| # taz.de -- Wirkung des Kontaktverbots: Fakten dringend gesucht | |
| > Wann übersteigen die Schäden durch den Stillstand den | |
| > gesundheitspolitischen Nutzen? Für diese Diskussion braucht man valides | |
| > Zahlenmaterial. | |
| Bild: In der Ärztekammer in Berlin brennt noch ein Licht | |
| Seit zwei Wochen sind jetzt, coronabedingt, die Schulen dicht. Und wer, wie | |
| Millionen andere Eltern auch, zuvor bereits die eigene Verbannung [1][ins | |
| Homeoffice] klaglos kompensiert, den Verlust sozialer Kontakte rational | |
| akzeptiert und den sich abzeichnenden Jobverlust mit der gebotenen | |
| professionellen Gemäßheit reflektiert hatte, der konnte angesichts der in | |
| die home school versendeten Stapel didaktisch schwer vermittelbarer | |
| Arbeitsblätter, während das Kind im gleichmäßigen Aggro-Takt gegen die | |
| Wohnzimmerlampe pritschte („Mamaaa, ist heute wenigstens wieder | |
| Volleyball?“), das Unaussprechliche zuletzt nicht mehr ganz | |
| beiseiteschieben: Wie lange noch? | |
| Liest sich lustig? Ist es nicht. Es gärt in der Bevölkerung. Es gärt, | |
| obwohl die große Mehrheit von uns laut Politbarometer und Umfragen, die das | |
| Robert-Koch-Institut regelmäßig bei Psychologen der Universität Erfurt | |
| beauftragt, immer noch Verständnis hat für die rigiden, die | |
| [2][Freiheitsrechte empfindlich einschränkenden] und die Wirtschaft | |
| ruinierenden Maßnahmen. Es gärt, obwohl die Bereitschaft, persönliche Opfer | |
| zu bringen aus Solidarität mit denjenigen, die eben nicht bloß krank | |
| würden, sondern deren Leben durch eine Infektion mit dem Virus bedroht | |
| wäre, weithin ungebrochen ist. Dennoch wächst der Unmut. Warum? | |
| Er wächst, weil derzeit selbst wohlwollend und vorsichtig geäußerte Zweifel | |
| an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, bezogen auf ihren erhofften | |
| Nutzen, das Virus einzudämmen, aber auch bezogen auf ihren Schaden in | |
| anderen Gesellschaftsbereichen, unterbunden werden. Mit dem Argument, wenn | |
| es um Leben und Gesundheit gehe, verbiete sich jede Abwägung. In einer | |
| Pressemitteilung der SPD-Fraktionsvizechefin Bärbel Bas vom Freitag liest | |
| sich das dann so: „Noch ist es zu früh, über ein Ende der Maßnahmen zu | |
| sprechen. Jetzt heißt es: Leben retten hat Vorrang.“ | |
| Eine solche Basta-Rhetorik aber ist, bei aller Nachsicht, selbst in der | |
| größten nationalen Krise wenig geeignet, Maßnahmen als alternativlos zu | |
| rechtfertigen, die die Grundrechte drastisch beschneiden. Zumindest solange | |
| die Evidenz dieser Maßnahmen unklar ist. Nur wer zeigen kann, dass | |
| Schulschließungen, Arbeitsverbote und Kontakteinschränkungen tatsächlich | |
| die erhofften Effekte haben und dass die positiven Effekte die | |
| unerwünschten, viele Existenzen bedrohenden Nebenwirkungen überwiegen, kann | |
| dauerhaft auf Akzeptanz hoffen. | |
| ## Sozial- und Geisteswissenschaftler sind gefragt | |
| Derzeit ist das Risiko hoch, dass die Politik genau diese Akzeptanz aufs | |
| Spiel setzt. Die Bereitschaft der Regierung, ihre Interventionen durch | |
| unabhängige, wissenschaftliche Begleitforschung einer kritischen | |
| Überprüfung und Bewertung zu unterziehen, kommt nur zögerlich in Gang. Nach | |
| zwei Monaten, in denen sich das Virus in Europa rasant verbreiten konnte, | |
| werden nun endlich in Deutschland Kohortenstudien in Aussicht gestellt, die | |
| möglicherweise Ende April erste Daten dazu liefern könnten, wie hoch die | |
| bevölkerungsweite Infektionsrate auch bei symptomfreien Personen ist. Diese | |
| Daten werden nicht nur benötigt, um festzustellen, wie wirksam etwa | |
| Schulschließungen überhaupt sind, sondern auch, wann ein [3][guter | |
| Zeitpunkt] wäre, sie zu beenden. | |
| Ähnlich zaghaft setzt sich die Einsicht durch, die Bewertung der | |
| Konsequenzen des öffentlichen Handelns im Kampf gegen Corona nicht | |
| ausschließlich der (unbestritten! ungeheuer! klugen!) virologischen | |
| Expertenwelt zu überlassen, sondern die Perspektive zu weiten und hieran | |
| auch Sozial- und Geisteswissenschaftler, Ökonomen und Juristen zu | |
| beteiligen. | |
| Wann übersteigen die psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden den | |
| gesundheitlichen Nutzen durch den Stillstand? Wir werden uns dieser | |
| Diskussion stellen müssen. Sie ist schwierig genug. Aber wir sollten sie | |
| wenigstens auf möglichst sicherer Faktengrundlage führen. Eine begleitende | |
| Evaluierung ist daher dringend geboten. | |
| 27 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
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