| # taz.de -- Autorin über DDR-Umerziehungsheime: „Erst mal den Willen brechen… | |
| > Grit Poppe lässt Betroffene über ihre Zeit in Umerziehungsheimen der DDR | |
| > berichten. Die Methoden waren so ähnlich wie in den Haasenburg-Heimen. | |
| Bild: Ein Raum des ehemaligen Jugendwerkhofes Torgau. Heute befindet sich dort … | |
| taz: Frau Poppe, liest man die Berichte in Ihrem Buch, bekommt man | |
| schlechte Laune. | |
| Grit Poppe: Das tut mir leid. | |
| „Die Weggesperrten“ erzählt von [1][Umerziehung in Spezialheimen der DDR]. | |
| Warum ist das heute noch Thema? | |
| Weil die Schicksale dieser Kinder wenig bekannt sind. Es gibt das | |
| Vorurteil: Wer im Jugendwerkhof war, muss was angestellt haben. Wegen | |
| dieser Abwertung schweigen viele. Doch wurden sie zu Unrecht weggesperrt. | |
| Manche wurden rehabilitiert, aber viele bis heute nicht. | |
| Die waren einfach arm? | |
| Es gab auch welche, deren Familien politisch auffielen. Aber die meisten | |
| der in Spezialheime Eingewiesenen kamen aus sozial schwierigen | |
| Verhältnissen. Wenn die Mütter arbeiteten, wie es Pflicht war, und es waren | |
| viele Kinder im Haus und kein Vater, hatten die dieses Stigma des Asozialen | |
| an der Backe. Sie waren unter Aufsicht der Jugendhilfe und es reichte eine | |
| Kleinigkeit, wie zum Beispiel Schule schwänzen. | |
| Woher kennen Sie Opfer? | |
| Ich habe zwei Romane geschrieben, deren Protagonisten im Jugendwerkhof | |
| Torgau landeten: ‚Weggesperrt‘ und ‚Abgehauen‘. Über die Recherchen und | |
| Lesereisen lernte ich mehr und mehr kennen. Manche beschäftigten sich erst | |
| spät mit ihrer Geschichte, wenn eine Krise alte Gefühle hervorholte. Ich | |
| habe auch Betroffene zur Gedenkstätte Torgau begleitet. Da existieren noch | |
| die Dunkelzellen im Keller, in denen sie eingesperrt waren. | |
| Warum widmen Sie ein Kapitel der Haasenburg? | |
| Als ich 2013 die taz-Berichte über diese Heime las, dachte ich, das kann | |
| nicht wahr sein. Es gab so viele [2][Parallelen zur Umerziehung im | |
| Jugendwerkhof]. Zum Beispiel der „Empfang“ am Anfang, der die Jugendlichen | |
| unter Schock setzen sollte. | |
| Die ‚Explosionsmethode‘ von Anton Makarenko? | |
| Genau. Dass die neu Eingewiesenen erst mal so eingeschüchtert werden, dass | |
| sie sich dann tatsächlich diesen Bedingungen anpassen. Dieses Schema gab es | |
| in den Umerziehungsheimen der DDR. Und auch in der Haasenburg gab es diese | |
| Rote Phase, wo die Insassen völlig entrechtet waren, alles abgeben mussten, | |
| Leibesvisitationen ertragen mussten von völlig Fremden, an die Tür klopfen, | |
| wenn sie aufs Klo mussten. Überhaupt, dieses Einsperren ohne Kontakt nach | |
| draußen. Das war alles ein bisschen anders, aber trotzdem gleich. Also den | |
| Willen brechen und die Persönlichkeit erst mal zerstören, weil die als | |
| rebellisch gilt. | |
| Ein Erziehungskonzept aus Diktatur-Zeiten, schreiben Sie. | |
| Ja. Wir beschäftigen uns im Buch auch mit dem Nationalsozialismus. In | |
| dieser Zeit wurden Kinder, die als „unerziehbar“ galten, mitunter sogar im | |
