# taz.de -- Heimerziehung nach der Wende: Die Willenbrecher | |
> Disziplinierung und Anpassung: Elemente der DDR-Heimerziehung leben in | |
> heutigen Kinder- und Jugendeinrichtungen fort. | |
Bild: Die Arten der Heimerziehung in Ost und West unterschieden sich | |
Wenn ich über [1][Heime in den neuen Bundesländern] recherchiere, denke ich | |
mitunter, ich bin in einem fremden Staat. Mich irritieren die Wertungen und | |
Begriffe für die Kinder und Jugendlichen. Immer waren sie schuld, hatten | |
sie „provoziert“, wenn es einen Konflikt gab. | |
„Im Rückblick auf das Jahr in der,Haasenburg' gibt sie an, sie könne jetzt | |
Kritik besser annehmen, diskutiere allerdings noch viel“, schrieb 2006 ein | |
Gutachter über eine 13-Jährige. Sie rettete das Blatt aus dem Müll und | |
zeigte es mir Jahre später. | |
„Was ist denn am Diskutieren schlecht?“, fragte ich. Die junge Frau wandte | |
sich an ihre Mutter, die mit am Tisch saß. „Siehst du, Mutti, man darf | |
diskutieren.“ | |
Ja, warum auch nicht? Ebenso Erwachsenen widersprechen, das letzte Wort | |
haben. Alles Dinge, die ich mir als 13-Jährige 1977 im Westen | |
selbstverständlich rausnahm. Sollte das 2006 in den neuen Ländern anders | |
sein? Ist die Vorstellung davon, wie Kinder sein müssen, dort heute noch | |
anders? | |
## „Widerspenstig“ sein ist ein Problem | |
„Bei mir spurt er“, sagte 2013 eine besorgte Nachbarin aus Rostock über | |
einen Zehnjährigen, der in die Haasenburg sollte. Sie wollte ihn schützen, | |
ihrer Ansicht nach musste er nicht ins Heim. Aber ist „spuren“ so wichtig? | |
Das sei in seiner Kindheit immer verlangt worden, sagt mir etwa ein | |
Mittdreißiger aus Ostberlin. | |
Die Haasenburg-Heime ließ die damalige Jugendministerin Ende 2013 | |
schließen, nachdem zuerst die taz über die dortigen Methoden berichtet | |
hatte. Sie dienten nicht dem Kindeswohl. Kürzlich schrieb die taz erneut | |
über restriktive Praktiken im Heim in Jänschwalde in Brandenburg. Auch dort | |
gab es eine „strenge Aufnahmephase“. Das Jugendministerium ließ diese auf | |
den taz-Bericht hin unterbinden. Doch kurz zuvor waren dort Lokalpresse und | |
der Ministerpräsident zu Gast, man lobte die Einrichtung im Wald, in der | |
Jugendliche lernten, ihre „Defizite“ abzulegen, etwa dass sie Regeln und | |
Normen verletzen. | |
Eine wütende Leserin schrieb der taz, sie kenne das Heim, glaube den | |
„widerspenstigen Jugendlichen“ kein Wort. Die seien „nicht grundlos“ do… | |
Und dass sie mit strengen Erziehungsmaßnahmen nicht einverstanden seien, | |
sei doch logisch. | |
„Widerspenstig“ sein ist also schon ein Problem. Aufgegriffen von | |
Lokalblättern werden meist nur ganz harte Vorwürfe wie Gewalttätigkeit. Die | |
grotesken Methoden an sich – das Sitzen in einem Zimmer mit abgeklebten | |
Scheiben und angeschraubtem Stuhl, die Pflicht, bei jedem Toilettengang | |
„Darf ich“ zu fragen – sind seltener Thema. Dabei ist Jänschwalde kein | |
Einzelfall. Für ein Heim in Storkow, 50 Kilometer vor Berlin, liegen uns | |
Konzepte mit repressiven Methoden vor. | |
## Die DDR hatte keine Heimrevolte, kein 1968 | |
Die DDR hatte eine vormoderne Heimerziehung, das sagt ein Blick in die | |
Fachliteratur. Es war normal, dass Kinder zu Disziplin erzogen wurden. Laut | |
der Heimordnung aus dem Bildungsministerium von Margot Honecker hatten alle | |
Heimkinder „die Forderungen der Erzieher und Lehrer zu erfüllen“, und „s… | |
diszipliniert zu verhalten“. | |
Der führende DDR-Pädagoge Eberhard Mannschatz schrieb noch 1978, Pädagogen | |
hätten „das Recht und die Pflicht, Disziplin zu fordern“. Das sei keine | |
Unterdrückung, „wie die Ideologen der,antiautoritären Erziehung' uns | |
einreden wollen“. | |
Die DDR hatte keine Heimrevolte, kein 1968. Es gab dafür eine systematische | |
Einteilung der Kinder in „normal“ und „schwer“ Erziehbare. Für | |
„Schwererziehbare“ gab es Spezialheime und Jugendwerkhöfe, in denen sie | |
