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# taz.de -- Psychiater über Angst und Corona: „Eigentlich eine sinnvolle Rea…
> Angst vor einem Kontrollverlust: Psychiater Jan Kalbitzer über die teils
> berechtigte Angst in Corona-Zeiten und kontraphobisches Verhalten.
Bild: Touristen aus Hongkong vor dem Brandenburger Tor – das Bild entstand 14…
taz: Herr Kalbitzer, das Virus, das uns gerade in Atem hält, macht vielen
Menschen Angst. Ist das für Menschen mit psychischen Beschwerden, wie Sie
sie in Ihrem Berufsalltag erleben, noch schlimmer?
Jan Kalbitzer: Das ist sehr unterschiedlich. Von meinen Patienten, die
schon vorher unter starken Ängsten gelitten haben, werden manche deutlich
ruhiger, jetzt, wo der Shutdown tatsächlich da ist. Ängste sind ja nicht
vollständig unrealistisch. Oft beziehen sie sich auf reale Dinge, und es
ist eine wichtige Funktion des Grübelns und der Sorgen, sich gedanklich auf
Gefahren in der Zukunft vorzubereiten. Krankheitswert entsteht nur dann,
wenn man sich zu viel sorgt und grübelt, wenn das nicht mehr produktiv ist
und die Stimmung immer schlechter wird.
Das erinnert mich an den Film „Melancholia“ von Lars von Trier. Da ist die
schwer depressive Protagonistin angesichts des nahenden Weltuntergangs auf
einmal die einzige, die eine gewisse Stabilität ausstrahlt.
Wie gesagt: Viele psychische Erkrankungen sind in ihrem Grundmuster
vernünftige Reaktionen auf potenzielle Gefahren. Deswegen kann es durchaus
sein, dass die eintretende reale Gefahr dazu führt, dass Menschen, die
psychische Krisen haben, besser mit der Situation umgehen können. Viele
Menschen hatten in den vergangenen Wochen Angst vor einem Kontrollverlust,
weil sie den Eindruck hatten, von staatlicher Seite werde nicht ausreichend
reagiert – was ja auch von einigen Medien befeuert wurde. Vielen von denen
geht es jetzt besser: Sie haben sich ja schon vorbereitet, eingekauft, sie
sind versorgt.
Viele Menschen tun aber auch so, als sei ihnen Angst völlig fremd.
Es gibt „kontraphobisches“ Verhalten, das heißt: Menschen reagieren mit
Verdrängung oder übermäßigem Risikoverhalten, weil sie von der Angst nicht
kontrolliert werden wollen. Auch das ist eigentlich eine sinnvolle
Reaktion. In der aktuellen Situation ist das ziemlich gefährlich und
unsozial.
In der Krise passiert aber noch mehr: Wenn es zur häuslichen Isolation
kommt, wird es schwieriger, sich von bestehenden psychischen Störungen
abzulenken.
Ja, für Menschen, die unter psychischen Beschwerden leiden, kann das jetzt
sehr belastend sein. Zu den wichtigen Faktoren, die jetzt wegfallen oder
wegfallen könnten, gehören die strukturierende Funktion von Arbeit oder
soziale Kontakte – und nicht zuletzt einfach Bewegung. Gerade für Menschen,
die unter einer Depression oder Ängsten leiden, ist es jetzt ganz wichtig,
diese drei Faktoren weiter umzusetzen, wenn auch vielleicht auf andere
Weise. Wenn man nicht arbeitet oder das von zuhause aus tun muss, ist es
wichtig, den Tag zu strukturieren. In Kontakt mit anderen bleiben kann man
auch über digitale Medien, vielleicht sogar etwas mit der Hausgemeinschaft
organisieren, bei dem man anderen zwar nicht körperlich nah kommt, aber
trotzdem auf Sicht in Kontakt bleibt. Sie könnten beispielsweise sagen: In
unserem Haus gehen wir alle um acht Uhr auf den Balkon und grüßen uns.
Die Krise kann also entlasten als auch psychische Beschwerden verstärken?
Wir pauschalisieren ja gerne, aber natürlich gibt es ganz unterschiedliche
Gruppen von Menschen. Zum Beispiel die, die ganz alleine leben, vielleicht
nicht mal ein Haustier haben und jetzt völlig auf sich zurückgeworfen sind.
Und auf der anderen Seite Familien oder WGs, die plötzlich auf engem Raum
sehr viel Zeit miteinander verbringen. Die müssen sich auf einmal über
Regeln auseinandersetzen, da brechen neue Konflikte auf.
Aber Gemeinschaft kann auch Halt geben.
