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# taz.de -- Gesundheitsversorgung in Deutschland: Diagnose Gewinnsucht
> Das deutsche Gesundheitssystem ist auf Profite ausgerichtet. Die
> Patientinnen bleiben dabei auf der Strecke.
Bild: Was hier geschieht, hat oft mehr finanzielle denn medizinische Gründe
Vor der letzten Bundestagswahl hatte ich versucht, mir einen Überblick über
die gesundheitspolitischen Vorstellungen der zur Wahl stehenden Parteien zu
verschaffen. Das war gar nicht so einfach, denn das Thema fand im Wahlkampf
kaum Erwähnung, von einigen wenigen Schlagzeilen abgesehen wie: „Tod durch
[1][Hygienemängel]!“ „Profitgier von Ärztinnen führt zu [2][unnötigen
Operationen]“. [3][Schwarzen Schafen] musste das Handwerk gelegt, strengere
Kontrollen mussten eingeführt werden.
Dann kam Covid-19, und unser Gesundheitssystem wurde zum Medienstar. Es war
präsent von der intellektuellen Wochenzeitung bis hin zur
Stammtisch-Whatsapp-Gruppe. Hauptsächlich wurde es gefeiert, doch es gab
auch kritische Stimmen. Die Kapazitäten der Intensivstationen wurden
thematisiert und der Mangel an Impfstoffen, es gab Verschwörungstheorien,
aber ja, natürlich, es gab auch den [4][Applaus für das fleißige
Pflegepersonal].
Jetzt stehen wieder Wahlen an, und damit besteht die Chance, Dinge zu
verbessern. Gleichzeitig wird es um das Gesundheitswesen stiller. Dabei hat
sich nichts verändert. Profitorientierte Mediziner, Hygienemängel und
fehlendes Pflegepersonal, diskussionswürdige [5][Kapazitäten der
Intensivstationen], fehlende Ressourcen hier, Überkapazitäten dort. All das
sind Symptome. Die eigentliche Frage ist: Warum ist es so? Die Antwort
lautet: Es geht ums Geld.
Weil wir unser Gesundheitssystem genau so eingerichtet haben. Wir vertrauen
auf die Gesetze der Marktwirtschaft und die sollen dazu führen, dass
Patienten immer besser und effektiver behandelt werden. Es gibt aber drei
grundsätzliche logische Fehler, die das verhindern: 1. Marktwirtschaft
bedeutet Konkurrenz. Es setzt sich durch, wer mit geringstem Aufwand den
größten Profit erzielt.
Deshalb werden Chefärztinnen in unseren Kliniken nicht nach ihrer
medizinischen Kompetenz ausgewählt, sondern danach, ob sie Gewinne
versprechen. Deshalb werden mit diesen Chefärztinnen nicht medizinische,
sondern wirtschaftliche Ziele vereinbart. Deshalb ist das medizinische
Angebot nicht danach ausgerichtet, was nötig ist, sondern was Profit
verspricht. Die Verantwortung dafür liegt nicht bei den Klinikkonzernen.
Wir sind es, die von ihnen verlangen, dass sie Gewinne machen.
## Profitgier ist des Pudels Kern
Niemand kann zwei Herren dienen. Die höchste Priorität können wir entweder
dem Wohl der Patientinnen einräumen oder der Gewinnmaximierung. Beides
gleichzeitig geht nicht, deshalb müssen wir uns entscheiden. Das tun wir
aber nicht. Stattdessen modifizieren wir das marktwirtschaftliche System
ein wenig. Und damit sind wir bei Fehler Nummer 2: Üblicherweise verstehen
wir unter Marktwirtschaft das, was auf einem Wochenmarkt geschieht: Ich,
der Kunde, habe Verlangen nach Äpfeln.
Ich vergleiche die Ware und die Preise der verschiedenen Anbieterinnen und
entscheide mich für die, deren Preis-Leistungs-Verhältnis mir am
günstigsten erscheint. Sagen mir die gekauften Äpfel zu, werde ich die
Händlerin häufiger besuchen und weiterempfehlen. Wäre der Wochenmarkt
organisiert wie unser modifiziert-marktwirtschaftliches Gesundheitswesen,
liefe es dagegen folgendermaßen ab: Die Verkäuferin bestimmt, ob ich einen
Apfel brauche.