umerzogen werden sollten. | |
„Mit der Bezeichnung als,schwererziehbar' setzte in der DDR ein Prozess | |
der,Umerziehung' ein, der darauf ausgerichtet war, den Willen der Kinder | |
und Jugendlichen zu brechen und sie auf diese Weise zu zwingen, sich den | |
gesellschaftlichen Regeln zu unterwerfen“, schreibt die Juristin Friederike | |
Wappler 2012 in ihrem Gutachten zur DDR-Heimerziehung für die | |
Bundesregierung. Als Vorbild galt der sowjetische Erzieher Anton Makarenko: | |
Die erste Etappe war die „Explosionsmethode“, durch Erschütterungen sollten | |
„alte, fehlerhafte Einstellungen der Persönlichkeit beseitigt“ werden. Am | |
Anfang komme der Erzieher „ohne Zwang und Risiko nicht aus“. | |
## Pädagogik des Willenbrechens | |
Besonders schlimm ging es im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau zu. Dort | |
gab es ein Aufnahmeritual, das den Jugendlichen durch den Schock der | |
sofortigen Isolierung gefügig machen sollte – beschrieben in dem Buch „Den | |
neuen Menschen schaffen“ von Verena Zimmermann. Der Neuankömmling musste | |
sich entkleiden, ihm wurden die Haare rasiert, er bekam Anstaltskleidung | |
und musste 3 bis 12 Tage in einer nur mit einer Holzpritsche ausgestatteten | |
Arrestzelle verbringen. Erklärtes Ziel war„die völlige Brechung des | |
Willens“. | |
Die Arten der Heimerziehung in Ost und West unterschieden sich. In der DDR | |
gab es das Konzept der „bewussten Disziplin“, schreibt Wappler. Es gab die | |
Vorstellung, man könne die Persönlichkeitsstruktur von Menschen derart | |
verändern, „dass sie sich künftig nicht nur regelkonform verhalten, sondern | |
dieses auch noch als,vernünftig' empfinden“. Also etwa selbstkritisch | |
sagen, dass sie immer noch „diskutieren“. Das ist der Grusel dieser | |
Pädagogik des Willenbrechens. | |
Wappler schrieb, auch in der BRD sei es in den 1950er und 1960er Jahren | |
darum gegangen, Anpassung zu erzwingen, „doch es gehörte nicht zu der | |
Erziehungsideologie, eine positive Einstellung zu staatlich vorgegebenen | |
Werten zu erzeugen“. Dafür sei es notwendig, den Willen zu brechen, | |
„notfalls mit Gewalt und psychischem Zwang“. | |
Den DDR-Heimkindern attestierte das Gutachten schlimme Schädigungen von | |
Psyche und Seele. Aber wie ging es 1990 weiter? Wie passten die | |
Jugendhilfesysteme von DDR und BRD zusammen? | |
## Ruf nach Strenge | |
„In Ost und West prallten Kulturen aufeinander, die eigentlich überhaupt | |
nicht vereinbar waren“, sagte der Wissenschaftler Manfred Kappeler 2013 im | |
taz-Interview. Beide Staaten bekamen 1991 das moderne Jugendhilfegesetz, | |
das staatliche Eingriffe durch freiwillige Hilfen ersetzte. Dem gingen im | |
Westen 20 Jahre Reform voraus. | |
Wie es um die Systeme stand, untersuchte 1994 der 9. Jugendbericht der | |
Bundesregierung: Die DDR-Heimerziehung habe eine „aus heutiger Sicht […] | |
zum Teil schädliche Position“ innegehabt. Nötig sei eine Demokratisierung. | |
Die gab es. Doch Ende der 1990er kippte die Stimmung. Im Land dominierte | |
ein Diskurs über eine bedrohliche, gewalttätige Jugend, deren Täter in der | |
Wahrnehmung der Medien angeblich immer jünger und deren Taten immer | |
schlimmer würden. Die Regierung gab Millionen für Programme gegen | |
Aggression und Gewalt aus. Statt die alte Infrastruktur der FDJ-Jugendklubs | |
zu erhalten, gab es nur noch Prävention. „Was finanziert werden sollte, | |
musste diesem präventiven Gesichtspunkt genügen“, sagt Kappeler. Das habe | |
zur Stigmatisierung der Jugendlichen geführt. | |
Die Jugend war also vor allem böse. Es gab den Ruf nach Strenge. CDU-Leute | |
und rechte SPDler forderten für Grenzfälle eine „verbindliche | |
Unterbringung“. Gewaltprävention wurde zum großen Feld für | |
Nachwuchsforscher. Ausgehend von Hamburg, entstand die „konfrontative | |
Pädagogik“ als Gegenstück zur „Kuschelpädagogik“. | |