Natürlich, beides hat Vor- und Nachteile. Eltern, die sich jetzt den ganzen
Tag um ihre kleinen Kinder kümmern, beneiden vielleicht diejenigen, die
alleine sind und Bücher lesen oder Serien gucken können. Während es denen
total fehlt, einfach mit jemand anderem in Kontakt zu sein, sich im
Vorbeigehen einmal kurz zu berühren oder in den Arm zu nehmen. Die, die
jetzt auf sich zurückgeworfen sind, haben weniger Konflikte mit anderen und
müssen dafür sehr viel mit sich selbst klären. Dadurch haben sie ein
größeres Risiko, in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit, Trauer oder
Lähmung zu geraten. In den Familien ist es dagegen wahrscheinlicher, dass
Konflikte entstehen, dass man sich streitet und Beziehungen gefährdet sind,
weil Rückzugsräume fehlen.
Wie stellen Sie sich selbst beruflich auf die aktuelle Situation ein?
Ich biete jetzt psychiatrische Sprechstunden und auch Psychotherapie per
Video an, denn gerade die Menschen, die jetzt nicht rausgehen, brauchen
Unterstützung. Da ist Videotherapie eine Riesenchance, und die
Kassenärztliche Vereinigung sollte prüfen, ob sie nicht schnell einfache
Möglichkeiten der Abrechnung schaffen kann. In Berlin haben viele
Psychotherapeuten keinen Kassensitz und arbeiten zurzeit nach dem
sogenannten Kostenerstattungsverfahren. Gleichzeitig gibt es Regionen, die
psychotherapeutisch völlig unterversorgt sind. Über die digitalen Medien
könnten wir da für Ausgleich sorgen.
Kann man denn so eine Leistung einfach in digitaler Form anbieten?
Natürlich fehlt der direkte menschliche Kontakt, der auch sehr wichtig ist.
Trotzdem sind die Befunderhebung und auch das Gespräch digital leicht
möglich, während ein Arzt seine Patienten nicht einfach übers Internet mit
dem Stethoskop abhören kann. Es ist mit Sicherheit etwas, das man üben
sollte. Einem Therapeuten, der das noch nie gemacht hat, würde ich
empfehlen, diese Kommunikationsform erst mit Freunden auszuprobieren, um zu
erkennen, worauf man achten muss. Das können die Sachen sein, die bei einem
im Hintergrund im Bild stehen, oder Geräusche, die bei der Aufzeichnung
entstehen, auch der veränderte Blickkontakt. Man kann Menschen per Video
nicht direkt in die Augen schauen, entweder man blickt in die Kamera oder
auf die Augen des anderen, aber auf dem Bildschirm. Das verändert ein
Kommunikationsmuster.
Wenn wir bei FreundInnen, Bekannten, KollegInnen in der aktuellen Situation
den Eindruck bekommen, dass ihnen die Situation über die Maßen Angst macht
oder sie bedrückt, sollten wir auf sie zugehen? Oder ist das übergriffig?
Ich finde es sehr sinnvoll, jetzt auf Menschen zuzugehen, von denen wir
wissen, dass sie unter Krisen leiden. Und auch da steckt in den digitalen
Möglichkeiten jetzt eine große Chance, um für unsere Community zu sorgen.
Wie weit man gehen kann, muss man sehen: Gerade bei losen Kontakten in
sozialen Netzwerken ist es manchmal schwierig, das richtige Maß zu finden.
Ich würde mit Menschen anfangen, mit denen ich auch sonst mehr im Kontakt
stehe, deren Situation ich besser einschätzen kann. Sollte man natürlich in
den sozialen Netzwerken mitbekommen, dass jemand in Not ist, macht es Sinn,
die Person im Privatchat anzuschreiben und zu fragen, ob man helfen kann.
Oder ihr einfach ein Gespräch anzubieten.
Wie ist es mit Kindern – kann die radikale Veränderung des Gewohnten und
der Verlust von Sicherheit sie traumatisieren? Saugen sie jetzt nicht
regelrecht die Ängste der Eltern auf?
Sie kennen vielleicht „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni. Da geht es
ja darum, dass der Vater unter schwierigsten Umständen, nämlich in einem
Konzentrationslager, seinem Sohn vorspielt, das Ganze sei eigentlich eine
wunderbare Situation. So kitschig ich den Film finde, und auch, wenn das
natürlich sehr überzogen ist – im Kern geht es darum, Kinder vor Ängsten,
vor allem auch den Ängsten der Eltern, ein Stück weit zu schützen.
Gleichzeitig muss man ihnen die Situation erklären. Man kann ihnen sagen,
dass gerade eine Erkältung umgeht, die für Kinder und jüngere Erwachsene
nicht so gefährlich ist, dass sie keine Angst um sich und vielleicht auch
nicht um die Eltern haben müssen.
18 Mar 2020
## AUTOREN
Claudius Prößer
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Ängste
psychische Gesundheit
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