Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aufarbeitung des Haasenburg-Skandals: „Opfer eines Systemversagen…
> Ehemalige Bewohner der Haasenburg-Heime fordern Entschädigung. Doch die
> Brandenburger Bildungsministerin ignoriert das.
Bild: Eines der Gebäude der Haasenburg GmbH in Schwielochsee in Brandenburg
Hamburg/Berlin taz | Einmal kommt kurz eine Atmosphäre auf wie bei einem
Klassentreffen, als Marcel auf das Landesjugendamt schimpft. Nur einmal
beim Sommerfest sei jemand von denen da gewesen. „Ich war in Neuendorf, in
Jessern, in Karow. Keiner vom Landesjugendamt war jemals zu sehen.“ „Und
immer der gleiche Gutachter“, ruft Mike dazwischen. „Und es gab auch
angeblich keine Fixierungen tagelang“, sagt Marcel. „Dabei war das der
erste Raum, der gezeigt wurde“, schaltet Bianca sich ein. „Genau“, sagt
Marcel.
Dann beschreibt er, wie der Anti-Aggressions-Raum aussah. Darin stand ein
Fixierbett mit Gurten, „wo du am Kopf fixiert wurdest, am Bauch fixiert
wurdest, an den Beinen und an den Armen“.
Marcel, Renzo, Bianca, Mike und Dominik teilten das Schicksal, im gleichen
Heim gewesen zu sein. Sie sind frühere Bewohner der Haasenburg, die Ende
2013 nach dem Bericht einer [1][Untersuchungskommission] geschlossen wurde.
Das brandenburgische Jugendministerium weiß angeblich nicht, wie viele
Bewohner es an den Standorten Müncheberg, Neuendorf, Jessern und den
Außenstellen Dresden und Karow gab. Wahrscheinlich waren es Hunderte.
An diesem 6. November, dem achten Jahrestag der Schließung durch die
frühere Jugendministerin Martina Münch (SPD), trafen sich die fünf [2][zu
einer Live-Diskussion] auf Facebook. Eingeladen hatte der Verein
„Kinderseelenschützer“ von Dennis Engelmann (28), der selber traumatische
Erfahrungen in einer Pflegefamilie gemacht hat.
## Keine Gerechtigkeit
Er schaltet sich ein. „Das klingt so, als würdet ihr über Dinge der 60er,
70er Jahre berichten. Dabei reden wir jetzt über die 2000er und 2010er. Das
ist unfassbar.“ Es liege ihm am Herzen, die Opfer zu unterstützen, sagt er
zur taz. „Sie sind in meinem Alter. Und ich weiß, wie es ist, wenn einem
vom Staat keine Gerechtigkeit widerfährt.“
Angeregt hat das Treffen Renzo Martinez, der von 2003 bis 2006 in der
Haasenburg war. Er litt unter der Isolation im Zimmer und den rigiden
Methoden wie dem Festschnallen auf der Fixierliege, mit denen der Willen
der Jugendlichen gebrochen werden sollte.
Martinez ist heute 31 und schreibt über seine Erlebnisse auch in dem neuen
Buch [3][„Die Weggesperrten“] der Potsdamer Schriftstellerin Grit Poppe und
ihres Sohnes, des Historikers Niklas Poppe (Propyläen Verlag), in dem es um
junge Menschen geht, die Opfer von DDR-Umerziehung wurden. In der
Haasenburg sei ein „Biotop“ der schwarzen Pädagogik entstanden, schreibt
Grit Poppe im Vorwort. Das Erziehungskonzept stamme aus „Diktaturzeiten“.
Dominik gehört zu den letzten Jugendlichen, die in der Haasenburg waren,
heute ist er 23. In dem Live-Chat will er von den anderen wissen, ob bei
ihnen auch eine Kamera im Anti-Aggressions-Raum hing. Er spricht leise. In
seinem Kopf habe die Zeit in diesem Heim etwas kaputt gemacht, sagt er.
## Nächtelang jemanden schreien gehört
Als er wieder zu Hause war, habe er noch an jede Tür geklopft und seinen
Namen gesagt, wie es im Heim verlangt wurde. „Das ist so eine Kopfsache.
