| # taz.de -- Wissenschaftler über Jugendhilfe: „Fachkräfte brauchen Möglich… | |
| > Erziehungswissenschaftler Fabian Kessl warnt vor einer Kluft zwischen | |
| > Behördenapparat und Praktikern in der Jugendhilfe in Hamburg. | |
| Bild: Auch in Hamburg ist ein Anstieg der Inobhutnahmen zu beobachten | |
| taz: Herr Kessl, Sie arbeiten seit zwei Jahren in der Enquete-Kommission | |
| „Kinderschutz und Kinderrechte stärken“ mit. Wie ist die Lage in Hamburg? | |
| Fabian Kessl: Meines Erachtens müssen wir in Hamburg von zwei Welten in der | |
| Kinder- und Jugendhilfe sprechen. In einer Anhörung, in der die | |
| Behördenleitung uns berichtete und auch die Landesarbeitsgemeinschaft ASD | |
| anwesend war, hat sich uns der Eindruck aufgedrängt, es würde aus zwei | |
| verschiedenen Städten berichtet. | |
| Wo liegt der Unterschied? | |
| Die Sozialbehörde berichtet von einem hohen Reformeifer der letzten Jahre. | |
| Den gibt es auch, wenn man sieht, was alles an Instrumenten, an Vorgaben | |
| eingeführt wurde. Auf der anderen Seite berichten uns Fachkräfte aus den | |
| Bezirken, dass genau dieses zu einer Überregulierung führe, die die | |
| alltägliche Arbeit mit den Menschen im ASD schwierig macht und behindert. | |
| Es gibt einen Zwischenbericht, da macht stutzig, dass in Hamburg relativ | |
| zur Einwohnerzahl viel weniger Gefährdungen gemeldet werden als in Bremen | |
| oder Berlin. | |
| Es gab ja bundesweit einen massiven Anstieg der Gefährdungsmeldungen, das | |
| hat mit der Sensibilisierung zu tun, über mediale Diskussion und auch | |
| Dramatisierung an manchen Stellen von Kindstoten, die im Jugendhilfesystem | |
| waren. Jetzt könnte man diskutieren, warum greift dies in Hamburg nicht | |
| ganz so? Das wissen wir nicht so genau. Aber was nicht zu übersehen ist: | |
| Ein Anstieg von Inobhutnahmen ist auch in Hamburg zu beobachten. | |
| Sie warnen von einer „Umcodierung“ der Jugendhilfe zum Kinderschutz? | |
| Die bundesweite Entwicklung ist die, dass die öffentliche Jugendhilfe stark | |
| daran gemessen wird, ob sie Kinderschutz erfüllt. Darauf wird sie immer | |
| stärker ausgerichtet. Das ist auch ohne Frage ihre Aufgabe. | |
| Was ist daran dann schlecht? | |
| Es führt mitunter dazu, dass sich das System abschottet und zuerst einmal | |
| auf seine eigene Sicherheit aus ist. Jedes Risiko wird möglichst vermieden. | |
| Doch Menschen Entwicklungsperspektiven zu eröffnen, ist risikohaft. Und es | |
| ist ja gerade die öffentliche Aufgabe, dass Menschen neue Möglichkeiten | |
| eröffnet werden. Wenn aber starre Dokumentationen jeden Schritt der | |
| Fachkräfte festlegen, lässt das der pädagogischen Professionalität nur noch | |
| wenig Raum. Der zentrale Auftrag der Jugendhilfe ist es ist zuerst einmal, | |
| Kindeswohl herzustellen, nicht Kindeswohlgefährdung zu vermeiden. Das ist | |
| der Horizont. Es muss um die Herstellung von Lebenslagen und Umgebungen | |
| gehen, die denen Kindeswohl förderlich ist. Das ist die beste Prävention | |
| von Kindeswohlgefährdung. | |
| Nennen Sie ein Beispiel. | |
| Wenn ich als Fachkraft bei einer Gefährdungsmeldung einen anderen Schritt | |
| gehe als die Dokumentation vorgibt, weil ich die Situation der Familie quer | |
