# taz.de -- Videosprechstunde wegen Corona: „Wollen wir nicht telefonieren?“ | |
> Das Geheimnis der Videosprechstunde: Sie funktioniert nicht. Und wenn | |
> doch, dann auf sehr unerwartete Weise. | |
Bild: So cool läuft die Videosprechstunde nur bei Susanne Dörr, Ärztliche Di… | |
Wir machen jetzt Videosprechstunde!“, verkündet der Oberarzt stolz. Ich | |
blicke mich um. Mit Mundschutz ist es deutlich schwerer, an der Mimik der | |
Kollegen deren Meinung abzulesen, aber Augenrollen funktioniert | |
eindrucksvoll, und so ist schnell klar, dass ich nicht die einzige bin, die | |
den [1][technischen Overkill] schon programmiert sieht. „Wir machen das | |
trotzdem“, sagt der Oberarzt. | |
Eine Woche später geht es los. Der erste Patient lässt auf sich warten. | |
Nach zwanzig Minuten rufe ich ihn an. „Guten Tag, wir sind heute zur | |
Videosprechstunde verabredet.“ – „Gut, dass sie anrufen! Wohin haben Sie | |
denn den Link geschickt?“ Ich nenne ihm seine Mailadresse. | |
„Ach, das tut mir leid, das ist die Adresse meiner Frau.“ – „Kennen Sie… | |
Passwort?“ – „Wo denken Sie hin?“ Der Mann ist empört. „Das Geheimni… | |
Ehe liegt in der Privatsphäre – ich stöbere doch nicht in den Mails meiner | |
Frau!“ – „Verstehe“, sage ich, „das Geheimnis einer [2][Videosprechst… | |
liegt jedoch in der Mailadresse.“ – „Wollen wir nicht einfach | |
telefonieren?“ fragt der Patient. | |
## Kein Einblick in die Wohnung | |
Die nächsten Termine verlaufen ähnlich. Erstaunlich viele benutzen die | |
Mailadresse ihres leider immer abwesenden Partners, die andere Hälfte | |
findet ihren Spamordner nicht, und jeder dritte möchte mir seine Wohnung | |
nicht zeigen. „Aber ich verspreche, ich sehe nur Sie an!“, versichere ich | |
zunehmend verzweifelt. Das könne ja jeder versprechen, telefonieren gerne, | |
aber Video erst nächste Woche, wenn geputzt sei. | |
Seufzend lege ich auf. Der nächste Patient hat auf seinem Smartphone die | |
falsche Kamera aktiviert. „Ich kann Sie sehen!“, ruft er begeistert. „Ich | |
sehe nur Ihre Krankenkassenkarte auf dem Tisch.“ „So besser?“ Er dreht das | |
Handy. „Ja, aber jetzt höre ich Sie nicht mehr.“ – „Ich höre Sie | |
ausgezeichnet!“ – „Ich glaube, Sie haben Ihren Finger am Mikrofon.“ – | |
„Wollen wir nicht einfach telefonieren?“ | |
Ja, tatsächlich, warum nicht Telefon und Videoanruf gleichzeitig? Ich | |
klicke auf den Link und wähle parallel die Nummer des nächsten Patienten. | |
Herr S. besitzt ein Festnetztelefon aus den 50er Jahren mit Wählscheibe und | |
verhedderter Schnur. Die Tonqualität jedoch ist ausgezeichnet, und ab und | |
an winkt er mir zu. | |
## Kein Wasser in den Beinen | |
Danach telefoniere ich mit den überraschend schön geformten Beinen einer | |
70-jährigen, die aus unerfindlichen Gründen ihre Webkamera unter dem Tisch | |
installiert hat. „Festgedübelt“, erklärt sie mir fröhlich, „soll ich u… | |
den Tisch kommen?“ – „Schon gut“, sage ich, „immerhin kann ich Sie | |
ausgezeichnet hören, und Wasser in den Beinen haben Sie schon mal nicht.“ | |
Sie lacht geschmeichelt. | |
Um halb sechs schließlich der letzte Patient in der Liste. „Hallo, hallo“, | |
tönt es aus dem Computer, und eine große Nase schiebt sich ins Bild. | |
„Hallo!“, ich kann es kaum glauben – ich habe einen echten [3][Patienten … | |
der Videosprechstunde]! Doch die Freude ist kurz, Sekunden später bricht | |
die Verbindung ab. Nach dem vierten Versuch, mich erneut zu verbinden, gebe | |
ich auf und rufe ihn an. „Frau Doktor“, sagt er entschuldigend, „mir wurde | |
gerade das Internet abgeschaltet!“ | |
Eine Kreissäge dröhnt durchs Telefon. „Alles in Ordnung?“ – „Alles in | |
Ordnung“, brüllt er, „wir ziehen um! Wie dumm, dass Sie gerade jetzt | |
anrufen! Können wir wann anders sprechen?“ – „Wann denn? Nach dem Umzug?… | |
„Lieber gleich nach Corona“, schlägt er vor. „Gerne“, sage ich, „mel… | |
sich doch einfach in ein paar Jahren nochmal.“ | |
6 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Eva Mirasol | |
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