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# taz.de -- Debatte um Zwangsmaßnahmen: Wohlverhalten oder Kindeswohl
> Die Bundesregierung plant ein Gesetz, das die Messlatte für
> Zwangsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen senkt. Gute Gründe dafür
> gibt es nicht.
Bild: Kinder fesseln hilft vor allem den Erwachsenen
Junge Menschen und ihre Familien haben bisweilen Bedürfnisse nach
Unterstützung, die sich vernünftigerweise nicht wegdefinieren lassen. Auch
dass es relativ zu solchen Bedürfnissen insgesamt nicht zu viel, sondern zu
wenig öffentliche Unterstützung gibt, ist eine Tatsache. Dabei kann es auch
um Maßnahmen gehen, die von den Betroffenen nicht aktiv erbeten werden. Ein
solcher Paternalismus, der sich gegebenenfalls rechtfertigen lässt,
beschreibt über weite Strecken die Realität der Kinder- und Jugendhilfe.
Die Frage, um welche Art der Unterstützung es dabei geht, stellt sich
trotzdem. Wenn Unterstützung darin besteht, Minderjährige einzusperren oder
zu fesseln, löst dies in der Regel selbst bei nur mäßig liberalen
Bürger*innen Unbehagen aus. Zu Recht.
In einer offenen Heimeinrichtung wurde ein autistisches Kind regelmäßig
gefesselt. Die Eltern waren mit dieser in der Fachsprache Fixierung
genannten Fesselung einverstanden. Nach derzeitigem Recht genügt das.
[1][Akzeptabel ist es deswegen noch lange nicht]. Die Bundesregierung und
die Grünen haben nun zwei ähnliche [2][Gesetzentwürfe vorgelegt]:
Freiheitsentziehungen sollen nun auch bei Minderjährigen generell einem
richterlichen Genehmigungsvorbehalt unterliegen.
Zwangsmaßnahmen „unterhalb“ geschlossener Heime, wie etwa Einschließungen
in sogenannte Time- out-Räume oder Fixierungen, sollen in der Jugendhilfe
keine Strafen darstellen, sondern, so ein Hamburger Eckpunktepapier, der
erzieherischen Neutralisierung von Fehlverhalten dienen. Trotzdem wird im
Kontext solcher Maßnahmen bisweilen [3][bestraft, dass es kracht]. Zum Teil
werden in der Praxis Programme angewendet, die von Bootcamps kopiert sind.
Das Leben der jungen Menschen wird dabei in einem Ausmaß und einer
Kleinteiligkeit durch Regel- und Strafkataloge reglementiert, die sich in
typischen Familien kaum finden dürften.
## Vom Bootcamp abgeguckt
Freiheitsentziehende (Zwangs-)Maßnahmen der öffentlichen Pädagogik sollen
dem Kindeswohl dienen. Dieses Ziel gilt aber für alle Leistungen und
Angebote der Jugendhilfe: Der deutungsoffene Kindeswohlbegriff steht daher
hinter Versuchen, junge Menschen zu befähigen und zu „empowern“, hinter
Forderungen nach Partizipation und Mitbestimmung – aber eben auch hinter
Fesseln und Einsperren. Kindeswohl ist die fundamentale Kategorie für eine
öffentlich verantwortete Erziehung, schon allein, weil die Erziehungsrechte
bei den Eltern liegen und der Staat nur zur Sicherstellung des Wohls der
Kinder eingreifen darf. Das sehen unter anderem das Grundgesetz, das
Bürgerliche Gesetzbuch und die UN-Kinderrechtskonvention so vor.
Für freiheitsentziehende Maßnahmen lag die Messlatte aber lange Zeit höher.
Als zulässig galten sie nur für die je kürzestmögliche Dauer zur Abwendung
von konkreten erheblichen Selbst- und Fremdgefährdungen, das heißt
Gefährdung von Leib und Leben. 2008 wurde der entsprechende Gesetzestext
Paragraf 1631b BGB aber verändert: Die „erhebliche Selbstgefährdung“ ist
nicht mehr das entscheidende Kriterium, sondern wird nur noch beispielhaft
genannt. Wie der Bundesgerichtshof ausführt, hat der Gesetzgeber „davon
abgesehen, Gründe für eine geschlossene Unterbringung abschließend
aufzuzählen, da diese Gründe zu vielschichtig sind“.
