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# taz.de -- Ethikrat zu Jugendhilfe: Regeln für Zwangsmaßnahmen
> Der Ethikrat befasste sich mit einer Debatte, die bisher keine
> öffentliche Bühne fand – dem „wohltätigen Zwang“ in der Jugendhilfe.
Bild: Neben Gittern gegen Fluchtversuche gibt es noch unmittelbare Zwangsmaßna…
Berlin taz | Mit Eile, so schien es, versuchen CDU und SPD noch vor den
Neuwahlen ein umstrittenes Gesetz durchzubringen, das Zwangsmaßnahmen, wie
Fixierungen oder räumliche Isolierung bei Kindern und Jugendlichen regelt.
Doch jetzt setzt sich zumindest die SPD dafür ein, dieses Gesetz in einer
öffentlichen Anhörung zu diskutieren, bei der auch die Kritiker zu Wort
kommen sollen.
Konkret geht es um den Paragrafen 1631 b des bürgerlichen Gesetzbuchs
(BGB). Bisher erlaubt dieser Eltern bei Gericht die Unterbringung eines
Kindes in einem geschlossenen Heim zu beantragen. Künftig soll ein zweiter
Absatz eingefügt werden: Auch wenn Kindern auf längere Zeit in nicht
altersgerechter Weise durch „Mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder
andere Weise“ die Freiheit entzogen wird, soll das erst ein Richter
genehmigen.
Nachdem [1][die taz davon im März berichtete], starteten die Hamburger
Hochschullehrer Tilman Lutz und Michael Lindenberg aus Hamburg einen
Appell, um das Gesetz zu stoppen, mit dem Titel: „Kein Fesseln auf Antrag
in der Jugendhilfe“. 50 Professoren der Erziehungswissenschaft
unterzeichneten den Aufruf bisher. Denn sie fürchten nicht eine
Eingrenzung, sondern eine Legitimierung problematischer Praktiken, die man
gar nicht erlauben sollte, wie das langandauernde Festhalten von jungen
Menschen durch mehrere Personen mit Griffen, die weh tun.
Doch das Gesetz wurde am 9. März bereits ohne Debatte im Bundestag in
erster Lesung verabschiedet. Die Linke forderte eine
Sachverständigenanhörung im Bundestags, wo auch die Bedenken der
Jugendhilfe zum tragen kommen. Doch der Terminplan im Rechtsausschuss ist
prall gefüllt mit anderen Gesetzesthemen. Statt dessen gab es am 27. April
im Ausschuss ein nicht öffentliches „erweitertes Berichterstattergespräch�…
zudem die Kritiker so kurzfristig eingeladen wurden, dass sie nicht
teilnehmen konnten. Quasi stellvertretend bot nun am Donnerstag der
Ethikrat ein Forum für diesen Streit. Bei einer Expertenanhörung mit dem
diskussionswürdigen Titel „wohltätiger Zwang“ kam auch die Gesetzesänder…
zur Sprache.
## Fragwürdige Praxis genehmigungsfähig
Gleich den ersten Auftritt hatte der Bielefelder Erziehungswissenschaftler
Holger Ziegler, der zum Kreis der Mahner gehört. Er nennt das Gesetz
„unfassbar“. Denn der Entwurf spricht davon, dass Praktiken
genehmigungsfähig sein sollen, in denen Kindern „in nicht altersgerechter
Weise die Freiheit entzogen werden soll“. Damit würden Maßnahmen, die
andere als Kindeswohlgefährdung bezeichnen würden, vom Gesetzgeber für
genehmigungsfähig erklärt.
Ähnlich deutlich äußerte sich Thomas Meysen vom Deutschen Institut für
Jugendhilfe und Familienrecht in Heidelberg, in seinem zuvor schriftlich
eingereichtem Statement. Die Regelung erscheine zwar nötig, um auch
freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen
staatlicher Kontrolle zu unterstellen, sei aber „nicht hinreichend“. Denn
derartige Mittel öffentlicher Erziehung ließen sich „mit pädagogischen
Argumenten nicht legitimieren“, so Meysen. Es wäre gut, dies in dem neuen
Gesetz klar zu stellen. Denn nach dem Gesetzentwurf sei die Einschränkung
des Anwendungsbereichs allein der familiengerichtlichen Praxis überlassen.