Mir ging es echt scheiße. Ich bin heute noch kaputt. Ein verschlossener
Mensch. Weiß nicht mehr, was ich sagen soll.“ Er habe nächtelang jemanden
schreien hören im Heim, „das kann man halt nicht verarbeiten von heut auf
morgen“.
Dass das Thema wieder hochkommt, liegt an einem traurigen Vorfall. Im
Februar nahm sich [4][Ex-Bewohner Jonas das Leben.] Bianca und Mike kannten
ihn gut. Sie engagierten sich jetzt auch für ihn, sagen sie. Bianca
berichtet, sie sei nach der Haasenburg schnell Mama geworden. Die Zeit dort
hole sie trotzdem immer wieder ein. „Verarbeiten kann man es nicht. Nie.
Das ist immer da.“ Vielen Betroffenen falle schwer, einzuordnen, wo ihre
Probleme herkommen, sagt Renzo. „In der Haasenburg wurde einem systematisch
die Schuld gegeben für alles, was passiert.“ Da sei wichtig, den Opfern zu
zeigen; „Ey, ihr seid nicht allein.“
Nicht beim Chat dabei, aber mit zur Gruppe gehörig ist Christina Witt, die
vor zwei Monaten eine [5][Petition zur Entschädigung der Haasenburg-Opfer]
startete, die bis jetzt 34.000 Unterstützer hat. Sie schrieb in der Sache
auch an Brandenburgs amtierende Bildungsministerin Britta Ernst (SPD). Doch
die scheint nicht bereit, mit den Betroffenen zu reden. Bislang kam keine
Antwort aus dem Ministerium.
Die sechs gründeten jetzt eine „[6][Interessengemeinschaft Ehemalige
Haasenburgkinder]“, der sich rund 30 weitere Ehemalige angeschlossen haben.
Sie wollen nicht lockerlassen, bis das Leid der Betroffenen anerkannt wird.
Dennis Engelmann mit seinem Verein unterstützt sie dabei. Sie planten eine
Social-Media-Kampagne, bei der Betroffene ihre Geschichte erzählen, sagt
Engelmann, der Erzieher gelernt hat, diesen Beruf aber wegen seiner
Traumatisierung nicht ausüben kann.
## „Opfer eines Systemversagens“
Auch den meisten Ex-Haasenburg-Kindern geht es so, dass sie beruflich nicht
Fuß fassen. „Viele sind bis heute so zerstört, dass sie Probleme haben,
eine normale Arbeit durchzustehen“, sagt Renzo. Jugendministerin Münch
hatte sich [7][zwar 2014 entschuldigt]. Doch das genüge nicht. „Wir
möchten, dass anerkannt wird, dass wir Opfer eines Systemversagens sind“,
sagt Renzo. „Wir wollen Rehabilitation, Entschädigung und therapeutische
Hilfe.“
Das Land Brandenburg will davon bislang nichts wissen und rät den
Betroffenen, individuell über das Opferentschädigungsgesetz Ansprüche
geltend zu machen. Doch das ist für Heimkinder schwierig, weil ihnen oft
die Belege fehlen und das Gesetz diverse Hürden aufstellt.
Gab es ein strukturelles Versagen, müsste es einen Fonds geben, wie für die
Kinder der Heimerziehung in der früheren BRD und DDR auch. Das sieht auch
[8][Wolfgang Rosenkötter] so, nach dessen Erfahrungen in den 1960ern der
Kinofilm „Freistatt“ über damalige schlimme Methoden der kirchlichen Heime
entstand. Die Heimopfer der BRD wurden entschädigt. Zwar sehr knausrig mit
Sachleistungen, aber immerhin. „Wenn der politische Wille da ist, geht
das“, sagt Rosenkötter. „Das ist Kärrnerarbeit, man muss denen ständig a…
den Geist gehen.“
Auch für die [9][DDR-Heimkinder] gab es Entschädigung. „Ich hatte,Glück',
dass meine Heimakte bei der Stasi lag“, erinnert sich Dietmar Glombitza,
der als 16-Jähriger sechs Monate im [10][Jugendwerkhof Torgau] war. Er
bekam sogar die Höchstsumme von 12.000 Euro, weil sein Fall dank Stasi so
gut dokumentiert war. „So wie die Opfer der Jugendwerkhöfe müssten auch die
Haasenburg-Bewohner rehabilitiert werden“, sagt Buchautorin Poppe.