| zu den vorgegebenen Kategorien einschätze, dann stehe ich im Fall | |
| irgendeines Scheiterns im Leben dieser Familie in der Öffentlichkeit und im | |
| Jugendamt am Pranger. Fachkräfte im Jugendamt beschreiben uns bundesweit | |
| ihre Lage immer wieder als „ich stehe immer mit einem Bein vor Gericht“. | |
| Aber das erwarten wir Bürger. Besser ein Schutz-Schritt zu viel als einer | |
| zu wenig. | |
| Ja, das ist das Argument für jede Form von Präventions- und | |
| Sicherheitsgesellschaft. Daher ist das auch eine sehr prinzipielle | |
| gesellschaftspolitische Diskussion. Wollen wir eine Gesellschaft, die die | |
| Freiheit und soziale Gleichheit der Menschen in den Vordergrund stellt. | |
| Oder wollen wir alles verhindern, was potenziell eine Gefahr bedeutet. Dann | |
| gibt man der Sicherheit und Prävention den Vorrang, und nicht mehr der | |
| Freiheit und Subjektivität der Leute. | |
| Es geht um Kinder. | |
| Stimmt. Und wir hören: Kindern passiert was, obwohl sie unter Aufsicht der | |
| Jugendämter sind. Jeder einzelne Fall ist ein Drama. Gleichzeitig | |
| beobachten wir aus der Distanz: Diese Fälle sind über die letzten 25 Jahre | |
| nicht mehr geworden, sondern eher weniger. Zweitens ist es so, dass die | |
| Jugendhilfe viele Familien betreut, wo es nicht zu solchen Fällen kommt, | |
| und darum bemüht ist, eine Perspektive zu eröffnen. Und das ist auch ihre | |
| Aufgabe: Bildungsperspektiven zu eröffnen, Perspektiven, um sich selber | |
| später mal eigenständig finanzieren zu können, selbständig leben zu können. | |
| Was schlagen Sie vor? | |
| Hamburg braucht eine Überbrückung der zwei Welten. Die Stadt wird bei | |
| Fortbestehen der Spaltung keine förderliche Jugendhilfe in Zukunft | |
| hinbekommen. Hamburg wird den Status, reformerisch Vorreiter in der | |
| Jugendhilfe zu sein, so schnell nicht wieder bekommen, wenn es nicht | |
| gelingt, den Graben zu überwinden. Die Behörde muss als fachliche | |
| Organisation den Fachkräften den Rücken freihalten. Sie müssen sich auf | |
| eine Struktur verlassen können, die professionelles Handeln im ASD jeden | |
| Tag vom Neuen ermöglicht. | |
| Was meinen Sie konkret? | |
| Man wird über das Eingangs- und Fallmanagementsystem nachdenken müssen und | |
| über das Dokumentationssystem JUS IT, das an vielen Stellen schwer | |
| verständlich zu sein scheint. Es geht um solch konkrete Dinge. | |
| Hilft ein Zentraljugendamt? | |
| Ich glaube nein. Aber wir bräuchten zum Beispiel eine zentrale | |
| Ombudsstelle. Bestimmte Dinge sind sinnvoll, zentral zu organisieren, | |
| gleichzeitig ist Dezentralisierung für die alltägliche Arbeit sinnvoll. | |
| Sie reden von zwei Welten. Wie einig ist die Enquete? | |
| Ich spreche nur als einer der Experten und nicht für die Kommission. Die | |
| Arbeit dort hat sich sehr entwickelt. Ich sehe gute Chancen, dass man zu | |
| einer Vereinbarung kommt. Aber wie immer zeigt sich vermutlich mancher | |
| Dissens erst jetzt im Detail. Und da sind wir mit der Abstimmung der | |
| Empfehlungen ja erst mittendrin. | |
| 18 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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