# taz.de -- Bericht einer Ärztin: Überfordert auf der Intensivstation | |
> Wen behandelt man zuerst? Wen zuletzt? Wen kann man gar nicht behandeln? | |
> Und muss man gesehen haben, wie jemand stirbt, um Corona ernst zu nehmen? | |
Bild: Derzeit werden deutschlandweit mehr als 4.000 Coronapatienten auf Intensi… | |
Mein Telefon klingelt im Minutentakt, ich habe Nachtdienst auf der | |
Intensivstation. Der letzte Anruf kommt aus der Rettungsstelle. Dort | |
reanimieren sie gerade einen Patienten mit Herzinfarkt, und es sieht so | |
aus, als könnte er es schaffen. Für diesen Fall bräuchten sie ein | |
Intensivbett, höre ich die Stimme des Pflegers durch das Telefon. | |
„Ich verstehe“, sage ich, „aber ich habe keins. Das letzte habt ihr vor | |
einer halben Stunde belegt.“ | |
Der Pfleger klingt angespannt. | |
„Was sollen wir jetzt machen?“ | |
„Ich kann versuchen, jemanden zu verlegen. Das dauert aber. Übergangsweise | |
kann ich nur den Schockraum anbieten.“ | |
Die Schwester, die neben mir steht, weitet die Augen und schüttelt vehement | |
den Kopf. Der Schockraum ist der Raum für Notfälle. Dort werden Patienten | |
kurzfristig versorgt, bevor sie auf die Zimmer verteilt werden. Dauerhaft | |
betreut werden kann dort keiner, zu knapp ist das Personal ohnehin schon | |
für die regulären Betten. | |
„Was soll ich denn machen?“, flüstere ich der Schwester zu. | |
Sie hält sich ihren Finger an den Kopf und drückt ab. | |
„Bis ich das freie Bett habe, muss einer von euch mitkommen“, sage ich | |
durchs Telefon „ich kann sonst nicht noch einen beatmeten Patienten | |
betreuen.“ | |
„Wir sind auch knapp mit dem Personal“, sagt der Pfleger, „aber wenn es | |
nicht anders geht …“ | |
„Es geht nicht anders“, sage ich. | |
Er legt auf. [1][Die Schwester blickt] mich an. Sie weiß, dass ich nichts | |
dafür kann. Sauer ist sie trotzdem. | |
„Ich kann bald für nichts mehr garantieren“, sagt sie, bevor sie beginnt, | |
den Beatmungsplatz vorzubereiten. Sie wird später die vierte | |
Überlastungsanzeige in Folge stellen und damit eine offizielle Meldung an | |
den Arbeitgeber vornehmen, aber jetzt hilft sie mir, und auch morgen wird | |
sie wiederkommen. Noch, denke ich und rufe meinen Kollegen an. | |
## Kämpfe ums Überleben | |
Der hat Nachtdienst auf der anderen Hälfte der Station. Wir überlegen | |
gemeinsam. Sieben unserer Patienten sind beatmet, zwei stehen kurz davor, | |
und einer wurde erst vor wenigen Stunden von der Beatmungsmaschine | |
entfernt. Bleiben zwei Patientinnen mit Herzrhythmusstörungen und eine, die | |
gerade eine schwere Gallenwegsinfektion hinter sich hat. Alle drei sind | |
überwachungspflichtig. Dennoch greife ich zum Telefon. | |
Aber die Kollegen aus der Magen-Darm-Abteilung haben keinen Monitor auf | |
Station, und die Kardiologen haben kein Bett. Ich telefoniere vergeblich | |
mit drei anderen Kliniken. Dann kommt der neue Patient. Er ist intubiert | |
und beatmet und hat laut Katheterprotokoll jetzt drei Stents in seinen | |
Herzkranzgefäßen. Die Intervention war schwierig, die Option auf weitere | |
Stents bestehe aktuell nicht, schreibt der Kardiologe. | |
Ich lege dem Patienten einen zentralen Zugang, und mein Kollege informiert | |
die Angehörigen. Dann fällt der Blutdruck, und kurz darauf wird der Patient | |
erneut reanimationspflichtig. Mein Kollege und ich wechseln uns ab, die | |
Schwester reicht Adrenalin. Währenddessen alarmiert der Monitor aus dem | |
Nebenzimmer. Die Sauerstoffsättigung der Patientin mit Lungenentzündung | |
sinkt, der Beatmungsschlauch ist verstopft. | |
Mein Kollege übernimmt die Reanimation, und ich wechsle das Zimmer. | |
Gemeinsam mit der Schwester sauge ich der Patientin zähen Schleim aus der | |
Lunge. Im Schockraum ist der Patient unterdessen ohne Herzaktion, und nach | |
einer weiteren Stunde brechen wir die Reanimation ab. Er hat es nicht | |
geschafft. | |
## Keine Privatsphäre für den Abschied | |
Da klingelt mein Telefon. „Wir haben einen Monitor freigemacht“, sagt der | |
Kardiologe. „Danke“, sage ich, „ich melde mich, wenn ich ihn wieder | |
brauche.“ Zehn Minuten später ist es so weit. In der Rettungsstelle ist ein | |
Patient mit Magenblutung im Schock, der Blutdruck ist niedrig, und das | |
Herz schlägt zu schnell. Außerdem ist er nierentransplantiert und hat hohes | |
Fieber. Der Oberarzt, der die Blutstillung durchführen wird, ist unterwegs, | |
