# taz.de -- Corona-Isolation in Serbien: Jeder stirbt für sich allein | |
> Für Menschen über 65 gilt in Serbien eine Ausgangssperre. Der 91-jährige | |
> Holocaustüberlebende Ivan Ivanji macht sich Gedanken über die Maßnahmen. | |
Bild: Patrouille in Belgrad: Die Ausgangssperre gilt für alle über 65, Jünge… | |
BELGRAD taz | Begrenzungen der Freiheit [1][während einer Pandemie] sind in | |
geordneten Gesellschaften erforderlich. Wieso aber in Serbien einzelne | |
Altersgruppen unterschiedlich behandelt werden, ist nicht nur | |
unverständlich, sondern auch verfassungswidrig. Denn in Serbien wurde für | |
Senioren über 65 Jahren eine absolute Ausgangssperre verhängt. Für die | |
Überschreitung dieser Verordnung muss man eine Geldbuße von rund 1.300 Euro | |
zahlen, für serbische Rentner, die im Schnitt mit 350 Euro über die Runden | |
kommen müssen, eine unbezahlbare Summe. Kontrolle dieser Maßnahme übt nicht | |
nur die Polizei aus, sondern auch Dreierpatrouillen der Militärpolizei mit | |
schussbereiten Maschinenpistolen. | |
Bevor ich über die Situation und meine [2][Gedanken zur | |
Coronavirus-Situation] berichte, muss ich zugeben, dass ich kein typisches | |
Fallbeispiel bin. Ich habe mit dem Massentod sehr früh nahe Bekanntschaft | |
gemacht und bin finanziell und materiell gesichert, sehr viele Mitbürger | |
dagegen nicht. | |
Wie gefährdet bin ich persönlich? Mit mindestens 50-prozentiger | |
Wahrscheinlichkeit hätte ich am 27. Mai 1944 ermordet werden sollen. An | |
diesem Tag wurde ich als 15-Jähriger in Auschwitz an einem übermüdeten | |
SS-Arzt vorbeigetrieben, der mit einer Handbewegung entschied, dass ich | |
arbeitsfähig bin und nicht der Sonderbehandlung (sprich Gaskammer) | |
unterzogen werde. | |
In einer furchtbaren Lage befand ich mich vom 18. Februar bis zum 13. April | |
1945 im [3][Außenkommando des KZ Buchenwald] in Langenstein, einem Dorf | |
nahe Halberstadt. Von den rund 7.000 Häftlingen überlebten etwa 2.500. Aus | |
heutiger Sicht ist für mich noch schrecklicher als die Arbeit in den | |
Stollen der Harzer Thekenberge, dass wir keine Betten hatten, sondern auf | |
halb verfaultem Stroh so dicht beieinanderliegen mussten. Keiner konnte | |
sich auf die andere Seite drehen, ohne Dutzende Mithäftlinge zu bewegen. | |
Man musste starr liegen bis zum Morgen. | |
Ich wunderte mich, als ich nach dem Krieg erfuhr, dass Einzelhaft in den | |
Gefängnissen eine schwere Sondersanktion ist. Wäre ich je zu einer | |
Kerkerstrafe verurteilt worden, hätte ich sofort um Einzelhaft gebeten. | |
## Meine „Zelle“ hat 68 Quadratmeter | |
Heute befinde ich mich, 91 Jahre alt, wegen der Coronavirus-Pandemie wieder | |
im Gefängnis, allerdings in einer sehr bequemen Einzelhaft. Meine „Zelle“ | |
ist 68 Quadratmeter groß, hat Fensterwände in zwei Himmelsrichtungen und | |
eine nach Südwesten ausgerichtete Terrasse. Von der blicke ich auf einen | |
schönen kleinen Rasenplatz. Es ist 22 Grad warm, die Bäume sind dabei, ihr | |
erstes Grün anzulegen, mehrere Bänke sind frei. Ich verstehe nicht, warum | |
ich mich in größere Gefahr bringen würde, säße ich eine halbe Stunde im | |
Park. Experten sagen, eine Ansteckung sei im Freien mit sicherer Distanz | |
unwahrscheinlich. | |
Doch ich habe der Obrigkeit zu gehorchen, wie auch jüngere Mitbürger, für | |
die die absolute Ausgangssperre von 17 bis 5 Uhr morgens gilt. Im Kampf | |
gegen die Pandemie wurden in verschiedenen Ländern unterschiedliche | |
Maßnahmen ergriffen, die zur Begrenzung der individuellen Freiheit führen – | |
das verstehe ich. Weltweit spricht man von „einer nie da gewesenen | |
Situation“. Das akzeptiere ich jedoch nicht, schlicht gesagt, das ist nicht | |
wahr. | |
Ohne sich der Gefahr auszusetzen, die aktuelle Pandemie kleinzureden, | |
können wir uns ruhig daran erinnern, dass zwischen 1346 und 1353 ein | |
Drittel aller Europäer am „Schwarzen Tod“, also der Pest, gestorben ist. | |
1918/19 haben fünfzig bis siebzig Millionen Menschen die „Spanische Grippe“ | |
nicht überlebt. Damals wurde nicht so genau gezählt wie heute, auf einige | |
Millionen Tote mehr oder weniger kam es nicht an. Jedenfalls waren es im | |
Laufe eines Jahres mehr Tote als in den vier Jahren des Ersten Weltkrieges. | |
Ich höre Einwände: „Aber das ist doch nicht das Gleiche!“ Die Pest wurde | |
