# taz.de -- Berliner Corona-Moral: Stay doch selber! | |
> „#Stay at Home“ ermahnen die Luxusimmobilienresidents ganz X-Hain. Die | |
> haben wohl keine Kinder. | |
Bild: Die Oberbaumbrücke in Berlin. Zwischen Rotem Rathaus und Fernsehturm der… | |
„Schieben Sie die Möbel beiseite und tanzen Sie mit uns“, bewirbt Radio | |
eins das exklusive DJ-Set von Westbam am Samstagabend. Für zwei Stunden | |
legt der Maestro im Metropol auf, natürlich vor leerem Haus, nur für uns | |
Pappenheimer an den Empfangsgeräten. | |
Aber nach Tanzen ist mir nicht mehr, tanzen tun hier nur noch die Kinder. | |
Sie ziehen ihre scheußlichsten, bauchnabelfreisten Klamöttchen hervor und | |
kugeln dann rotwangig und überdreht zu Punkrock, Metal oder Techno durch | |
die Wohnung. Wir sagen keinen Piep mehr. Möglicherweise haben sie the time | |
of their lives. | |
Alles steuert auf die vollkommen im Augenblick gefangene Immanenz zu. Tag | |
reiht sich an Tag, alles wird zum Kontinuum. In endlosen Schleifen umkreist | |
das LED-Band den neu erbauten Millionärsturm am Spreeufer drüben. Einmal | |
quer über den Görlitzer Park hinweg schauen wir direkt drauf, seit fucking | |
fünf Jahren. | |
Elf Monate lang läuft da oben „Living Levels“, einen Monat „Merry X-mas�… | |
In diesem neuen Jetzt aber kreist dort etwas anderes. „#STAY AT HOME“ | |
ermahnen die Luxusimmobilienresidents ganz X-Hain. Stay doch selber! | |
## Raus in den Spandauer Forst | |
Ich will am Donnerstag nicht mehr zu Hause sein. Setze die Kinder ins Auto | |
und fahre raus in den Spandauer Forst. Hier gibt es Platz, Luft und Licht. | |
Durchs Wildschweingehege wuseln Frischlinge. Begeistert rennen die Kinder | |
los. Von der anderen Seite kommt ein Mädchen gelaufen. | |
Sofort halten die Kinder an, beäugen es skeptisch, beziehen ohne Murren | |
suboptimale Schweinchenbeobachtungspositionen in gebotenem Abstand. Sie | |
haben Social Distancing intus. Gruselig. | |
Zu Hause bestelle ich bei der Buchhändlerin per Mail Bücher. Persönlich | |
abzuholen, wow, ich ziehe mir die selbst genähte Maske auf. Premiere. Fühle | |
mich asozial bis dorthinaus. Unter Aufbietung aller Willenskraft lasse ich | |
die Maske beim LPG-Einkauf auf. Bewege mich unbeholfen. | |
Weiß plötzlich sicher, dass ich nie wieder lachen werde. Rufe im Affekt auf | |
dem Rückweg bei Freunden in die Gegensprechanlage: „Ich wollte euch mal von | |
der anderen Straßenseite aus zuwinken!“ Die Maske ziehe ich | |
sicherheitshalber ein Stück runter. Sie winken zurück. | |
## Es schleifen sich helfende Routinen ein | |
Neben dem vielen Neuen und Ungewohnten, neben den allabendlich in zu großen | |
Mengen halbverdaut mit ins Bett genommenen Nachrichtenlagen schleifen sich | |
helfende Routinen ein: Wider Erwarten gehört „Albas tägliche Sportstunde“ | |
auf YouTube dazu. Die Kinder lieben das Albatros-Maskottchen im | |
Ganzkörperkostüm, strecken brav die Arme gen Zimmerdecke, zielen mit | |
Sockenknäueln auf den Papierkorb und finden jetzt Basketball ein bisschen | |
interessant. | |
Außerdem müssen sie jeden Tag mit der vom Nachbarn entliehenen Nintendo | |
Switch spielen. Das ist wichtiger als das Balkonbepflanzungsprojekt oder | |
die Regenbogenbilder fürs Seniorenheim. Sie könnten, denke ich, locker noch | |
vier Monate Shutdown mit Mario Kart überstehen. | |
Ich reihe mich ein in die Online-Warteschlange für den „Rettungszuschuss | |
Corona“. 5.000 Euro Soforthilfe für Freiberufler und Selbstständige. Ich | |
lande auf Wartelistenplatz 67.737. Die Berliner Investitionsbank hat Geld | |
für maximal 60.000 Soforthilfen bereitgestellt. Am Samstag wird die | |
Schlange kaum kürzer. | |
Am Sonntagmittag bin ich dann plötzlich dran, fast hätte ich mein | |
Zeitfenster zum Stellen des Antrags (35 Minuten) verpasst. Schwitzend trage | |
ich Steuer-ID und Personalausweisnummer ein. Setze einige Häkchen. Schwitze | |
noch stärker. Schicke den Antrag ab. Die Kinder kreischen: „Mama, jetzt | |
sind wir reich!“ Der amerikanische Übersetzerkollege schreibt: „Toi toi | |
toi, zey gezunt, this too shall pass!“ | |
Ich putze die Badewanne und ziehe achtsam ein schwarzes | |
Riesenhaarseifenknäuel aus dem Abfluss. Bin dankbar für den Moment. | |
1 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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