Ein Kartell aus Händlerinnen und Geldeintreiberinnen plant, woher ich das
Obst beziehen kann. Die Geldeintreiberinnen ziehen nach ihrem Gutdünken
regelmäßig von allen Beteiligten Geld ein, verhandeln die Preise, zahlen
die Äpfel und beurteilen, ob sie den Preis wert sind. Ich erfahre weder,
welche Äpfel ich bekommen habe, noch weiß ich, wer an wen welchen Betrag
zahlt. Marktwirtschaft? Hier denkt man eher an [6][Vito Corleone] als an
[7][Ludwig Erhard].
Also schreiten wir ein – und zwar mit Kontrollen. Wenn es sein muss, sogar
mit noch schärferen Kontrollen. Und damit wären wir beim 3. und fatalsten
Fehler: Wir machen aus unserer Gesundheitsversorgung ein Spiel. Ich nenne
es das Kuchenspiel: Es gibt einen Kuchen von begrenzter Größe. Der steht
allen Akteurinnen zur Verfügung, und er wurde dafür geschaffen, Kranke
gesund zu machen.
## Kampf um den Kuchen
Weil es sich um ein marktwirtschaftliches Spiel handelt, wird von allen
Mitspielerinnen gefordert, dass sie versuchen, das größte Kuchenstück zu
bekommen. Der Kampf ist hart. Jeder Spielzug verbraucht Kuchen, wer keinen
mehr hat, fliegt raus. Es geht also nicht ohne Tricks: Einen Teil ihres
Kuchens setzen die Spielerinnen nicht zum Wohl der Patientinnen ein,
sondern dafür, bessere Positionen im Spiel zu erreichen und sich damit
weiteren Kuchen zu sichern. Das fällt natürlich irgendwann auf.
Also beschließt man, Kontrolleurinnen in das Spiel einzuführen, um die
Tricksereien einzuschränken. Damit erhöht sich die Zahl der
Mitspielerinnen, und es wird mehr Kuchen verbraucht. Die jetzt größere Zahl
an Spielerinnen muss um den schrumpfenden Kuchen weiterkämpfen. Um die
Chancen zu verbessern, werden die Mannschaften verstärkt. Man braucht
zusätzliches Personal, das darauf spezialisiert ist, trotz der Kontrollen
aus dem dezimierten Kuchen ein noch größeres Stück herauszuholen.
Die Zahl der Spielerinnen nimmt damit weiter zu, weitere Mittel werden
verbraucht, und weiter schrumpft der Kuchen. Den neuen Tricks wird mit
neuen Kontrollen begegnet, und schon bewegt man sich im Teufelskreis. Der
Kuchen schwindet dahin, immer mehr Ressourcen werden dafür aufgebraucht, zu
kontrollieren und Kontrollen zu umgehen. Für die Versorgung der Kranken
bleibt immer weniger übrig.
Wir haben also ein Gesundheitswesen, das erstens auf Profit ausgerichtet
ist, das zweitens nach dem Vorbild der Mafia organisiert ist und das sich
drittens selbst auszehrt. Es ist offensichtlich, dass dieses System keine
optimale medizinische Versorgung gewährleisten kann. Aber warum haben wir
es nicht schon längst geändert? Wieder ist die Antwort so simpel wie
eindeutig: Weil viele daran verdienen: Krankenkassen, Krankenhauskonzerne,
Ärztinnen, Apothekerinnen und Pharmafirmen.
## Zu viel Kontrolle, zu viel Personal
Das verdiente Geld und ihren Einfluss nutzen sie, um die Politik in ihrem
Sinn zu beeinflussen. Nicht heimlich, sondern ganz offiziell: Das höchste
Beschlussgremium in unserem Gesundheitswesen ist der „Gemeinsame
Bundesausschuss“. Er setzt sich zusammen aus den Interessenvertreterinnen
der niedergelassenen Ärztinnen und Zahnärztinnen, der Krankenkassen und der
Krankenhauskonzerne. Genau diejenigen, die vom derzeitigen System
profitieren.
Die Profiteurinnen des Status quo entscheiden darüber, ob sich etwas ändern
soll. Wen wundert es, dass sich so wenig bewegt? Gesundheitspolitikerinnen
folgen dem, was die Expertinnen empfehlen: Sie spielen das begonnene Spiel
immer weiter mit neuen Kontrollen und Vorschriften. Was also ließe sich
ändern? Zunächst einmal die ignorante Arroganz, mit der die Vorstände der
Medizinkonzerne im Einklang mit den Regierenden behaupten, unser System sei
im Grunde alternativlos.