Im Ethikrat fand die Reform aber auch deutliche Fürsprecher. Der Missbrauch
solcher Maßnahmen werde durch ein Gerichtsverfahren eher verhindert,
argumentierte der Familienrichter Wolfgang Keuter aus Bad Iburg. Denn
derzeit dürften Eltern allein über solche Maßnahmen entscheiden, und seien
dabei oft dem Druck einer Einrichtung, in der sie ihre Kinder unterbringen
wollen, ausgesetzt. Wenn künftig Eltern beantragten, eine Fixierung zu
genehmigen, müsste sich erst ein Gericht davon überzeugen, dass es keine
milderen Maßnahmen gibt.
Auch Claudia Kittel von der Monitoring Stelle zur Einhaltung der
UN-Kinderechtskonvention sprach von einer „absolut notwendigen“ Reform, die
eine schon lange identifizierte Rechtslücke schließt. Ähnlich ist übrigens
die Position der Grünen, die die Reform mit einem eigenen parallel
eingebrachten Gesetzesantrag beförderten. Die Kritik aus der Jugendhilfe
sei nicht stichhaltig, hört man von deren Fachpolitikern, weil
Zwangsmaßnahmen aus pädagogischen Gründen gar nicht genehmigt werden
dürften, sondern nur zur Abwehr von akuter Selbst- oder Fremdgefährdung.
## Stellungnahme erst 2018
Doch eben das sieht Kritiker Holger Ziegler anders. Denn im Entwurf heißt
es allgemeiner, die Maßnahme müsse dem „Wohl des Kindes“ dienen. Das lasse
einen bunten Graubereich von Gründen zu, mahnt Ziegler: „Worin der
Fortschritt dieses Entwurfs liegen soll, erschließt sich mir nicht“.
Der 26-köpfige Ethikrat will seine Stellungnahme im nächsten Jahr abgeben.
Er befasst sich unabhängig von der Gesetzesreform mit dem Thema Zwang, und
führte parallel auch Anhörungen zu den Gebieten Psychiatrie und
Behindertenhilfe, sowie eine öffentliche Onlinebefragung für Jedermann
durch.
Die Anhörung im Ethikrat hat zumindest die SPD-Abgeordnete Sonja Steffen
hellhörig gemacht, die im Rechtsausschuss bei der Reform für ihre Partei
die Zuständigkeit hat. „Ich sehe an mehreren Stellen noch Klärungsbedarf“,
erklärte sie gegenüber der taz. „Ich bin der Meinung, dass man die
Diskussion innerhalb des Ethikrates nicht außen vor lassen sollte und es
wichtig ist, die anderen Positionen in Blick zu nehmen“, sagt Steffen nun.
„Mir ist es deshalb lieber eine öffentliche Anhörung durchzuführen, wo alle
diese Facetten zum tragen kommen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir dies in
dieser Legislatur nicht mehr zu Ende bringen. Aber dafür ist dies
gesellschaftlich und ethisch zu sehr von Bedeutung“.
Das sieht ihre Kollegin von der CDU anders. „Wir wollen das Gesetz noch in
dieser Legislatur verabschieden“, sagt Sabine Sütterlin-Waack. Man werde
mit den Sachverständigen selbstverständlich noch einmal sprechen, aber
„eine zweite Anhörung ist generell nicht vorgesehen“, so die
CDU-Abgeordnete. „Denkbar wäre es, eine Klarstellung im Gesetzentwurf
aufzunehmen.“
19 May 2017
## LINKS
[1] /Gesetz-zum-Freiheitsentzug-Jugendlicher/!5387602
## AUTOREN
Kaija Kutter
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Jugendhilfe
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