erwirtschaftung hoher | |
| Dividenden für Unternehmen. | |
| War das System in der Coronazeit an der Belastungsgrenze? | |
| Ja. Das Pflegepersonal arbeitete vorher im Alltag schon unter Volllast. | |
| Reserven für eine Krise gab es nicht. Das war so, als wenn die Feuerwehr zu | |
| einem Großbrand mit drei Löschfahrzeugen ausrückt, anstatt mit der nötigen | |
| Zahl. Viele Pflegekräfte arbeiten an der Grenze zum Burn-out. Dieser | |
| Zustand hielt während der drei Corona-Wellen an. Zwischendurch wurden | |
| verschobene Operationen nachgeholt. Für die Pfleger:innen gibt es | |
| einfach keine Erholungsphase. | |
| Seit August 2020 ist die Zahl der Intensivbetten in Deutschland um etwa | |
| 5.000 zurückgegangen – anscheinend ein Zeichen für die Überlastung des | |
| Pflegepersonals. Was muss sich ändern? | |
| Es sollten mehr Leute ausgebildet und eingestellt werden. Die | |
| Wochenarbeitszeit muss sinken und die Arbeit auf mehr Schultern verteilt | |
| werden. Das kann der Bund durchsetzen, indem er die Vorgaben für den | |
| Betreuungsschlüssel pro Behandlungsfall ändert. Die Beschäftigten würden | |
| weniger an Wochenenden und Feiertagen arbeiten müssen, sie könnten ihr | |
| Privatleben wieder planen, das Gefühl des Ausgeliefertseins nähme ab. Und | |
| trotzdem müsste man wohl auch das Fachpersonal in größeren Kliniken | |
| bündeln. | |
| Eine Zentralisierung. Weniger, aber größere Intensivstationen? | |
| Pflegepersonal ist knapp, und wird es wohl auch bleiben. Deshalb wäre es | |
| besser, die vorhandenen Kräfte eher auf großen Stationen einzusetzen, als | |
| ein bisschen, aber stets zu wenig Personal in vielen kleinen | |
| Krankenhäusern. Ein größerer Personalpool kann mehr Flexibilität und damit | |
| weniger Belastung der einzelnen Pflegekräfte ermöglichen. Im Übrigen können | |
| zentrale Einrichtungen die Patient:innen beispielsweise besser mit | |
| hochspezialisierten Therapieverfahren wie etwa einer ECMO versorgen als | |
| kleine Häuser, die damit überfordert wären. | |
| In der Intensivmedizin schlagen Sie eine Abkehr von den sogenannten | |
| Fallpauschalen vor. Warum sind die hinderlich? | |
| Heute bekommen die Kliniken für bestimmte Behandlungen bestimmte | |
| Geldbeträge von den Krankenkassen. Je mehr Patient:innen, je kürzer die | |
| Liegezeit, je weniger Personaleinsatz, desto mehr verdient der Betreiber. | |
| Das ist keine gute Lösung, weder für die Kranken, noch für das Personal. | |
| Für die Intensiv- und Notfallmedizin brauchen wir eine Abkehr vom System | |
| der [2][Fallpauschalen]. Stattdessen sollten wir notwendige Kapazitäten, | |
| Ausstattung und Versorgungsqualität definieren, die für den Notfall | |
| vorgehalten und unabhängig von Behandlungen auch finanziert werden. | |
| Allenfalls beim Materialverbrauch machen Fallpauschalen in diesem Bereich | |
| weiter Sinn. | |
| Das wird dann allerdings teurer als heute. | |
| Eine solche Reform produziert nicht nur Mehrkosten. Vorhandene Mittel | |
| würden auch effektiver eingesetzt und die Patient:innen vor allem | |
| besser versorgt. | |
| 31 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/116907/COVID-19-Mehrheit-der-Patient… | |
| [2] https://www.aerzteblatt.de/archiv/34876/Fallpauschalen-im-Krankenhaus-Das-E… | |
| ## AUTOREN | |
| Hannes Koch | |
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