| # taz.de -- Wissenschaftler über Heimerziehung: „Das erinnert an Tier-Dressu… | |
| > Starre Phasen-Konzepte in der Heimerziehung verletzen die Kinderrechte, | |
| > sagt der Hamburger Sozialwissenschaftler Timm Kunstreich. | |
| Bild: Das Schminken wird den Jugendlichen, die neu in ein Heim kommen, erst mal… | |
| taz: Sie laden am 30. Oktober in Hamburg zum Heimtribunal. Was gibt es zu | |
| besprechen? | |
| Timm Kunstreich: Eine Menge. Denn entgegen der Annahme, dass mit den beiden | |
| Runden Tischen zur Heimerziehung in West und Ost alles wieder in Ordnung | |
| sei, ist das nicht so. Es ist heute perfider. | |
| Das Tribunal heißt „Dressur zur Mündigkeit? Über die Verletzung von | |
| Kinderrechten in der Heimerziehung“. Wieso Dressur? | |
| Es hält zunehmend in Heime und Tagesgruppen eine Methode Einzug, die eher | |
| an die Dressur von Tieren erinnert als an den Umgang mit Menschen. Und zwar | |
| insofern, als sehr stark und zum Teil fast ausschließlich mit Anreizen, | |
| Belohnung und Bestrafung erzogen wird. Das ist keine Erziehung zur | |
| Mündigkeit, sondern eine Dressur, um Wohlverhalten zu erzeugen, weil | |
| entweder aus Angst, ich werde sanktioniert, oder aus dem Kalkül, dann | |
| kriege ich eine Belohnung oder verbessert sich meine Situation, gehandelt | |
| wird. | |
| Sie sprechen von Phasen- und Stufenvollzug. Was ist das? | |
| Kommt ein Kind in eine Einrichtung, muss es meistens bestimmte | |
| Verhaltensregeln beachten, die für sich vielleicht nicht schlimm sind. Es | |
| ist üblich, dass Kinder oder Jugendliche in der ersten Zeit keinen Kontakt | |
| zu ihren Eltern aufnehmen dürfen. Sie dürfen bestimmte Kleidung nicht | |
| tragen. Mädchen dürfen sich nicht schminken. Es gilt vor allem, dass sie | |
| den Ort nicht verlassen dürfen. Das ist eine soziale Schließung. Sie werden | |
| nicht eingeschlossen, aber es wird unmöglich gemacht, dorthin zu gehen, | |
| wohin sie wollen. Und sehr viele sind außerhalb ihrer Heimatstadt | |
| untergebracht. Für die ist es noch schlimmer. | |
| Sie sagen, das sei im Einzelnen nicht schlimm. Aber den Eltern nicht | |
| schreiben zu dürfen, ist hart. | |
| Ja. Aber da kann man sagen, das kann ja mal nötig sein. Aber die Prozedur | |
| wirkt nur, wenn sie insgesamt gesehen wird. Die erste Stufe ist in der | |
| Regel die schwierigste. Die ist mit den meisten Sanktionen bedacht. Zum | |
| Beispiel mit nicht Ausgehen oder nicht nach Hause Fahren dürfen. Oder dass | |
| bestimmte Vorlieben nicht bedacht werden. Eine besondere Regulierung | |
| betrifft die Handy- oder Telefonerlaubnis. Sachen, die für Jugendliche im | |
| Alltag selbstverständlich sind, werden entzogen, um Wohlverhalten zu | |
| erzeugen. | |
| Ist es nicht ganz normal, dass Eltern so etwas verbieten? | |
| Ja. Aber hier sind es ja nicht Eltern. Der Unterschied zwischen Erziehern | |
| und Eltern ist nicht zuletzt der, dass Eltern immer Eltern bleiben. Und | |
| Erzieher haben ein Interesse, mit ihren Schichten möglichst bald zu Ende zu | |
| sein und Geld zu verdienen. Das ist eine andere soziale Situation. In | |
| Heimen gibt es meistens drei Stufen. Die zweite Stufe enthält Lockerungen. | |
| Zum Beispiel, dass man sich schminken oder länger ausgehen darf oder sogar | |
| einen Schlüssel für sein Zimmer bekommt. Die dritte Stufe erlaubt die | |
| Sachen, die Kinder normalerweise in Heimen dürfen, wobei es immer noch | |
| einen Unterschied zu Kindern in Familien gibt. | |
| Diese organisierte Einschränkung verletzt die Kinderrechte? | |
| Ja. Wobei dies auch die Art und Weise tut, in der viele Kinder in Heime | |
