# taz.de -- Corona lädt zum Herumschweifen ein: Die Stadt soll wieder neu werd… | |
> Wer sich in ihr verläuft, dem offenbart die Stadt ihre Geheimnisse. In | |
> den Coronatagen ist das Umherschweifen ein schöner Zeitvertreib. | |
Bild: Mobile Bäckerei auf dem Hermannplatz Berlin | |
Ich mache seit meinem Studium „Homeoffice“. Um Anstellung in richtigen | |
Büros konnte ich mich weitgehend drücken. An den meisten Tagen sitze ich | |
trotzdem am Schreibtisch, bloß eben an meinem eigenen. Solange ich mich in | |
meinem „Berufsleben“ zurückerinnern kann, habe ich aber auch zugesehen, | |
dass ich mich jeden Tag wenigstens eine Stunde bewege. | |
Nun fallen seit zwei Wochen Pilates und Schwimmen ebenso flach wie die | |
Radfahrten zur AGB, zur Stabi oder zu steuerlich absetzbaren | |
„Hintergrundgesprächen“ in der taz-Kantine. Also entdecke ich die eigene | |
Nachbarschaft mit dem Fahrrad wieder. | |
Ich fahre an Plakaten von Konzerten vorbei, die nicht mehr stattfinden, und | |
an geschlossenen Geschäften, von denen einige wohl nie wieder aufmachen | |
werden. Die Dönerläden in der Sonnenallee und die Eisdielen in den | |
Seitenstraßen sind alle geöffnet. Offenbar sind Junkfood und | |
Passionsfrucht-Sorbet in Nord-Neukölln systemrelevant. Auch der Blumenladen | |
an der Ecke hat entschieden, dass es ohne ihn nicht geht, und verkauft | |
Primeln auf dem Bürgersteig. | |
Ich nehme mir vor, jeden Tag durch wenigstens eine Straße zu fahren, die | |
ich nicht kenne. Die Stadt soll wieder neu werden. So wie damals, als ich | |
nach Berlin gezogen war und tagelang allein oder mit Freunden durch | |
unbekannte Nachbarschaften zog und jede Straßenecke bestaunte. | |
## Ein Wind aus dem Paradies | |
Berauscht von den Ideen der Situationisten nannten wir das „derivé“: das | |
ziellose Herumschweifen in der Stadt. Wer sich erfolgreich in ihr verläuft, | |
den beschenkt die Stadt mit ihren Gaben und offenbart ihm ihre Geheimnisse. | |
Dabei hilft es, wenn man zu viel Zeit hat, weil man jung und sorglos ist. | |
Oder ein bisschen angetütert. | |
Obwohl ich nichts davon bin, öffnen sich heute Nachmittag doch irgendwann | |
die versteckten Tore und die geheimen Abkürzungen. Erst flüstert das | |
dunkelrote Backsteinportal der Ideal-Passage leise meinen Namen. | |
Ich trete in die Anlage, eine Abfolge von Höfen, umgeben von | |
Genossenschaftsbauten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in | |
deutschtümelnder Optik. Im grauen Zwielicht, das hier das ganze Jahr über | |
herrscht, besehe ich mir die steinernen Gnome über den Türen. Und plötzlich | |
scheint die Zeit langsamer zu vergehen. | |
Mein Unterbewusstsein übernimmt und führt mich durch enge Straßen mit | |
Kopfsteinpflaster zu einem „Rixdorfer Dorfweiher“, von dem ich noch nie | |
etwas gehört habe – wahrscheinlich hat mich eine unterirdische Wasserader | |
geleitet, die hier einst ins Berliner Urstromtal mündete und nun unter den | |
Gründerzeitbauten fließt. | |
Von dem kleinen Teich geht es entlang eines geheimen Trampelpfads wie in | |
einem märkischen Dorf weiter zum Richardplatz. Dort sieht die bizarre | |
Sammlung von Porzellanviechern im Vorgarten eines der verbliebenen alten | |
Gehöfte aus, als enthielte sie eine geheime Botschaft, die nur ich | |
entschlüsseln kann. Und das wahrscheinlich auch nur heute. Ich fürchte, | |
wenn ich das nächste Mal wieder herkomme, wird das heruntergekommene | |
Gemäuer verschwunden sein wie in einem Nachtstück von E. T. A. Hoffmann. | |
Auch die Jugendstil-Trinkhalle auf dem Richardplatz mit ihrer ovalen Kuppel | |
erscheint plötzlich so wundersam, dass ich mich frage, wie ich so oft | |
achtlos an ihr vorbeifahren konnte. | |
Ein Wind aus dem Paradies bläst mich weiter, entlang der S-Bahn-Trasse und | |
dann über den Teltowkanal in eine Parkanlage, die ich nicht wiedererkenne, | |
bis ich plötzlich vor der Ruine des Blub stehe, des Berliner Luft- und | |
Badeparadieses, einer Westberliner 80er-Jahre-Grauslichkeit, die seit ihrer | |
Schließung bereits mehrfach in Brand gesteckt wurde. | |
Der Besucher von einst erkennt aber in den Trümmern noch immer die | |
dekadente Pracht der Saunalandschaft Al Andalus, wo man sich nach Besuch | |
der Cleopatra-Sauna im Alhambra-Brunnen mit Eiswasser abkühlen konnte. | |
4 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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