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# taz.de -- Maßnahmen gegen Coronavirus: Keine Evaluierung geplant
> Was bringen Kontaktverbote und Schulschließungen? Derzeit kann das
> niemand sagen. Wissenschaftlich untersucht wurde es noch nicht.
Bild: Nur gezeichnet: Massenansammlung von Schülern
Berlin taz | Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet
(CDU) preschte als erster Landesregierungschef vor. Das virusbedingte
Kontaktverbot und die anderen die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und
Bürger stark einschränkenden Corona-Regeln der Bund-Länder-Gruppe waren
noch keine 24 Stunden in Kraft, da erfuhren die zuständigen Behörden in NRW
zu Wochenanfang bereits, wie sie in ihrem Bundesland etwaige Verstöße zu
ahnden haben.
[1][Der Bußgeldkatalog] für, nun ja, Coronabrecher hat es in sich: 200 Euro
für Zusammenkünfte von mehr als zwei nicht miteinander wohnenden Personen
in der Öffentlichkeit. 250 Euro für ein Picknick (pro Person). 1.000 Euro
für eine Sportveranstaltung. Und so geht es weiter, bei wiederholten
Verstößen werden bis zu 25.000 Euro fällig.
Nun wäre es anzunehmen, dass, wer die Grundrechte so empfindlich
einschränkt und Verstöße dagegen mit saftigen Bußgeldern bedroht, Daten
vorlegen kann sowohl zur Wirksamkeit der Maßnahmen als auch zu ihrem
möglichen Schaden oder ihren unerwünschten – sozialen, psychischen,
bildungspolitischen und wirtschaftlichen – Nebenwirkungen. Anzunehmen wäre
ebenfalls, dass, sollten diese Daten noch nicht vorliegen, man keine Mühen
scheuen würde, diese schnellstmöglich zu erheben.
Denn dies würde es ermöglichen, die Effektivität der Maßnahmen, begleitend
zu ihrem Einsatz, zu evaluieren und ins Verhältnis zu setzen zu ihren
unerwünschten Nebenwirkungen. Daten können politische Entscheidungen nicht
ersetzen. Aber sie können helfen, politische Entscheidungen zu
legitimieren.
## Überprüfung nicht geplant
Doch an verlässlichen Daten, Messungen und Erhebungen zu der Frage, welche
positiven wie negativen Effekte genau Schulschließungen, Kontakt-,
Aufenthalts- und Arbeitsverbote sowie weitere „nicht-pharmakologische
Interventionen“ (NPI) eigentlich haben, ist denjenigen, die sie lautstark
befürworten, offenbar nicht gelegen.
Deutschland greift zu drastischen, womöglich ruinösen Maßnahmen, ohne diese
durch begleitende Forschung zu bewerten und vor allem: auf ihre
Effektivität hin zu überprüfen. Das ergaben Anfragen der taz beim
Bundesgesundheitsministerium (BMG), beim Bundesforschungsministerium (BMBF)
und beim Robert-Koch-Institut (RKI).
„Eine Evaluierung der Effekte dieser Maßnahmen“, teilt ein Sprecher des
Gesundheitsministeriums der taz mit, „kann aufgrund der Kürze der
Einschränkungen noch nicht stattfinden.“ Auch auf absehbare Zeit wird es
sie wohl nicht geben: „Das BMBF hat keine Studien beauftragt“, erklärt eine
Sprecherin lapidar.
Nur aus China lägen „vorläufige Ergebnisse solcher Studien“ vor. Jedoch:
„Gegenwärtig ist unklar, ob diese auf die deutsche oder europäische
Situation übertragbar sind. Belastbare Erkenntnisse aus Deutschland oder
Europa liegen dem BMBF nicht vor.“ Und kurzfristig, so die Sprecherin,
werde sich daran auch nichts ändern: „Es wurde keine Begleitforschung
beauftragt.“ Warum das so ist? Die Ministerien und auch das staatseigene
RKI schweigen. Auch auf schriftliche Nachfrage gibt es keine Begründung.
## Screenings nicht vorgesehen
Ebenfalls keine Antwort gibt es auf die Frage, weshalb in Deutschland immer
noch keine Corona-Screenings durchgeführt werden, für die sich unter
anderem [2][der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ausgesprochen
hatte]. Gemeint ist eine Testung von verschiedenen Kohorten bisher nicht
auf das Virus getesteter Personen, die herausfinden könnte, wie weit das
Virus bereits in der Bevölkerung verbreitet ist.
„Man wüsste dann, ob social distancing überhaupt den gewünschten Effekt
erzielen kann“, sagt der Bioethiker und Vizedirektor des Quest-Center am
Berlin Institute of Health, Daniel Strech. Und man könnte Antworten auf die
Fragen geben, die sich auch in China stellen: Gibt es dort kaum noch neue
Diagnosen wegen der effektiven nicht-pharmakologischen Interventionen? Oder
vielleicht, weil bereits die Mehrheit der Bevölkerung infiziert ist, aber
keine Symptome zeigt?
Immerhin, räumt das Bundesforschungsministerium ein, könnten sich
interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf eigene
Initiative an einem jüngst gestarteten Förderaufruf des Ministeriums zur
Erforschung von Covid-19 beteiligen; eine Projektförderung auch zu
epidemiologischen Fragestellungen und zu ethischen, rechtlichen und
sozialen Aspekten „im Zusammenhang mit dem Ausbruchgeschehen“ sei über
einen Zeitraum von 18 Monaten möglich.