## Der Kritisierte hatte sich zu fügen | |
Zur gleichen Zeit kursierten irre Pläne. Einige Investoren wollten in | |
Thüringen ein Heim für 800 Jugendliche schaffen – nach dem Vorbild der | |
US-amerikanischen „Glen Mills Schools“. Publik machte dies der Spiegel mit | |
der Titelstory „Angriff auf die bösen Jungs“, in der der Jugendhilfe | |
vorgehalten wurde, sie setze keine Grenzen. | |
Glen Mills wies Parallelen zur Spezialheimerziehung auf. Da wie dort | |
sollten Jugendliche Regeln einhalten, um das Regeln-Einhalten zu lernen. | |
Etwa ein Hemd falten, bevor es in die Wäsche kommt. Selbst der kleinste | |
Regelverstoß musste durch andere Insassen kritisch beurteilt werden. Der | |
Kritisierte hatte sich zu fügen. Dies wurde in sieben Stufen vom | |
„freundlichen Hinweis“ bis zum gewaltsamen „Unterbinden durch Festhalten�… | |
oder Auf-den-Boden-Legen durchgesetzt. | |
Eine Expertise des Deutschen Jugendinstituts beleuchtete die Pläne. Es | |
heißt, danach war die Idee tot. Dennoch war sie Impuls zum Rollback. Denn | |
Befürworter von Glen Mills in Deutschland forderten, man solle „innovative | |
Ansätze“ in die Jugendhilfe importieren. Man brauche einen „erneuten | |
Paradigmenwechsel“, weg vom „Unverbindlichen“, und eine spezielle | |
Eingangsphase zur Überwindung des Widerstands der Jugendlichen. Also eine | |
Umerziehungsphase. | |
Es folgte eine Gründungswelle für „intensiv-therapeutische“ Heime in | |
„reizarmer“ Umgebung, die Elemente der DDR-Spezialerziehung in sich tragen. | |
Ein eng strukturierter Tagesablauf, der bis auf die Minute regelt, was | |
passiert. Eine Eingangsphase, in der die Kinder und Jugendlichen ihren | |
Widerstand aufgeben sollen. Eine faktische Abgeschlossenheit, weil Ausgang | |
erst noch verdient werden muss. Und wie zu DDR-Zeiten gilt der harte | |
Heimalltag selbst schon als Therapie. | |
## „Qualitätsagentur“ für Heimerziehung | |
Nur in Fachkreisen gab es Streit, der Hamburger Hochschullehrer Timm | |
Kunstreich etwa warnte vor einem Tabubruch. Kollegen forschten, „um den | |
Einsatz von Zwangsmitteln zu rechtfertigen“. Er meinte den Berliner Mathias | |
Schwabe, der in Intensivgruppen über „Zwang in sozialpädagogischer Absicht�… | |
forschte. Was das heißt, beschrieb er am Beispiel einer Intensivgruppe auf | |
dem Land: Jugendliche, die sich weigern, ihr Putzamt zu verrichten und | |
wütend werden, werden von Pädagogen überwältigt und auf dem Boden | |
festgehalten, bis sie ihre Einwilligung signalisieren. Das könne zwei | |
Stunden dauern. Ein Drittel der Kinder habe das als schmerzhaft erlebt. | |
Schwabe lehnt solche Methoden nicht ab, sondern diskutiert sie, stellt | |
Kriterien auf, nach denen körperliche Gewalt zur Durchsetzung von Regeln | |
akzeptabel sei. In der Fachwelt zählt er als Außenseiter. Denn Gewalt in | |
der Erziehung ist verpönt. Doch Brandenburg setzte 2016 ausgerechnet | |
Schwabe in eine „Qualitätsagentur“ für Heimerziehung ein. Ein | |
problematisches Zeichen. | |
Der ehemalige DDR-Pädagoge Eberhard Mannschatz räumte nach dem Ende der DDR | |
Fehler ein. Er habe die Texte Makarenkos falsch gelesen, es sei ein | |
„Irrtum“, dass die Interessen des Kollektivs höher stünden als die des | |
Einzelnen. Bei der Erziehung des „neuen Menschen“ sei man von einer | |
„objektiven“ Übereinstimmung gesellschaftlicher und persönlicher Interess… | |
ausgegangen und habe unhinterfragt gesellschaftsadäquates Verhalten zur | |
Norm erhoben. | |
Doch der Anspruch an die Jugend, sich anzupassen, lebte nach 1990 fort. | |
Wenige Jahre später wurden alte repressive Praktiken als neue Ideen | |
verkauft. Das Leid der Opfer von damals ist anerkannt. Aber darüber, dass | |
die Umerziehungsidee noch in den Köpfen spukt und zum Problem wird, fehlt | |
eine Diskussion im Sinne eines „bitte nie wieder“. | |
21 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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