Hier lauert nun eine Gefahr. Die Gründe der erzieherisch begründeten
geschlossenen Unterbringung sind in der Tat vielschichtig und oft weit
entfernt von erheblicher Selbstgefährdung. Bisherige Forschungen haben
nicht ausmachen können, für welche jungen Menschen Zwangsmaßnahmen und
geschlossene Heime eingesetzt werden und für welche nicht. Kriminalität,
Schulverweigerung und die Tatsache, dass andere Einrichtungen mit den
jungen Menschen nicht zurechtkommen, sind die häufigsten Gründe. Diese
Kinder sollen gebessert werden. Sie sollen, wie das Landesjugendamt
Rheinland ausführt, „durch strenge Regeln und begrenzte Freiräume [. . .]
ihr Verhalten neu orientieren und sozial akzeptableres Verhalten lernen“.
Durch Einsicht und Kooperation sollen sie „sich die Freiheit schrittweise
zurück [. . .] erobern“ und die „Bereitschaft entwickeln“, das Angebot
„quasi als eine Bewährungsprobe anzunehmen“. Dieses freiheitsentziehende
„Angebot“ anzunehmen, kann aber dauern: Auf etwa 18 Monate sind
geschlossene Heime ausgerichtet. Bereits daran wird deutlich, dass es um
erzieherische Programme und nicht um die Abwehr akuter Gefährdungen geht.
## Zurück zur Heimkampagne
Statt dies wieder zurückzunehmen, beschränkt sich die Bundesregierung auf
einen gerichtlichen Genehmigungsvorbehalt pädagogisch durchtränkter, durch
Kindeswohlfunktionalität begründeter geschlossener Heime und anderer
Formen der Freiheitsentziehungen. Sie unterstreicht damit, dass solche
Maßnahmen genehmigungsfähig sind.
Für pädagogische Maßnahmen dieser Art gibt es aber auch jenseits ethischer
Einwände keinen Grund. Es gibt Alternativen, die in der Wirkungsforschung
auch dann als effektiver gelten, wenn man Wohlverhalten mit Kindeswohl
verwechselt. Teilt man die Perspektive, das Wohl von Kindern hänge damit
zusammen, sie in die Lage zu versetzen, Zustände und Praktiken zu
realisieren, die sie selbst für ihr eigenes Leben begründet wertschätzen
können, erschließt sich der Sinn solcher Zwangsmaßnahmen noch weniger.
taz-Leser*innen dürfte [4][die Haasenburg GmbH] ein Begriff sein. Die
Kommission zu deren Untersuchung stellte in ihrem Abschlussbericht fest,
dass sich die „Pädagogik in der Haasenburg [. . .] im Angebotskern, in
Verfahrensweisen und auch in den fachtheoretischen Grundlagen nur gering
und partiell“ von anderen geschlossenen Einrichtungen unterscheide. Daraus
kann es nur eine Folgerung geben: diese Praktiken zu unterbinden und
entsprechende Einrichtungen zu schließen.
Da solche Praktiken nicht auf geschlossene Heime beschränkt bleiben,
sondern auch in die „normale“ offene Heimerziehung durchsickern, spricht
viel dafür, den Faden der Heimkampagne der 1970er Jahre wieder aufzunehmen.
Der Verweis auf Kinderrechte sollte einem Zivilisierungsschub dienen, nicht
seinem Gegenteil.
27 May 2017
## LINKS
[1] /Kritik-an-Gesetzentwurf-zu-Fesselung/!5395808
[2] /Kommentar-Freiheitsentzug--Jugendhilfe/!5387543
[3] /Neue-Faelle-von-Quaelerei-in-Jugendheimen/!5297535
[4] /Missbrauch-in-Haasenburg-Heimen/!5253825
## AUTOREN
Holger Ziegler
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