Dafür gibt es nicht den geringsten Beleg. Tatsächlich kompensieren wir nur
durch den Aufwand von sehr viel Geld die offensichtlichen Schwächen unseres
Gesundheitssystems. Neue Denkansätze sind gefragt, eine breite, lebhafte,
fantasievolle, kontroverse und tabulose Diskussion darüber, wie wir Medizin
in unserem Land besser organisieren können. Es gibt Alternativen:
staatliche Gesundheitssysteme zum Beispiel.
Hier regeln nicht undurchschaubare Kartelle, sondern gewählte
Volksvertreter den Umgang mit Leib und Leben von Patientinnen. Halt!,
werden hier viele rufen. Staatlich – das bedeutet Kommunismus! Keine
Leistungsanreize, Schlendrian, schludriger Umgang mit Ressourcen! Noch
schludriger als in unserer gegenwärtigen Marktwirtschaftsmedizin lässt sich
mit den Ressourcen aber kaum umgehen: [8][Kein anderes europäisches Land
gibt so viel für Gesundheit aus wie wir].
## Die Profiteurinnen entscheiden, wo´s lang geht
Im Hinblick auf die [9][Lebenserwartung] liegen wir trotzdem nur im
Mittelfeld. Das viele Geld nützt also nicht den Patientinnen, wohl aber der
Gesundheitsindustrie. Dagegen leben in den skandinavischen Staaten oder in
Spanien die Menschen länger und gesünder, obwohl die dortigen staatlichen
Systeme kostengünstiger sind. Leistungsanreize sind sicher wichtig, doch
wir müssen uns fragen, zu welcher Art von Leistung wir reizen.
Eine schlecht ausgebildete Ärztin, die schludrige Fließbandmedizin
betreibt, dabei aber eine gute Kauffrau ist, verdient in Deutschland mehr
als eine gut ausgebildete, gewissenhafte Kollegin, die sich Zeit für ihre
Patientinnen nimmt. Ist das die Leistung, die wir belohnen wollen? Soll es
Geschäftsleuten überlassen bleiben zu beurteilen, wie gute Medizin
aussieht? Wäre es nicht wünschenswert, über solche Fragen demokratisch
gewählte Organe entscheiden zu lassen?
Und wenn es Kommunismus bedeutet, dass der Staat wichtige Bereiche des
Lebens seiner Bürgerinnen organisiert, dann sind auch unsere Polizei und
Feuerwehr kommunistische Organisationen. Hier fordert glücklicherweise
niemand privat organisierte Firmen, die leistungsgerecht von mehr
Verbrechen und Bränden profitieren könnten.
Natürlich gibt es auch schlechtere Gesundheitswesen als unseres. Aber ist
das schon Grund genug, nichts zu verbessern? Hätten wir immer so gedacht,
wäre die Medizin nicht über Aderlass und Lebertran hinausgekommen. Wenn wir
die Milliarden, die wir in Gesundheit investieren, zum Wohl der
Patientinnen nutzen wollen, müssen wir den Mut haben, das System zu
verändern.
Wir müssen uns entscheiden, wie unser Gesundheitssystem gestaltet sein
soll: zeitgeistgemäß oder effektiv; wir müssen uns entscheiden, was wir
fördern wollen: Gesundheit oder Profit; wir müssen uns entscheiden, was uns
wichtiger ist: Geld oder Leben. Der Wahlkampf wird zeigen, wie die Parteien
das Gesundheitssystem moderner, besser und patientinnengerechter gestalten
wollen.
15 Aug 2021
## LINKS
[1] /Mangelnde-Hygiene/!5047524
[2] https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell--mehr-eingriffe--weniger-pati…
[3] https://www.nzz.ch/schweiz/aerzte-gehen-gegen-schwarze-schafe-in-ihren-reih…
[4] /Solidaritaet-mit-Pflegekraeften/!5767567
[5] /Bericht-einer-Aerztin/!5733573
[6] https://www.youtube.com/watch?v=dO_MZgjNtmk
[7] https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-herrmann-deutschland-ein-wirtschaftsm…
[8] https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Gesund…
[9] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/954/umfrage/lebenserwartung-…
## AUTOREN
Jens Hofmann
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