aber die Situation ist kritisch. Drei Kollegen finden keine Vene, und der | |
Patient braucht zwingend in den nächsten Minuten Bluttransfusionen und ein | |
Antibiotikum. | |
Die Nadel, die der Notarzt bereits notfallmäßig in den Knochen gelegt hat, | |
ist verstopft, der Kollege aus der Rettungsstelle klingt panisch. „Bringt | |
ihn in den Schockraum“, sage ich. Während die Schwester den verstorbenen | |
Patienten auf den Flur schiebt, treffen dessen Angehörige ein. | |
Sie werden sich später nicht über die fehlende Privatsphäre beschweren, | |
dennoch tut es mir leid, dass sie kein Zimmer hatten, um in Ruhe Abschied | |
zu nehmen. [2][Doch der Notfall ist offensichtlich.] | |
Kaum ist der Patient aus der Rettungsstelle mit unserem Monitor verkabelt, | |
bricht sein Kreislauf zusammen. Mein Kollege benötigt drei Anläufe, um | |
einen zentralen Venenkatheter in seine kollabierten Blutgefäße zu legen. | |
Als es uns nicht gelingt, den stark blutenden Patienten zu intubieren, | |
rufen wir die diensthabende Anästhesistin, und noch bevor die erste | |
Bluttransfusion läuft, muss auch dieser Patient reanimiert werden. Dann | |
kommt der Oberarzt. | |
## Auch ohne Pandemie schwere Fragen | |
Er schafft es tatsächlich, die Blutung zu stillen, doch es dauert mehrere | |
Stunden, bis sich der Patient stabilisiert. Er bleibt im Schockraum. Den | |
nächsten Patienten aus der Rettungsstelle müssen wir abweisen, denn das | |
Bett, das der Kardiologe in Aussicht gestellt hatte, ist inzwischen belegt. | |
Als die Nacht vorbei ist, verlassen mein Kollege und ich die Klinik, ohne | |
eine einzige Pause gemacht zu haben. Solche Nachtdienste habe ich zuhauf | |
erlebt, denn auch unter alltäglichen Bedingungen sind die Intensivstationen | |
oft voll und das Personal knapp. Wen behandelt man zuerst? Wen zuletzt? Wen | |
kann man erst gar nicht behandeln? Und wie viel besser wäre unsere Medizin | |
mit mehr personeller Kapazität? | |
Fragen, die auch ohne Pandemiebedingungen schwer zu beantworten sind, und | |
Entscheidungen, die auch ohne Corona niemand gezwungen sein sollte zu | |
treffen. Sukzessive füllen sich die Intensivstationen, Bilder beatmeter | |
Patienten tauchen in den Nachrichten auf, und Intensivmediziner warnen vor | |
der reellen Bedrohung eines überlasteten Systems. Parallel verabschiedet | |
sich ein beunruhigend großer Teil der Gesellschaft aus der Realität. | |
Reichen die Bilder nicht aus? | |
Muss man auf einer Intensivstation gearbeitet haben, um zu verstehen, was | |
es heißt, Verantwortung für andere zu übernehmen? Muss man vom Alarmton der | |
Beatmungsmaschine bis in den Schlaf verfolgt werden, um zu verstehen, was | |
Luftnot bedeutet? Muss man gesehen haben, wie jemand stirbt? Muss man | |
erlebt haben, dass es nicht besser ist, wenn der, der stirbt, über sechzig | |
Jahre alt ist? | |
## Häme nicht angebracht | |
Es wurde viel geschrieben über die Motivation von Menschen aus der | |
Leugnerszene. Allen möchte man ein „Bleibt zu Hause!“ zurufen, vorneweg | |
denjenigen, die selbst zur Risikogruppe gehören – aber 70 ist das neue 30, | |
und jeder ist so jung, wie er sich fühlt. Ironie des Schicksals, dass ich | |
am Ende für diese Menschen zu Hause bleibe. Zumindest privat, denn | |
beruflich muss ich ja raus, und es könnte durchaus sein, dass ich es bin, | |
die sie in der Klinik mit Luftnot in Empfang nimmt. | |
„Nein, nein, nein, Corona ist ausgeschlossen, das ist doch alles | |
Panikmache“, könnte ich sagen, „ich glaube, Sie haben gar keine Luftnot, | |
und ich untersuche jetzt erst einmal in Ruhe Ihre Gelenke.“ Aber das tue | |
ich nicht, denn Häme ist im Falle von Luftnot nicht angebracht, und ich | |
behandle sie alle. | |
Dennoch wünschte ich mir, diese Menschen ließen sich wachrütteln, vor allem | |
die, die Corona nicht ganz, aber so ein bisschen leugnen, die, die nicht | |
ganz, aber so ein bisschen an eine Verschwörung glauben. Niemand will | |
kleinreden, dass, wer aufgrund von Lockdown-Beschränkungen um seinen Job | |
fürchtet, dies im übertragenen Sinne auch um sein Leben tut. | |
Wer jedoch um den nächsten Atemzug fürchtet, braucht auch bald keinen Job | |
mehr – und eine volle Intensivstation kann nur in Kauf nehmen wollen, wer | |
nicht weiß, was das heißt, wenn sie voll ist. | |
13 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Eva Mirasol | |
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