| Rahmen der „Euthanasie“ getötet. Statt Erziehung sah man hier im | |
| Zweifelsfall Vernichtung vor, das war in der DDR natürlich nicht so. In den | |
| ‚Jugendschutzlagern‘ beziehungsweise Jugend-KZs der Nazis gab es jedoch | |
| auch Strafsport und solche Strafmaßnahmen, die dann irgendwie später wieder | |
| auftauchten. Es fehlte in der DDR nach 1945 eine Hinterfragung von | |
| Heimerziehungsmethoden. Im Westen zunächst auch, doch seit 1968 bis in die | |
| 1970er hinein fanden dann in den Heimen Revolten statt. Die Zustände | |
| änderten sich im Westen, Schwarze Pädagogik wurde geächtet. Im Osten gab es | |
| diese Auseinandersetzung mit der repressiven Erziehung nicht. Gerade in den | |
| geschlossenen Heimen hat sich da viel vom alten Denken erhalten – wie man | |
| auch an den Haasenburg-Heimen sieht. In Brandenburg versagte zudem die | |
| Kontrolle des Landesjugendamtes. Die Betroffenen sagen, sie hätten keinen | |
| von denen gesehen. Und wenn, dann durften sie nicht reden. | |
| Sie sagen, es fehlt die Aufarbeitung. Ist es nicht Konsens, dass Torgau | |
| schlimm war? | |
| Nein. Manchmal hört man auch Sätze wie: Das war richtig, diese | |
| „schwierigen“ Jugendlichen wegzusperren, man müsste so etwas wie den | |
| geschlossenen Jugendwerkhof wieder aufmachen. | |
| Ist Anpassung ein Ideal aus real-sozialistischen Zeiten? | |
| Ja. Umerzogen werden sollten die Kinder und Jugendlichen ja zu | |
| ‚sozialistischen Persönlichkeiten‘. Da war ja fast jedes Mittel recht. Man | |
| hat sich nach 1989 sehr über die Stasi empört. Aber was da in den Heimen | |
| lief, hatte niemand auf dem Schirm. | |
| Muss es [3][Entschädigung für die Haasenburg-Kinder] geben? | |
| Ja. Da wurden Menschenrechte mit Füßen getreten, das kann ein Rechtsstaat | |
| nicht akzeptieren. Es war ein Systemversagen. Die Leute sind traumatisiert | |
| und brauchen Unterstützung. | |
| Für die DDR-Heimkinder gab es bereits einen [4][Fonds]. Zu wenig? | |
| Es war ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie konnten Sachleistungen für bis | |
| zu 10.000 Euro beantragen. Manche mussten ganz ausführlich erzählen, dass | |
| sie geschädigt wurden. Bei anderen wurde gesagt: „Okay, wir glauben Ihnen.“ | |
| Und dann konnten sie ein kaputtes Haushaltsgerät ersetzen. Sie mussten | |
| alles einzeln beantragen und abrechnen. | |
| Das klingt bevormundend. | |
| Es regte viele auf. Dazu kommt, dass es keine Rehabilitierung im | |
| eigentlichen Sinne ist. Aber das wollen die Betroffenen. Schwarz auf weiß | |
| die Anerkennung dafür, dass ihnen Unrecht angetan wurde. | |
| Also brauchen wir Entschädigung für junge und alte Opfer? | |
| Ja. Vielleicht sollte man jemanden auf Bundesebene einsetzen, der sich um | |
| alle Heimkinder kümmert. | |
| Sie waren DDR-Bürgerin. Wusste man davon? | |
| Von Torgau nichts. Das war Tabu. Die Insassen mussten bei ihrer Entlassung | |
| unterschreiben, dass sie nichts sagen. Taten sie es doch, kamen sie wieder | |
| rein. | |
| 30 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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