| kommen. Das ist die Stufe null. Die Mehrheit kommt gegen ihren Willen ins | |
| Heim. Es sind Entscheider da – rechtlich gesehen die Eltern, de facto viele | |
| soziale Dienste und Einrichtungen – die Kinder, die auffällig sind, in | |
| Heime bringen. Dieser Prozess selber ist die erste Stufe. | |
| Das ist zum Schutz der Kinder. | |
| Das wird behauptet. Sicher trifft das auch häufig zu. Aber selbst wenn das | |
| zunächst eine Schutzmaßnahme ist und Kinder froh sind, dass sie raus sind, | |
| dann erleben sie in der Regel dennoch solche Stufenvollzüge, wo sie sich | |
| vorkommen, als ob sie bestraft würden. Die fragen sich: Wozu? Warum diese | |
| Einschränkungen. Das hatte ich zu Hause nicht. Dann beginnt ein | |
| ambivalenter Prozess, sich nach Hause zu wünschen, obwohl es da auch nicht | |
| das Goldene ist. | |
| Wie läuft das Tribunal ab? | |
| Es findet in der Evangelischen Hochschule Hamburg im Wichernsaal statt, und | |
| zwar von 14 bis 21 Uhr. Wir rechnen mit Zuschauern. Es gibt drei | |
| Abschnitte. Erst wird die Anklage und die Verteidigung verlesen. Dann | |
| werden ungefähr drei Stunden lang Zeugen und Sachverständige befragt, und | |
| zwar je 15 Minuten von einem Mitglied der Jury. Es ist ein sehr striktes | |
| Vorgehen. Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um die Wirkung von | |
| Stufenvollzug. | |
| Wer sind die Zeugen? | |
| Es gibt fünf Zeugen mit eigener Heimerfahrung und sechs Sachverständige, | |
| die sich bei der Änderung der Heimerziehung hervorgetan haben. | |
| Wer hat die Jury gewählt? | |
| Die beiden Veranstalter. Und zwar der Arbeitskreis kritische Sozialarbeit, | |
| dessen Sprecher bin ich, und das Aktionsbündnis gegen geschlossene | |
| Unterbringung. Für das zweite spricht Wolfgang Rosenkötter, der selber in | |
| den 1960ern im Heim war. | |
| Gibt es echte Befürworter der Phasenmethode in der Jury? | |
| Das war das Schwierigste. Nee, haben wir nicht. Wir haben zwar einen | |
| Befürworter gefragt, der hat aber empört abgelehnt. Weil klar ist, es gibt | |
| hier eine klare Positionierung von Anfang an, die soll untermauert werden. | |
| Es werden aber zwei Kollegen die Verteidigung übernehmen, als Advocati | |
| Diaboli. Die werden das sehr gewissenhaft tun. | |
| Ist das Tribunal symbolisch? | |
| Jein. Es hat keinen Rechtscharakter. Es kann nur durch Wahrnehmung Wirkung | |
| entfalten. Wir streben an, dass es eine Rückwirkung auf die | |
| „Enquete-Kommission Kinderrechte“ gibt, die gerade in Hamburg tagt. Zum | |
| anderen hat sich die Bundesregierung 1989 beim Beitritt zur | |
| UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet, alle fünf Jahre einen Bericht zur | |
| Umsetzung abzugeben. Ergänzend erstellen zivilgesellschaftliche | |
| Organisation dazu einen ,Schattenbericht' mit ihrer Sichtweise. Wir hoffen, | |
| dass das Tribunal-Ergebnis dort aufgenommen wird. | |
| Zu welchem Ergebnis könnte denn das Tribunal gelangen? | |
| Dass dieser Phasenvollzug gegen drei Artikel der UN-Kinderrechtskonvention | |
| verstößt. Das Kind darf nicht von seinem Eltern getrennt werden, es darf | |
| nicht diskriminiert werden, und vor allem gegen den Artikel, dass Kinder | |
| angehört werden müssen und ihr Wille zu berücksichtigen ist. Das ist keine | |
| bloße Soll-Vorschrift. Ein Staat muss gewährleisten, dass der Wille des | |
| Kindes berücksichtigt wird. Und das ist der Punkt. Beim Stufenvollzug wird | |
| für das Kind entschieden, obwohl es häufig etwas ganz anderes will. | |
| 29 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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