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# taz.de -- Kolumne Berlin Viral: In der Not auf Adorno zurückgreifen
> Eindrücke beim Kaffeekauf in Kreuzberg 36. Welche Theorietexte jetzt
> helfen, und welche eher nicht.
Bild: Hier ließe sich auch Kaffee trinken: Adorno-Denkmal in Frankfurt am Main
Manche wachsen in der Krise über sich selbst hinaus. Mir ist noch nicht
viel mehr gelungen, als dass ich, mit ruhiger Hand und passender
Linkshänderschere, endlich gelernt habe, die Haare in den Nasenflügeln und
an den Rändern der Ohrläppchen und in der Muschel zu kappen.
Von der frohen Kunde berichte ich Jamaika-Zwenn, der mir zufällig beim
Kaffeekaufen auf der Oppelner über den Weg läuft. Das Cafe hat geschlossen,
wenigstens bleibt eine Durchreiche ins Freie geöffnet, sodass man unter
Einhaltung der Abstandsregel draußen stehen kann oder gemahlenen Mokka für
den Hausgebrauch kauft.
Jamaika-Zwenn lebte mal eine Weile in der Karibik, heißt eigentlich Sven,
spricht S aber wie Z. „Nasenhaare, zuper Zache“, winkt er ab und nippt an
seinem Double-Latte. Schon der Geruch von heißer Milch macht mich
schaudern: „Latteschlürfer sind die SUV-Fahrer unter den Kaffeetrinkern“,
schleudere ich ihm entgegen. Er so: „Och jaa, weezte!“ Sarkasmus, knapp
über fünf Grad.
Es weht ein garstiger Wind durch den Kiez, trotz wärmender Sonne. Finstere
Gestalten humpeln auf der Schneise Richtung Schlesisches Tor, als folgten
sie Mutter Courage und ihrem Planwagen. Auch vor Corona war hier reichlich
Elend unterwegs, es wird jetzt nicht weniger. Bereits vorher haben Läden
dichtgemacht. Zum Beispiel die Sparkassenfiliale. Es gibt nur noch den Raum
mit dem Bankomaten. Früher hat es dort oft nach Urin gemüffelt, jetzt
riecht es beißend nach Desinfektionsmittel. Ansonsten: Alle Wettbüros haben
geschlossen, fast alle Imbisse sind zu. Zahllose Menschen lungern auf den
Straßen im Viertel rum: Irgendwann kann die Stimmung auch mal explodieren.
## Mutter Courage am Schlesi
Jamaika-Zwenn legt seine brennende Zichte auf einen Stuhl, von dem sie
sofort heruntergeweht wird. „Immer schön vom Boden essen“, sagt er, hebt
sie auf und saugt gierig dran. Ich rolle mit den Augen. „Spermien helfen
übrigens beim Abnehmen“, weiß er zu berichten. Mir bleibt die Spucke weg.
Ich überlege: „Hast du wieder ‚Scobel‘ geschaut, alter
Verschwörungstheoretiker?“ Bingo.
Die Wissenschaftssendungen von Gert Scobel bei 3sat sind bei Zwenn
beliebter Diskussionsgegenstand. Da es die Wiederholung einer Sendung war,
in der es ums Fasten ging, weiß ich Bescheid. Zum Glück kenne ich
Spermidin-Kapseln mit Weizenextrakt, die zu kauen beim Fasten helfen. Ich
versuche den Unterschied zwischen Spermium und Spermidin zu erklären.
Dann kommt Wissenschaftlerin Gundi des Weges, bestellt einen Espresso.
„Auch daz noch“, unkt Jamaika-Zwenn. Gundi lächelt gequält und schnackt m…
dem Barrista am Tresen. Meistens macht sie hier Halt, wenn sie von der
Motto-Buchhandlung kommt oder zu B-Books geht. Oder umgekehrt.
Die beiden fangen an, über Foucault und die Pest zu sprechen. Recht
belesen, aber auch ziemlich laut, wegen der Abstandsregel brüllen sie rum.
Vielleicht wollen sie Jamaika-Zwenn auch nur nerven. „Das Unheil geschieht
nicht als radikale Auslöschung des Gewesenen“, hebt Gundi an. „Minima
Moralia“, sage ich. Aber wieso jetzt Adorno, frage ich sie. Sie erzählt mir
von einem Essay, das beim US-Uni-Magazin Critical Inquiry veröffentlicht
wurde: Er stammt vom französischen Soziologen Bruno Latour, den der „Krieg
gegen das Virus“ so elektrisiert hat, dass er glaubt, die Coronakrise sei
nur eine Vorübung dafür, wenn’s bald mal richtig knallt. Ich finde die
Katastrophenromantik von Latour nur teilweise hilfreich.
Auf dem Nachhauseweg in der Wrangelstraße hängt bei einem Kosmetiksalon
„Wegen Wirus geschlossen“ auf einem Zettel im Schaufenster. Das W-Wort
finde ich sehr zutreffend: Die Krise ist klassenübergreifend und betrifft
uns alle.
29 Mar 2020
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Kolumne Berlin viral
Theodor W. Adorno
Kaffee
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