# taz.de -- Kinder und Corona: Generation „Kuss (ohne Corona)“ | |
> Viele Kinder sehen die aktuelle Situation relativ entspannt. Doch wie | |
> wird die Pandemie das Lebensgefühl dieser Generation prägen? | |
Bild: Drinnen bleiben müssen ist nicht leicht zu verstehen | |
Tagsüber ist eigentlich meist alles easy. Wir, also mein Partner und ich | |
(beide Homeoffice), mein elfjähriges und mein sechsjähriges Kind haben uns | |
gemeinsam aus weißen Papierbahnen eine Tafel erstellt, die unseren Tag | |
strukturiert, den Rahmen bilden die gemeinsamen Mahlzeiten, Arbeitszeiten | |
und Pausen, es gibt eine rituelle Radtour am Nachmittag, die wir nur | |
manchmal ausfallen lassen, nach dem Mittagessen ist sogar Kommunikation | |
über Kanäle wie WhatsApp erlaubt, die bei uns bis vor Kurzem noch verboten | |
waren, die aber nun mal viele benutzen, die jetzt erreichbar sein müssen, | |
danach kommt Freispiel und nach dem Abendbrot Fernsehen mit Inhalten von | |
der Sendung mit der Maus bis hin zu Logo. | |
Wir haben eine Art Großraumbüro für alle eingerichtet, die arbeiten wollen | |
oder sollen. Wir belästigen die Kinder nicht im Stundentakt mit neuen | |
Todeszahlen, beantworten ihre Fragen zum Coronavirus aber so konkret es | |
geht. | |
Sie wirken manchmal ein bisschen gelangweilt von uns, bekommen öfter mal | |
einen Wutanfall, drohen uns an, jetzt sofort allein zum Kindergarten zu | |
marschieren (13 Kilometer), egal ob der auf oder zu ist, beziehungsweise ab | |
sofort jeden Abend bis in die Puppen zu lesen und überhaupt bei diesem | |
blöden Homeoffice nicht mehr mitzumachen. Meist sind sie aber entspannt und | |
gelassen bis ganz zufrieden, dass wir alle plötzlich so viel Zeit | |
füreinander haben und es keinen Sozialstress mehr gibt. | |
Erst am Abend, wenn die Müdigkeit und die Dunkelheit kommt, bricht manchmal | |
etwas aus den Kindern heraus, das wir schon längst für überwunden hielten. | |
Sie haben Angst vor schleimigen Monstern, die am Haus hochklettern, vor | |
dicken Tieren ohne Beine, vor strengen Lehrern, wie sie ihnen vor Jahren | |
bei der Lektüre von Harry Potter begegnet – und die ihnen nun wieder im | |
Traum erschienen sind. | |
Schon vor mehr als zehn Jahren, nach der Ankunft des ersten Kindes, haben | |
wir das größte Bett gekauft, das der Markt hergab. Im Moment treffen sich | |
darin spätestens nach der Hälfte der Nacht wieder alle Familienmitglieder. | |
Eine kleine Umfrage im Bekanntenkreis ergibt, dass es derzeit vielen Eltern | |
ähnlich geht: Die Kinder sind zumindest im Kindergarten- und | |
Grundschulalter so cool, wie ihre Eltern es schaffen zu sein. | |
Sie vermissen zwar die physische Anwesenheit der Freunde, haben öfter mal | |
keine Lust, immer nur auf eigene Faust zu lernen, proben kleine Aufstände, | |
sind aber dann meist leicht zu ködern, indem man sie nachmittags nach | |
Herzenslust chatten lässt. Besser als erwartet verstehen sie, dass wir vor | |
allem zum Schutz der Alten und Kranken zu Hause bleiben, dass uns das Virus | |
aber selbst sehr wahrscheinlich nichts anhaben wird. | |
Nur manchmal kommt wie gesagt etwas in ihnen zum Vorschein, das ihnen wie | |
auch ihren Eltern Sorgen bereitet. „Vorgestern gab es eine Szene, wo sie | |
vollkommen zusammengebrochen ist“, berichtet eine Mutter. „Ich habe nicht | |
gehört, dass sie vor der Wohnungstür stand, weil der Staubsauger an war. Da | |
kam dann die ganze Anspannung und Verzweiflung eruptionsartig aus ihr | |
raus“, erzählt sie. | |
## Ob es noch genug zu essen gibt | |
Ein Vater berichtet, dass er neulich viele Fragen zur Pest beantworten | |
musste und woher eigentlich das Wort „Quarantäne“ kommt. Eine Mutter sagt, | |
ihr Kind habe sie gefragt, ob es auch in der nächsten Woche noch genug zu | |
essen gebe und ob sie je wieder ihre Freundin wird umarmen dürfen. Und | |
schließlich erinnert sich noch eine daran, dass ihre Tochter kürzlich | |
einigermaßen verstört vom Einkaufen zurückkam, weil ihre Straße so | |
gespenstisch leer war. „Die Kinder sind jetzt auf jeden Fall | |
wachgerüttelt“, meint sie. | |
Im Augenblick kommen in den Medien häufig Kinderpsychologen zu Wort, die | |
genau das beschreiben: Die Kinder sind in Ordnung, wenn wir selbst | |
versuchen, gelassen zu bleiben, wenn wir ihnen ehrlich erzählen, was Sache | |
