# taz.de -- Von der Panikerphase zum „New Normal“: Der Bürgersteig als Res… | |
> Aus dem „Gabenzaun“ im Graefekiez ist ein Open-Air-Umsonstladen geworden. | |
> An ihm kann man ablesen, in welchem Pandemiestadium wir uns befinden. | |
Bild: Im Frühjahr entstanden in ganz Deutschland Gabenzäune, hier in Greifswa… | |
Fast täglich komme ich am Zickenplatz am Gabenzaun vorbei. Wobei ich mir | |
nicht so sicher bin, ob „Gabenzaun“ noch die richtige Bezeichnung dafür | |
ist. Vor einem halben Jahr, Mitte März, beginnen Menschen an dieser Stelle | |
Plastiktüten aufzuhängen, die mit Lebensmitteln befüllt sind. Brot, Milch, | |
Käse, Wasser. | |
Die Gaben sind für die Obdachlosen gedacht. Es ist die frühpandemische | |
Zeit, in der man mit mulmigem Gefühl und bangem Blick aneinander | |
vorbeihuscht und glaubt, im nächsten Augenblick könne man sich in einem | |
Setting von Cormac McCarthys „The Road“ wiederfinden. Dann würden diese | |
Straßenzüge einer Geisterstadt gleichen, man würde sich mit den letzten | |
Überlebenden um die Essensreste prügeln oder in der Hasenheide Tiere jagen. | |
Heute ist der Gabenzaun ein Open-Air-Umsonstladen. Eine gewellte „20 | |
Schlager-Hits“-LP liegt dort, Kinderklamotten, gebrauchte Bücher. Schlüpfer | |
und Socken, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie nicht doch von | |
einem Geschlechtsakt in den Büschen übrig geblieben sind, hängen am Zaun. | |
Jetzt sieht es eigentlich so aus wie an vielen Ecken im Kiez: Was man nicht | |
mehr braucht, stellt man auf die Straße. Des einen Bürgersteig ist des | |
anderen Resterampe. | |
Im ganzen Viertel kann man gut ablesen, in welcher Phase der Pandemie wir | |
uns gerade befinden. Im frühen Stadium, der oben skizzierten Panikerphase, | |
konnte man beobachten, wie sich die Dinge von einem auf den anderen Tag | |
drehten. Was gestern galt, gilt heute nicht mehr. | |
## „Sewing Classes“ statt „Nähkurse“ | |
Die ultrahippe Näherei, die natürlich nicht Näherei heißt, sondern „Fashi… | |
Lab“ und die natürlich keine „Nähkurse“ anbietet, sondern „Sewing Cla… | |
war einem vorher nur dann aufgefallen, wenn dort Cocktail-Partys gegeben | |
wurden und Expats vor dem Laden herumlungerten, die in modischer Hinsicht | |
mit Billie Eilish konkurrierten. Geld wurde dort jedenfalls nicht verdient, | |
dachte ich. | |
Im März aber informieren die Betreiberinnen: „We sell masks“. Ich frage | |
direkt, ob sie mir ein solches Teil anfertigen könnten. „Oh, wir haben aber | |
extrem lange Wartezeiten im Moment“, erklärt die freundliche Betreiberin, | |
„hat es Zeit bis nächste Woche?“ Sechs Tage später hole ich die Maske ab, | |
ich zahle 20 Euro. | |
Ich male mir aus, wie aus der kleinen Hipster-Näherei Berlins profitabelste | |
Maskenfabrik werden würde, wie unser ganzer Block abgerissen werden würde, | |
um weitere Produktionskapazitäten zu schaffen. Es kommt dann anders. | |
Vorbei ist die Panikerphase, als ich im Mai in meiner wiedereröffneten | |
Stammkneipe in einer gemischte Runde lande, in der sechs einander fremde | |
Menschen auf Abstand miteinander plaudern, als wären sie gerade aus dem | |
Knast entlassen worden (was ja auch in gewisser Weise der Fall ist). Eine | |
Australierin, die gerade fleißig Deutsch lernt, regt sich darüber auf, dass | |
die Deutschen englische Wörter wie „Lockdown“ und „Shutdown“ benutzen, | |
statt „Ausgangssperre“ zu sagen. | |
## Jazz-Combo, Pizza und Bier | |
Ich wende ein, die deutsche Sprache sei historisch belastet, und bei | |
Wörtern wie „Ausgangssperre“ käme mir immer gleich die Gestapo in den Sin… | |
Sie ist trotzdem gegen Sprachmischmasch. Es wird ein lockerer Abend. Und | |
auch das Straßenbild normalisiert sich allmählich. Die Pizzakartons, die | |
sich zwischenzeitlich überall getürmt hatten, sind weg. | |
Heute chillen die Leute auf dem Platz direkt am Gabenzaun an den | |
Spätsommerabenden. Trinken Bier, spielen Speedminton. Manchmal tritt eine | |
Jazz-Combo zwischen den Bäumen auf. Im Fashion Lab werden noch immer Masken | |
produziert, aber nicht am Fließband. Ein paar Meter weiter begegnet mir ein | |
Mann mit einer Art Schnorchel-Gesichtsmaske. | |
Ganz normal im neuen Normal. | |
Aber wenn man sich mit Leuten aus der Nachbarschaft unterhält, mischt sich | |
zwischen die Zeilen doch die Sorge, dass die Stadt noch mal ganz | |
runterfahren muss (um der Australierin mal einen Gefallen zu tun und ein | |
deutsches Wort zu benutzen). | |
Dann wird man selbst auch einen Augenblick nachdenklich. Schreibt Cormac | |
McCarthy eigentlich noch Bücher? | |
7 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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