von keinem Virus, sondern vom Bakterium Yersinia pestis verursacht, die | |
Influenza nach dem Großen Krieg von einem Virus der Gruppe H1N1, und jetzt | |
haben wir es mit dem bisher unbekannten Virus Corona, bezeichnet auch als | |
SARS-Cov-2, zu tun. Für Wissenschaftler, Epidemieologen, Virus- und | |
Genforscher ist das hochinteressant, aber für Patienten schnurzegal, ob es | |
sich um ein Bakterium, ein Virus oder die Strafe Gottes handelt. | |
## Man wird Schuldige suchen | |
Es stimmt also keineswegs, dass „so eine Situation“ nie da gewesen ist; es | |
ist jedoch richtig, dass es früher nie Medien gab, die so schnell weltweit | |
Bilder und Nachrichten über Tatsachen und Fake News verbreiteten, nicht nur | |
wohlfundierte Empfehlungen geben, sondern auch sensationslustig Panik | |
schüren. Und nie da gewesen war eine solche gegenseitige Abhängigkeit der | |
Weltwirtschaft. An Einbrüchen ihrer Einkommen, ihrer Existenz, werden sehr | |
viele Menschen, lange nachdem die Krankheit medizinisch gesehen überwunden | |
ist, leiden. | |
Wie immer nach einer Sintflut wird man Schuldige suchen. Für den „Schwarzen | |
Tod“ wurden die Juden verantwortlich gemacht, jetzt haben aus Sicht der | |
chinesischen Regierung amerikanische Soldaten das Virus eingeschleppt, aus | |
der Sicht Donald Trumps sind die Chinesen schuld, weil sie angeblich die | |
Epidemie lange verheimlicht hätten. Aus mancher westlicher Sicht hat das | |
Verzehren von Fledermausfleisch die Mutation des Virus verursacht, | |
Emigranten aus Afrika und Asien hätten die Krankheit nach Westeuropa | |
gebracht und so weiter. | |
Die jetzige Situation und [4][die Verschwörungstheorien] werden psychische | |
Erkrankungen verschlimmern und rassistische Aggressionen schüren, | |
Isolationisten und Nationalisten überall stärken, und letztendlich wird die | |
Demokratie dort, wo sie besteht, erschüttert, und wo sie nicht besteht, mit | |
noch mehr Verachtung als bisher behandelt. Insofern glaube ich tatsächlich, | |
dass sich die Welt nach dieser Pandemie verändern wird. | |
Hätten wir die Coronatests nicht, wüssten wir nichts von einer Pandemie, | |
glauben manche. Zwar hätte sich 70 Prozent der Menschheit angesteckt, doch | |
die meisten wären mit leichten Symptomen davongekommen, die | |
Sterblichkeitsrate wegen Lungenentzündung wäre in einem „akzeptablen“ | |
Prozentsatz gestiegen. Bei älteren Menschen kann eben auch eine Erkältung | |
zur tödlichen Lungenentzündung führen. | |
## Der Virus verdrängt nicht die Wirklichkeit | |
Doch wir haben die Tests, und die Errungenschaft der westlichen | |
Zivilisation nach dem Zweiten Weltkrieg ist, dass ein jedes einzelnes | |
Menschenleben keinen Preis hat. Und das, auch wenn die Weltwirtschaft | |
einstürzt. Und wenn es sich nicht um das Leben von Migranten handelt, das | |
Leben von Menschen außerhalb der westlichen Hemisphäre. | |
Das Coronavirus hat freilich (fast) alles andere aus Medien verdrängt, aber | |
nicht alles aus der Wirklichkeit. In Syrien sterben weiterhin Menschen, | |
Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer oder sitzen hoffnungslos in überfüllten | |
Lagern. Die Gefahr eines Krieges zwischen Israel und dem Iran ist größer | |
geworden. In Libyen herrscht bestenfalls ein Waffenstillstand. Russland, | |
die USA und China testen ihre neuesten Waffen, obwohl auch die alten den | |
Weltuntergang auslösen können. Weiterhin sterben Menschen an Krebs, an | |
Herz- oder Nierenversagen, an Diabetes, Aids. Es ist müßig aufzuzählen, wie | |
viel mehr derzeit an anderen Krankheiten sterben als an der „nie da | |
gewesenen“ Erkrankung. | |
Und auch alle Folgen des Klimawandels drohen wie düstere, sturmgejagte | |
Wolken vom Himmel und werden, fürchte ich, noch sehr lange diskutiert und | |
nicht gelöst werden, auch noch wenn längst nur noch am Stammtisch in | |
breiter Runde Kopf an Kopf erinnert wird: „Also weißt du, damals, als | |
dieses Virus da war, wie hieß das noch? Schweinegrippe, Vogelgrippe?“ – | |
„Nein, du meinst die Coronavirus-Pandemie …“ | |
Es gilt was Hans Fallada in ganz anderem Zusammenhang geschrieben hat: | |
„Jeder stirbt für sich allein.“ Wie anfangs angedroht: Ich bin schon zu | |
lange mit dem Tod auf Du und Du, um ein gutes Fallbeispiel zu sein. | |
31 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ivan Ivanji | |
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