# taz.de -- Kolumne Berlin Viral: Alltagsroutinen inmitten von Stille | |
> Durch die Corona-Pandemie ist plötzlich vieles anders. Die Schule in der | |
> Straße hat geschlossen. Damit gibt es auch kaum mehr Autoverkehr. | |
Bild: Leere im Inneren der Schulen | |
Zwei Wochen ist es her, aber es kommt mir schon viel länger vor, dass ich | |
zuletzt Kinder auf ihrem Weg in die Schule sah. Eine Grundschule ist in | |
meiner Straße, ich trat morgens zwischen halb sieben und acht auf meinem | |
Hometrainer in die Pedale und konnte dabei aus dem Fenster schauen. | |
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber die Schritte der Mädchen und | |
Jungen, manche auch an der Hand einer Mutter, schienen mir entschlossener | |
als sonst der Schule zuzustreben. Als wollten sie da noch mal hin, | |
unbedingt. Einige kamen schon nach zehn Minuten zurück, rosa Hefte in der | |
Hand, waren das schon Aufgaben für die nächste Zeit? | |
Seit der Schließung der Schule ist es morgens so ruhig, wie es sonst nur in | |
den Ferien ist, in dieser Straße. Dass die Schule mit so viel mehr | |
Autoverkehr verbunden ist, hat mich schon immer gewundert. Wenn sie zu ist, | |
bleibt es länger still. | |
Jetzt, unter den Bedingungen des Schutzes vor Covid-19, höre ich anders auf | |
die Geräusche der Straße. Ah, die Baustelle nebenan, ein Wohnhaus entsteht, | |
ist noch in Betrieb. Diesmal freut mich das Klopfen und Hämmern, ein Stück | |
Normalität. Ich hoffe, sie verputzen das Haus bald und bauen das Gerüst ab, | |
dessen staubige Planen direkt an meinen Balkon grenzen. Seit zwei Jahren | |
schon. Je mehr „Zu Hause bleiben“ gilt, desto wichtiger wird der Balkon, | |
aber die Baustelle bleibt mir wohl noch länger erhalten. | |
## Aktuelle Postkarte aus der Vergangenheit | |
Eine Postkarte mit Kakteen kam vor einer Woche, abgeschickt hatte sie eine | |
Freundin am 1. März in Teneriffa, sie schwärmte von der Vielfalt der | |
Landschaft. Einen Moment lang mutete die Karte mich an wie aus einer Epoche | |
der Vergangenheit, als in Ferien zu verreisen eine Möglichkeit war. | |
Ich hielt sie beim Frühstück in der Hand, im rbb Kulturradio las der Autor | |
Horst Köhler in sieben Briefen von einer Reise in den Frühling vor: Über | |
Andalusien, Spanien, Frankreich und schließlich Werder in Brandenburg | |
reiste er über Wochen mit der Apfelblüte. | |
Ich saß etwas beleidigt vor dem Radio. Mir jetzt, wo das Reisen und das | |
Draußensein zu genießen erst mal auf längere Zeit allen verwehrt ist, davon | |
die Ohren voll zu schwärmen, schien mir deplatziert. Später dachte ich, da | |
hat dich das Virus schon missgünstig gestimmt, es verdirbt den Charakter. | |
## Kein großer Einschnitt in den Alltag | |
Natürlich mache ich mir Sorgen. Meine Verwandten, Schwestern und Schwäger, | |
da sind alle über siebzig und plötzlich Risikopatienten die meisten. Ich | |
telefoniere mit ihnen. Aber ja, sagen sie, uns geht es gut, sie leben schon | |
länger zurückgezogen, gehen wenig aus. Es klingt so, als würden sie die | |
Veränderungen im Alltag nicht als so große Einschnitte empfinden. Keiner | |
redet über seine Ängste, man hält sich daran fest, dass die Gegenwart | |
funktioniert. | |
Ich bin froh, dass Spazierengehen möglich ist. Einmal rauskommen aus meinem | |
Single-Haushalt. Mein Weg führt vorbei an einem kleinen Laden von Pia | |
Fischer, Textilkunst und Design. Seit etwas über einer Woche hat sie | |
selbstgenähte, waschbare Atemschutzmasken in ihrem Schaufenster und | |
verkauft durch ein kleines Fenster nebendran. | |
Am letzten Samstag war ich die dritte in einer kurzen Schlange, diesen | |
Samstag stehen mit großem Abstand zehn bis zwölf Leute davor, halten das | |
Gesicht in die Sonne, schauen in ihre Smartphones, eine liest sogar in | |
ihrem Buch. Fast wie sonst im Café, eine Übung in Gelassenheit. Nicht so | |
einfach. | |
31 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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