ist – und wenn wir Nähe und Wärme zulassen, falls sie manchmal doch die | |
Fassung verlieren. | |
Da, wo es größere Sorgen gibt, weil es finanziell zu eng wird oder weil es | |
in der Familie schon immer wenig Platz für die Bedürfnisse der Kinder gab, | |
weisen sie auf zahlreiche Hilfsangebote hin, die angeblich nach wie vor | |
funktionieren. | |
Was aber macht es langfristig mit einer Generation, die vielleicht schon | |
das ganze Jahr 2019 hindurch über den Klimawandel nachgedacht hat, | |
vielleicht sogar manchmal auf die Straße gegangen und jetzt plötzlich mit | |
einer Situation konfrontiert ist, der sie sich vergleichsweise hilflos | |
ausgeliefert fühlt – ganz unabhängig davon, wie privilegiert sie ist? | |
In den achtziger Jahren hatten viele Kinder große Angst vor Atomkrieg und | |
Super-GAU, obwohl der Kalte Krieg und das Reaktorunglück in Tschernobyl | |
deutlich geringere Auswirkungen auf ihren Alltag hatten. Laut der letzten | |
Shell-Jugendstudio 2019 fürchten sich 71 Prozent der 12- bis 25-Jährigen | |
heute vor der Verschmutzung der Umwelt, 65 Prozent vor dem Klimawandel. Wie | |
wird das Virus in der nächsten Shell-Studie vorkommen? | |
Wie wird diese Isolation, die unsichtbare Bedrohung und die Unmöglichkeit | |
vorauszusagen, wie lang das alles noch dauern wird, die Kinder in Zukunft | |
prägen? Darüber sprechen derzeit nur wenige. Eine dieser wenigen ist die | |
Berliner Verhaltenstherapeutin für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, | |
Sigrun Schmidt-Traub. Vermutlich wird es Kinder geben, die erleben müssen, | |
dass Menschen aus der Familie oder aus dem Bekanntenkreis sterben, meint | |
sie. Auch sei es natürlich immer furchtbar für Kinder, wenn Eltern | |
Existenzangst haben, denn sie müssen ja fürchten, nicht mehr oder noch | |
weniger an der Gesellschaft teilhaben zu können. Und schließlich zeigen 17 | |
bis 20 Prozent aller Menschen ohnehin erhöhte Angstbereitschaft, so | |
Schmidt-Traub. Das sei teilweise angeboren und begleite diese Menschen über | |
ihre gesamte Lebensspanne hinweg. | |
## Bereit, Regeln einzuhalten | |
Trotz alldem hat die Therapeutin beobachtet, wie sehr die Kinder in ihrem | |
Umfeld derzeit versuchen, die neuen Regeln einzuhalten und alles dafür zu | |
tun bereit sind, um Schaden abzuwehren. Sie ist überzeugt, dass viele | |
Kinder selbst aus dieser seltsamen Zeit gestärkt hervorgehen könnten. Viele | |
Kinder, so heißt es auch im eigenen Bekanntenkreis, spüren derzeit mehr | |
denn je, wie sehr sie soziale Wesen sind. Immer wieder hört man sie sagen, | |
dass gerade im Moment jeder Einzelne zählt. Dass es immer wichtiger wird | |
zusammenzurücken. | |
Viele betonen, dass sie unbedingt an der vor Wochen vereinbarten | |
Gruppenarbeit festhalten wollen, und reagieren erstaunlich geduldig, wenn | |
der andere zum dritten Mal die Telefonverabredung vergessen hat, wenn er | |
während des Gesprächs immer wieder kleinere Geschwister vor die Tür setzen | |
muss oder leider kein Computer vorhanden ist, den er benutzen kann. Es soll | |
sogar schon Kinder geben, die sich bei benachbarten Betrieben als | |
Erntehelfer angeboten haben. | |
Es scheint, als wachse mit dem Gefühl der Bedrohung auch der Wunsch nach | |
Engagement. „Ich habe schon vor der Krise manchmal gedacht, ich bin hundert | |
Jahre älter als meine Tochter“, formuliert es eine Mutter. „Diese Kinder | |
sind so vernetzt. Und sie sind sich so sicher, dass sie was bewegen | |
können“, fügt sie an. | |
„Die werden bestimmt mal die Welt auf den Kopf stellen“, sagt ein Vater. | |
„Im Grunde gibt es zwei Prognosen“, bringt es eine Mutter am Ende des | |
Gesprächs auf den Punkt. „Sie ziehen sich zurück, oder sie gehen es an.“ | |
Wie die meisten neigt auch sie derzeit eher noch zur zweiten Prognose. | |
Heute Morgen spielten ein paar Kinder aus der Nachbarschaft auf der Straße. | |
Meine Große sah kurz aus dem Fenster unseres Großraumbüros, blieb aber | |
kommentarlos an ihrem Schreibtisch sitzen und schrieb in aller Seelenruhe | |
ihre Mail an die Freundin weiter. „Alle müssen jetzt aufeinander | |
aufpassen“, schrieb sie. Ihre Mail endete mit den Worten „Kuss (ohne | |
Corona)“. | |
1 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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