# taz.de -- Kontaktsperre wegen „zu großer Nähe“: Der Kindeswille zählt … | |
> Einer Mutter wird ihr Kind weggenommen und der Vater gibt den Jungen ins | |
> Heim. Dort ist er unglücklich, aber zurück zur Mutter darf er auch nicht. | |
Bild: Darf ihren Sohn weiterhin nicht sehen: Mutter Helene* | |
HAMBURG taz | Seit Weihnachten hat Linos* seine Mutter weder gesehen noch | |
gesprochen. Es gibt eine Kontaktsperre, über die am vergangenen Donnerstag | |
das Amtsgericht Cloppenburg entscheiden musste. Der Junge lebt dort in der | |
Nähe in einem Heim. „Angela, ich halte es nicht mehr in der Einrichtung | |
aus. Ich darf meine Mama nicht sehen, warum ist das so?“, fragt er seine | |
Verfahrensbeiständin bereits nach seiner Anhörung am 19. Juni. „Ich fühle | |
mich eingesperrt, deshalb benehme ich mich so schlecht“, fährt er fort und | |
weint. | |
Zwei Jahre lebt Linos schon in Heimen. Zunächst in Dithmarschen, dann in | |
Rendsburg, nun im Landkreis Cloppenburg. Seine Mutter hat er zuletzt vor | |
einem Jahr gesehen. „Das war das letzte Mal, dass ich mich richtig wohl | |
gefühlt habe“, vertraut er der Anwältin an. „Meinen Vater darf ich sehen, | |
mit ihm in Urlaub fahren, und, und, und, aber mit meiner Mama darf ich gar | |
nichts machen.“ Das sei nicht gerecht. „Ich möchte unbedingt bei meiner | |
Mama wohnen.“ | |
## Jugendamt unterstützte die Mutter | |
Auch seine Mutter Helene* möchte nichts lieber als das. Sie kämpft seit | |
zweieinhalb Jahren einen erbitterten Kampf gegen Hamburgs | |
Jugendhilfe-Bürokratie. Sie zieht ihren 2004 geboren Sohn allein auf, der | |
Vater darf das Kind sehen, aber sie hatte das Sorgerecht. Immer wieder gibt | |
es belastende Gerichtsverfahren, berichtet sie, da die Familie des | |
Erzeugers an ihrer Kompetenz zweifelt. | |
Doch das Jugendamt ist an ihrer Seite, und unterstützt sie. Mutter und Sohn | |
„haben einen liebevollen Umgang miteinander und sie kann ihm in der | |
Erziehung sowohl die nötigen Freiräume geben, als auch Grenzen setzen“, | |
schreibt eine Jugendamtsmitarbeiterin im November 2009 in einer | |
Stellungnahme. Der Junge geht in eine Kita, die Wohnung ist sauber und | |
kindgerecht, es gibt kein „Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung“. | |
Doch 2014, der Junge ist zehn, kommt eine neue Sachbearbeiterin. Linos | |
reagiert auf den Streit der Eltern mit Stress, wird in der Schule | |
auffällig. Auf anraten einer Therapeutin bringt die Mutter ihn zu einer Art | |
Kur in einer Familienklinik in Bayern. Da vollzieht das Jugendamt einen | |
180-Grad-Schwenk und beantragt im Eilverfahren, dass der Vater das | |
Sorgerecht bekommt. Angeblich existiere eine zu große Nähe, eine Symbiose, | |
zwischen Mutter und Sohn. Er idealisiere seine Mutter, vermische seine | |
eigenen Bedürfnisse mit ihren Wahrnehmungen, müsse lernen sich abzugrenzen, | |
heißt es in einem Schreiben des Jugendamts. | |
## Der Vater beantragt die Unterbringung im Heim | |
Der Junge lebt nur kurze Zeit beim Vater, dann kommt er im November 2015 | |
das erste Mal ins Heim. Ein Gutachten segnet die Entscheidung ab. Der Junge | |
habe eine Störung, eine mildere Maßnahme als Heimerziehung sei nicht | |
möglich. Der Vater, der das beantragt hat, gilt als voll erziehungsfähig. | |
Die Mutter, die gegen ein Heim ist, nicht. | |
