Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Heimerziehung in der DDR: Die Leidtragenden brauchen Hilfe
> Das Buch „Den Betroffenen eine Stimme geben“ handelt von Opfern der
> DDR-Heimerziehung. Die Autor*innen stellen ihr Werk im Online-Gespräch
> vor.
Bild: Ausschnitt aus einer Gedenktafel in der Ausstellung Jugendwerkhof Torgau
Es gibt Menschen, die haben eine dermaßen große Angst vor Autoritäten, dass
sie selbst dann nicht die Polizei rufen, wenn bei ihnen eingebrochen wurde.
Andere können kein fensterloses Badezimmer betreten, weil sie sich in eine
Arrestzelle versetzt fühlen. Sie wurden in ihrer Kindheit und Jugend
geschlagen, gedemütigt, misshandelt und missbraucht. [1][Sie sind Opfer der
Heimerziehung in der DDR.]
Nun erscheint ein Buch, das diesen Opfern Gehör verschaffen soll. „Den
Betroffenen eine Stimme geben“ wird am 23. Februar in einer live aus dem
Literaturforum im Brecht-Haus gestreamten Veranstaltung präsentiert: Die
beiden Autor*innen Angelika Censebrunn-Benz und Mario Wenzel stellen
ihre Arbeit, die kostenfrei zu bekommen ist, in einem Gespräch mit Wolfgang
Benz vor.
In ihr wird erstmals [2][das System der DDR-Heimerziehung] konsequent aus
der Perspektive der Betroffenen durchleuchtet. Die Sammlung von Interviews,
so Censebrunn-Benz im Gespräch mit der taz, dient nicht zuletzt dazu, „dass
es nicht mehr nur Einzelstimmen sind, die allein auf weiter Flur stehen und
erklären und sich rechtfertigen müssen, warum sie im Heim waren. Wir wollen
auch klarmachen: Es waren keine Einzelfälle.“
Genaue Zahlen gibt es nicht, weil die Dokumente nicht vollständig und
verlässlich sind, aber es dürfte nahezu eine halbe Million Betroffene
geben, die das Heimerziehungssystem der DDR durchlaufen haben. [3][Manche
mussten nur wenige Wochen in einem Heim bleiben, andere wurden ihre ganze
Kindheit und Jugend] in immer wieder andere Einrichtungen verbracht, von
den Normalheimen über die Durchgangs- und Spezialkinderheime und
Jugendwerkhöfe bis zum berüchtigten Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, in
dem mit militärischem Drill, Zwangsarbeit, Schikanen und Bestrafung die
Persönlichkeit der angeblich „schwer erziehbaren“ Jugendlichen gebrochen
wurde.
Verhaltensauffälligkeiten als Gründe
Die Gründe, warum ein Kind im System landete, waren vielfältig. Oft ging es
um Verhaltensauffälligkeiten, um Schuleschwänzen oder vielleicht
Vandalismus, womöglich hatte jemand aber auch nur zu laut die falsche Musik
gehört oder die Haare zu lang getragen. Geradezu absurd ist es, dass
Kinder, die aus ihren Familien genommen wurden, weil sie dort missbraucht
worden waren, dann im Heim dem Missbrauch durch andere Kinder und
Heimpersonal ausgesetzt waren.
Angelika Censebrunn-Benz sammelt diese Geschichten seit 2018 für die
Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Die Historikerin und ihr
Kollege Mario Wenzel haben seitdem über 70 Interviews mit Betroffenen
geführt, die in einer Datenbank der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
werden. Denn, so formulieren es die beiden in ihrer Broschüre:
„Die Leidtragenden existieren noch. Und sie bedürfen unserer Hilfe in Form
von Anerkennung und Respekt. Wir können das den Opfern der
DDR-Heimerziehung widerfahrene Leid nicht ungeschehen machen. Aber wir
können einen Platz anbieten für ihre Geschichten, können dafür sorgen, dass
die Betroffenen sich trauen, sie zu erzählen, und wir können sie darin
bestärken, dass sie nicht schuld sind an dem, was ihnen widerfahren ist.“
Denn bis heute ist Scham immer noch stark verbreitet unter den Opfern. Über
Jahre und in jedem Heim anders, aber schlussendlich systematisch, wurde den
Kindern und Jugendlichen vermittelt, dass es ihre eigene Schuld war, dass
sie nicht dem Ideal des sozialistischen Menschen entsprachen. Ein
Bettnässer war selbst schuld, dass er einnässte – niemand fragte nach
seiner Psyche, seinen Traumata, seiner Vorgeschichte. Ein Stigma, das bis
heute existiert.