Die Ausschreibungsfrist hierzu endet am 11. Mai. Danach werde über die
Vergabe der Mittel entschieden. Wer jemals an einer deutschen Universität
mit öffentlichen Mitteln geforscht und den bürokratischen
Bewilligungsdschungel durchlitten hat, weiß: Vor dem Herbst geht da gar
nichts los.
„Wir brauchen die Daten aber bald“, mahnt der Bioethiker Strech. Es sei
„wichtig, auch den möglichen Schaden zu untersuchen: Wie viele
pflegebedürftige, alte Menschen leben nun isoliert in Pflegeheimen ohne
Begleitung ihrer Angehörigen oder in der Häuslichkeit ohne Fürsorge einer
ausländischen Betreuungskraft? Wie viele Menschen erleiden gesundheitlichen
Schaden, weil sie nicht operiert werden? Wie ist das Familienleben
beeinträchtigt? Wie viele Unternehmerinnen oder Unternehmer verzweifeln an
ihrer Insolvenz? Hierzu benötigen wir medizinische und
sozialwissenschaftliche Begleitforschung“, so Strech. Doch danach sieht es
nicht aus.
Wie kann das sein? Auf welcher Grundlage werden Millionen Kinder vom
Schulunterricht ausgeschlossen, werden weitere Millionen Menschen ins
Homeoffice verbannt oder in die Arbeitslosigkeit geschickt? Wenn diese
Maßnahmen – und zwar zeitnah, also begleitend zu ihrer Durchführung –,
nicht auch wissenschaftlich überprüft und hinterfragt werden?
## Einmal innehalten
Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) immerhin wagte am
Mittwoch sanfte Kritik an der vermeintlichen Alternativlosigkeit der
bislang ergriffenen Maßnahmen: „Ich bin überzeugt, es ist höchste Zeit,
einmal innezuhalten, um darüber nachzudenken, ob wir wirklich auf dem
richtigen Weg sind“, schrieb er [3][in einem Gastbeitrag für die Rheinische
Post]. Geholfen sei niemandem, wenn ein ganzes Land auf unabsehbare Zeit in
Quarantäne genommen werde.
Doch auch zu der Frage, wie lange der Ausnahmezustand andauern soll und
wann welche Einschränkung nach welchen Kriterien überprüft und
möglicherweise gelockert werden kann, gibt es keine Auskunft. Der Chef des
Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, orakelte am Mittwoch bloß, die
Epidemie werde sicher „noch einige Wochen“ im Land bleiben. Derzeit würden
die Bewegungsströme der Bevölkerung anhand aggregierter und anonymisierter
Handy-Daten der Telekom ausgewertet. Er sei „optimistisch“, dass die
Maßnahmen griffen.
Worauf genau dieser Optimismus gründet und wie berechtigt er ist, ist indes
schwer nachzuvollziehen. Auf Nachfrage verweist das RKI, Deutschlands
oberste Behörde zum Schutz vor Seuchen, auf den „[4][Nationalen
Pandemieplan, Teil 2]“. Dort werde „das Thema“, schreibt eine Sprecherin,
zumindest für Influenza, „ausführlich diskutiert“.
Und es stimmt. Im Nationalen Pandemieplan findet sich ein Kapitel mit dem
Titel „Nicht-pharmakologische Maßnahmen“, in dem auch gefragt wird: „Wel…
Evidenz liegt für die einzelnen Maßnahmen vor, dass diese eine Übertragung
von Influenza zu reduzieren vermögen“, und „welche Aspekte (über die
Effektivität hinaus) sind für Entscheidungen zu berücksichtigen, um
bestimmte Maßnahmen zu ergreifen oder zu empfehlen?“
## Datengrundlage über 100 Jahre alt
Die Ergebnisse der Literaturrecherche freilich sind ernüchternd: Die
Entscheidung etwa, im Fall einer Pandemie Schulen zu schließen oder
Massenveranstaltungen abzusagen, beruhe bis heute vor allem auf Daten, die
während der Grippe-Epidemie von 1918 gewonnen wurden, Daten also, die mehr
als 100 Jahre alt sind. „Modellierende Berechnungen legen zwar einen Effekt
der damaligen Bemühungen nahe, allerdings bestehen Zweifel bezüglich der
Übertragbarkeit auf die heutige Situation“, heißt es denn auch im
Pandemieplan.
Die logische Schlussfolgerung haben die für die Seuchenbekämpfung
Verantwortlichen übrigens auch bereits gezogen, zumindest theoretisch und
als Hinweis versteckt auf Seite 77 des Nationalen Pandemieplans: „Insgesamt
besteht ein großer Forschungsbedarf, da zu vielen der hier untersuchten
Maßnahmen nur wenige belastbare Daten und verallgemeinerungsfähige Studien
vorliegen.“
25 Mar 2020
## LINKS
[1] https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/straf-und-bussgeldkatalog-zur-umse…
[2] /Sich-auf-Corona-testen-lassen/!5671714
[3] https://rp-online.de/panorama/coronavirus/coronavirus-duesseldorfer-oberbue…
[4] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/I/Influenza/Pandemieplanung/Downloads/P…
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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