An dem Gutachten gibt es Zweifel. Zwei Gegengutachten bescheinigen der | |
Mutter keinerlei psychische Auffälligkeit. Trotz eventueller biografischer | |
Belastungen sei die Mutter handlungsfähig und ihre Erziehungsfähigkeit | |
nicht infrage gestellt, schreibt eine Psychologin. Und ein | |
Gerichtspsychiater ergänzt, er könne keine Diagnose auf psychiatrischem | |
oder neurologischem Gebiet feststellen. | |
Zudem hat die Psychiaterin zum Beispiel keine gemeinsame Interaktion von | |
Mutter und Sohn beobachtet, wie es eigentlich Standard bei | |
familienrechtlichen Gutachten ist. Das merkt Helenes Anwalt Rudolf von | |
Bracken an. Er sagt, es gibt keinen Beleg dafür, dass Linos irgendeine | |
Kindeswohlgefährdung in Obhut oder auch nur in Gegenwart der Mutter | |
erleide. Die gerichtlichen Maßnahmen hätten ihn nicht geschützt, sondern | |
beschädigt. Er kritisiert, dass der Kindeswille nicht beachtet werde und | |
beantragt, dass die Mutter das Sorgerecht zurück erhält. | |
## Beschwerden über Heime wirken sich nachteilig aus | |
Am Donnerstag kam der Fall nun erneut vor Gericht. Es geht darum, dass | |
Linos seine Mutter sehen darf. Denn seit Januar 2016 gibt es – mit kurzer | |
Unterbrechung von September bis Ende 2016 – ein totales Kontaktverbot | |
zwischen Mutter und Sohn. Der Mutter wird vorgehalten, dass sie das erste | |
Heim in Dithmarschen kritisiert hat – welches übrigens wegen eines | |
restriktiver Methoden und Beschäftigung ehemaliger | |
„[1][Friesenhof]“-Mitarbeiter damals auch von Politik und Medien kritisch | |
beäugte wurde. | |
Sie wandte sich mit Beschwerden, die sie von ihrem Sohn hörte, an die dafür | |
eingerichtete Ombudsstelle Schleswig-Holsteins. Das kam nicht gut an. Sie | |
habe so ein „Ankommen“ des Sohns verhindert, sagt man ihr. Jede | |
Schwierigkeit wurde auf den Einfluss der Mutter zurückgeführt, sagt ihr | |
Anwalt. Sie selbst sagt, ihr seien sogar falsche Zitate in den Mund gelegt | |
worden. Angeblich wolle sie ihr Kind ins Ausland bringen. „Das habe ich | |
aber nie gesagt“, so Helene. | |
Schließlich erfährt Helene im Sommer aus einem Bericht von Linos' jetziger | |
Schule, dass es ihm auch im dritten Heim im Landkreis Cloppenburg nicht gut | |
geht. Er gelte als sprachlich hochbegabtes Kind, nun drohe eine | |
Sonderbeschulung. Und er soll sogar 20-prozentigen Alkohol zu sich genommen | |
haben, steht im Bericht. „Es geht ihm schlechter denn je“, sagt sie. Und | |
bittet das Jugendamt um ein neues Gutachten durch den Jugendpsychiatrischen | |
Dienst. Die Sachbearbeiterin winkt ab. Erst wenn der Junge sich im Frühjahr | |
2018 nicht stabilisiert habe, könne sie sich eine neue Planung vorstellen. | |
Der Prozess am Donnerstag verlief aus Sicht von Anwalt von Bracken | |
enttäuschend. Das Jugendamt habe der Mutter vorgeworfen, dass sie die | |
Trennung nicht akzeptiert habe und das Kind nicht ankommen könne, berichtet | |
er. „Nach über zwei Jahren Kontaktsperre ist der Junge aber immer noch in | |
ihrem Herzen und sie ist in seinem. Man kann das Problem nicht lösen, indem | |
man die Mutter entfernt“, sagt der Anwalt. „Das Jugendamt erklärt die | |
schiere Existenz der Mutter zum Problem.“ | |
## 1.700 Kinder außerhalb Hamburgs untergebracht | |
Fälle wie der von Linos sind kein Einzelfall, sie höre häufig von | |