## Offensiv an die Öffentlichkeit gehen
Zur Frage eines Entschädigungsfonds müsste sich das brandenburgische
Jugendministerium von Britta Ernst äußern. In der letzten Antwort an die
taz heißt es von dort, dass noch Verfahren offen seien, „deren Ergebnis
abgewartet werden sollte“.
In der Tat wurde die Schließung der Heime von der Haasenburg GmbH
angefochten. Obwohl siegesgewiss, [11][verlor die Firma 2014 zwei
Eilverfahren vor Gericht]. Das „Hauptsacheverfahren“ steht seither aus. Wie
das Verwaltungsgericht Cottbus mitteilt, sei für 2022 „eine Terminierung
beabsichtigt“.
Es sei gut, dass das jetzt passiert, sagt Renzo Martinez. Egal wie es
ausgeht, die Interessengemeinschaft Ehemalige Haasenburgkinder werde
offensiv an die Öffentlichkeit gehen, eventuell auch eine Petition ans
Parlament verfassen. „Es war alternativlos, die Heime zu schließen.“
1 Dec 2021
## LINKS
[1] /fileadmin/static/pdf/2013-11-06_Endbericht-der-Kommission-zur-Haasenburg_D…
[2] https://www.facebook.com/kinderseelenschuetzer/videos/576700033405567/
[3] https://www.grit-poppe.de/die_weggesperrten.html
[4] /Tod-eines-ehemaligen-Heimkindes/!5756902
[5] /Gewalt-gegen-Kinder-in-Haasenburg/!5804644
[6] https://www.facebook.com/ehemalige.haasenburgkinder/
[7] https://www.pnn.de/brandenburg/haasenburg-skandal-ich-entschuldige-mich/216…
[8] /Ex-Heimkind-ueber-Schwarze-Paedagogik/!5513417
[9] /Heimerziehung-in-der-DDR/!5753391
[10] https://www.jugendwerkhof-torgau.de/
[11] /Gerichtsentscheidung-zu-Kinderheimen/!5042119
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Geschlossene Kinderheime
Hamburg
GNS
Brandenburg
Schwerpunkt Stadtland
Jugendhilfe
Psychiatrie
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Kinderheim
DDR
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Kinderheim
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte um Opfer-Entschädigung: Heimkinder stellen Forderungen
Ehemalige Haasenburg-Bewohner kämpfen um Anerkennung. Eine Fachtagung
solidarisiert sich. Opferentschädigung auch bei „institutioneller Gewalt“?
Betroffener über Gewalt im Jugendheim: „Man schuldet uns etwas“
Psychische Gewalt und Fixierungen: Ehemalige Haasenburg-Insassen erzählen
in Hamburg ihre Geschichte und stellen Forderungen.
Autorin über DDR-Umerziehungsheime: „Erst mal den Willen brechen“
Grit Poppe lässt Betroffene über ihre Zeit in Umerziehungsheimen der DDR
berichten. Die Methoden waren so ähnlich wie in den Haasenburg-Heimen.
Anerkennung für Haasenburg-Opfer: Das Leiden hat kein Ende
Die Skandalheime der Haasenburg GmbH sind seit 2013 geschlossen. Doch die
ehemaligen Bewohner:innen ringen immer noch um eine Entschädigung.
Gewalt gegen Kinder in Haasenburg: Ex-Heimkinder fordern Entschädigung
Frühere Haasenburg-Bewohnerinnen fordern Wiedergutmachung vom Land
Brandenburg. Die zuständige Ministerin setzt nur auf Einzellösungen.
Fehlende Aufarbeitung des Heim-Skandals: Die Reste der Haasenburg
In einem lange verlassenenen Haasenburg-Heim entdeckt ein Filmteam
Fixiergurte und persönliche Akten. Anzeige wegen Datenschutzverstoß ist
gestellt.
Schikanen in Kinderheim in Brandenburg: Gardinen statt Milchglas
Nach einem taz-Bericht wird die strenge Aufnahmephase im Kinderheim
„Neustart“ ausgesetzt. Das Heim bekam unangemeldeten Besuch von der
Aufsicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.