Psychische und physische Folgen
Viele haben bis heute ihren Lebenspartnern und Verwandten nicht von ihrem
Leid erzählt, obwohl sie an den Spätfolgen leiden und oft psychisch und
physisch schwer erkrankt sind. Dass viele der Betroffenen bis heute auf
Anerkennung und Entschädigung warten, dass der [4][Entschädigungsfonds für
Ost-Heimkinder] nach hohen bürokratischen Hürden nur Sachleistungen
auszahlt und 2018 auslief, während der für West-Heimkinder unbegrenzt
eingerichtet wurde, trägt auch nicht dazu bei, dass die Opfer der
DDR-Heimerziehung offen mit ihrer Geschichte umgehen.
Deshalb gibt es noch allerhand aufzuarbeiten an diesem, wie es die
Bundesregierung in einem Fazit zu den Entschädigungs-Fonds schrieb,
„dunklen Kapitel der neueren deutschen Geschichte“. Censebrunn-Benz hofft,
dass „Den Betroffenen eine Stimme geben“ die Gedenkstätte und die Datenbank
in der Öffentlichkeit bekannter macht „und sich vor allem auch noch mehr
Zeitzeugen und Zeitzeuginnen bei uns melden und bereit sind, ihre
Geschichte zu erzählen“.
Wichtig, so Censebrunn-Benz, wäre auch, dass in der Öffentlichkeit ein
breiteres Bewusstsein für die Problematik und das immer noch herrschende
Leid entsteht. Denn viele der Betroffenen sind nicht nur aktuell
[5][mittellos und oft ohne Arbeit], weil sie in ihrer Heimkarriere meist
keine oder nur eine rudimentäre Berufsausbildung abschließen konnten, sie
haben auch bis heute oft Probleme, zwischenmenschliche Beziehungen
aufzubauen, weil sie nicht gelernt haben, Vertrauen zu fassen.
Wenn diese Menschen nun älter werden, sind neue Schwierigkeiten
vorprogrammiert, wenn sie in Krankenhäusern und Altenheimen in Situationen
geraten, die sie in ihre schlimme Vergangenheit zurückversetzen. „Da kommt
auf unsere Gesellschaft, das muss uns klar sein, eine große Aufgabe zu“,
sagt Angelika Censebrunn-Benz, „für diese Menschen muss mehr getan werden.“
23 Feb 2021
## LINKS
[1] /Kommentar-Kindesmissbrauch-in-der-DDR/!5575497
[2] /Heimerziehung-nach-der-Wende/!5638512
[3] /Bald-Entschaedigung-fuer-DDR-Heimerziehung/!5097517
[4] /Zahlungen-an-Heimkinder/!5130522
[5] /Schwesig-stockt-Hilfsfonds-auf/!5209057
## AUTOREN
Thomas Winkler
## TAGS
Buch
Heimerziehung
DDR
Kindesmissbrauch
DDR
Pädophilie
Lesestück Interview
30 Jahre friedliche Revolution
sexueller Missbrauch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Autorin über DDR-Umerziehungsheime: „Erst mal den Willen brechen“
Grit Poppe lässt Betroffene über ihre Zeit in Umerziehungsheimen der DDR
berichten. Die Methoden waren so ähnlich wie in den Haasenburg-Heimen.
Pädosexuelle Netzwerke in Berlin: Man hat noch nicht mal weggesehen
Es geht um die Schattenseiten der sexuellen Liberalisierung: Eine Studie
liefert Erkenntnisse über Pädo-Gruppen im Berlin der 80er und 90er Jahre.
Rasha Nahas über Berlin und ihr Album: „Ich wollte nur ich sein“
Seit 2017 lebt die Musikerin Rasha Nahas in Berlin – für die
Palästinenserin mit israelischem Pass ist das auch eine Identitätssuche.
Heimerziehung nach der Wende: Die Willenbrecher
Disziplinierung und Anpassung: Elemente der DDR-Heimerziehung leben in
heutigen Kinder- und Jugendeinrichtungen fort.
Studie über Kindesmissbrauch in der DDR: Gebrochen und ignoriert​
Eine Fallstudie beleuchtet sexuellen Missbrauch in der DDR. Viele
Betroffene haben unglaubliches Leid erfahren und bis heute keine
Entschädigung bekommen.​
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.