verzweifelten Eltern, sagt die Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus von | |
der Hamburger Linksfraktion. „Man kann den Eindruck bekommen, dass bei | |
Entscheidungen weniger das Kind eine Rolle spielt, sondern es den | |
Jugendämtern auch um Rechthaben und Machtausübung geht.“ Aus der Antwort | |
auf ihre Große Anfrage an den Senat geht hervor, dass über 1.700 Kinder und | |
Jugendliche in Heimen außerhalb Hamburgs untergebracht sind. | |
Das Problem: Während in Hamburg über das Kindeswohl in Familien streng | |
gewacht wird, weiß die Verwaltung über auswärtige Heimunterbringung wenig. | |
So ist bei insgesamt 375 Kindern das Besuchsrecht für Eltern und Familie | |
eingeschränkt, ohne dass der Senat die Gründe kennt. Es fehlt auch eine | |
Liste der Kriterien, warum Kinder außerhalb der Stadt untergebracht werden, | |
was ja immerhin die Rückkehr in die Normalität erschwert. | |
Auch weiß die Stadt nicht, wie viele dieser Kinder nur eine Heimschule | |
besuchen oder wie viele sich selbst verletzen und gegen ihren Willen so | |
weit weg von zu Hause untergebracht sind. „Der Senat gibt die Verantwortung | |
an der Landesgrenze ab“, sagt Boeddinhaus. „Es handelt sich um eine | |
Blackbox.“ Auch müssten die Jugendämter laut Boeddinghaus die Möglichkeit | |
haben, getroffene Entscheidungen zu revidieren. | |
In Linos‘ Fall hat seine Verfahrensbeiständin nun eine vorsichtige | |
Kontaktanbahnung zur Mutter beantragt, per Brief und Telefon. Ob was draus | |
wird, muss der Richter entscheiden. | |
*Namen geändert | |
8 Dec 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!5388079&s=friesenhof/ | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
## TAGS | |
Heimerziehung | |
Jugendamt | |
Hamburg | |
Jugendhilfe | |
Familie | |
Heim | |
Jugendhilfe | |
Autismus | |
Jugendheim Friesenhof | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wissenschaftler über Jugendhilfe: „Fachkräfte brauchen Möglichkeiten“ | |
Erziehungswissenschaftler Fabian Kessl warnt vor einer Kluft zwischen | |
Behördenapparat und Praktikern in der Jugendhilfe in Hamburg. | |
Debatte: Sollen Islamisten Kinder erziehen dürfen? | |
Niedersachsen will gegen die Indoktrinierung von Kindern in | |
gewaltbereit-salafistischen Familien vorgehen. Aber wie weit darf so etwas | |
gehen? | |
Allein im Kinderheim: Getrennt an Weihnachten | |
Ein Gericht bestätigt das Umgangsverbot zwischen Linos und seiner Mutter | |
Helene, weil diese die Heim-Unterbringung ablehnt. | |
Debatte um Kinderschutz: Jugendämter überlastet | |
Trotz 75 zusätzlicher Stellen herrscht bei den Allgemeinen Sozialen | |
Diensten ein Kommen und Gehen. Enquetekommission plant Mitarbeiterbefragung | |
Debatte um Zwangsmaßnahmen: Wohlverhalten oder Kindeswohl | |
Die Bundesregierung plant ein Gesetz, das die Messlatte für Zwangsmaßnahmen | |
bei Kindern und Jugendlichen senkt. Gute Gründe dafür gibt es nicht. | |
Umstrittener Friesenhof-Gutachter: Ein Freund des Drastischen | |
Untersuchungsausschuss zu den geschlossenen Friesenhof-Jugendheimen lässt | |
deren Konzept von einem Experten begutachten, der Zwangsmaßnahmen | |
befürwortet | |
Konsequenz aus Heimskandalen: Kinderrechte vor! | |
Wenn Heimerzieher Kinder unterwerfen wollen, können die Behörden dagegen | |
nicht vorgehen – weil rechtlich die Gewerbefreiheit über dem Kindeswohl | |
steht. |