# taz.de -- Zwangsmaßnahmen im Heim: Genehmigung durch Familienrichter | |
> Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz, das freiheitsentziehende | |
> Maßnahmen bei Kindern rechtlich normiert. Aber es gibt ein Trostpflaster. | |
Bild: Geschlossen wegen übler Praktiken: Haasenburg in Jessern (Brandenburg) | |
Hamburg taz | Zu den vielen Gesetzen, die der Bundestag in seiner letzten | |
Sitzungswoche verabschiedete, gehört auch jenes über „freiheitsentziehende | |
Maßnahmen“ bei Kindern und Jugendlichen. Wenn künftig in einer Klinik, | |
einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung einem Minderjährigen durch | |
mechanische Vorrichtungen wie Gurte, Medikamente oder Isolation die | |
Freiheit entzogen wird, muss dies zuvor ein Familienrichter genehmigen. | |
Das Gesetz, das um ein Uhr in der Nacht zu Freitag mit Stimmen von SPD, CDU | |
und Grünen verabschiedet wurde, ist umstritten. Rund 50 | |
Hochschulprofessoren aus der Jugendhilfe hatten in einem Appell gewarnt, | |
dass auf diese Weise problematische Praktiken wie Festhalten mit | |
schmerzhaften Polizeigriffen legalisiert würden. | |
„Wir sehen die gute Absicht dieses Gesetzes, aber die Wirkung könnte eine | |
andere sein“, sagt der Hamburger Sozialwissenschaftler Tilman Lutz. Die | |
Professoren forderten ein grundsätzliches Verbot von Zwangsmaßnahmen in der | |
Jugendhilfe. Lutz und Kollegen hatten ihre Bedenken nur schriftlich | |
geäußert, nachdem die taz im März über die Gesetzespläne berichtete. Zu | |
einem Gespräch mit Abgeordneten des Rechtsausschusses kam es nicht. | |
Das Gesetz sei nur ein „notwendiger erster Schritt“, man habe es sich nicht | |
leicht gemacht, sagte die SPD-Rechtspolitikerin Sonja Steffen. „Die | |
Mitglieder des nächsten Bundestages müssen unbedingt darüber reden, ob | |
freiheitsentziehende Maßnahmen insbesondere im Jugendhilfebereich überhaupt | |
notwendig sind“. Ihr falle kein Fall ein, bei dem Zwangsmaßnahmen aus | |
erzieherischen Gründen gerechtfertigt sind. | |
Doch das Gesetz sei nötig, da es im Feld der Behindertenhilfe häufiger zu | |
Freiheitsentziehungen komme, und dafür allein die Zustimmung der Eltern | |
ausreichend sei. Wie berichtet, wurde das Thema 2016 in Bayern nach | |
Medienberichten über Kastenbetten für behinderte Kinder durch eine | |
Expertenkommission untersucht. Bei einer Prüfung der 104 Einrichtungen gab | |
die Hälfte an, auch freiheitsentziehende Maßnahmen wie Pflegebetten, | |
Gitterbetten oder Schlafsäcke anzuwenden. | |
## Zustimmung der Eltern genügte | |
„Ich teile deren Anliegen“, sagt auch die Grüne Katja Keul zur Kritik von | |
Lutz und Co. Aber das Problem der bisherigen Rechtslücke sei zu gravierend. | |
Während es bei Zwangsmaßnahmen für Erwachsene stets eines | |
Richterbeschlusses bedürfte, genügte bei Kindern die Zustimmung der Eltern. | |
Und bislang, so Keul, hätten einige Heime die Aufnahme der Kinder von einem | |
vorab erteilten generellen Einverständnis zu freiheitsentziehenden | |
Maßnahmen abhängig gemacht. | |
„Das geht von Fixierungen mittels Bauch- oder Fußgurt über die Gabe von | |
sedierenden Medikamenten und Zimmereinschluss bis zum stundenlangen | |
Aufenthalt in so genannten Time-Out-Räumen“. Von der neuen Hürde verspricht | |
sie sich eine Eindämmung solcher Zwangsmaßnahmen. | |
Doch daran glaubt die Linke nicht. „Es besteht nach meiner Überzeugung die | |
Gefahr, dass das Gegenteil eintritt“, sagte deren Abgeordneter Jörn | |
Wunderlich. Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe seien | |
menschenrechtsverletzende Praktiken und könnten von außen nicht | |
kontrolliert werden. „Daran wird auch ein Richtervorbehalt nichts ändern“, | |
sagte Wunderlich, der selber Richter ist. „Ich fordere grundsätzliche | |
Gewaltfreiheit“. | |
## Evaluierung nach fünf Jahren | |
Der Links-Abgeordnete hatte am Mittwoch im Rechtsausschuss noch beantragt, | |
dass es eine Anhörung mit der Jugendhilfe gibt, dann wäre das Gesetz in die | |
nächste Legislatur verschoben worden. Aber das wollten SPD, CDU und Grüne | |
nicht. Nun es gibt ein Trostpflaster: Eine Evaluierung nach fünf Jahren. | |
„Nach Ablauf von fünf Jahren werden wir anhand der Genehmigungsverfahren, | |
die dann bestehen, schauen, wie sich die Neuregelung in der Praxis auswirkt | |
und wie sie sich bewährt hat“, sagte SPD-Frau Steffen im Bundestag. Denn | |
dann werde man auch erstmals Daten über die Häufigkeit solcher Beschlüsse | |
haben, die bisher fehlen. Problem hierbei: Eben weil bisher Daten fehlen | |
wird ein Vorher-Nachher Vergleich nicht möglich sein. | |
3 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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