# taz.de -- Studie über Kindesmissbrauch in der DDR: Gebrochen und ignoriert | |
> Eine Fallstudie beleuchtet sexuellen Missbrauch in der DDR. Viele | |
> Betroffene haben unglaubliches Leid erfahren und bis heute keine | |
> Entschädigung bekommen. | |
Bild: Das Jugendwerkhof Torgau, ein gefängnisähnliches DDR-Spezialheim, ist h… | |
Berlin taz | Die kleine Wohnung von Renate Viehrig-Seger am Stadtrand von | |
Berlin ist voll und bunt: Nippes und Polstermöbel, ein Aquarium. Eine | |
Schutzhöhle. „Ich komme gut klar“, sagt die 60-Jährige und krault ihrer | |
Hündin Shiva den Bauch. Klarkommen – für andere ist das eine | |
Selbstverständlichkeit, für Viehrig-Seger nicht. | |
Ihre Lebensgeschichte klingt wie aus der Hölle: Kinderreiche Familie, jeden | |
Tag Prügel. Das Mädchen ist 11 Jahre alt, als der Vater beginnt, sie zu | |
vergewaltigen. Das Mädchen vertraut sich einer Freundin an, einer Lehrerin, | |
schließlich dem Jugendamt. Man glaubt ihr auch dort nicht. „Von diesem Tag | |
an hat sich mein Leben verändert“, sagt sie. | |
Sie beginnt „rabiat zu klauen“, reißt immer wieder von zu Hause aus, bis | |
sie ins Heim kommt. Dort besucht sie auch die 7. und 8. Klasse der | |
Oberschule. „Die zwei Jahre waren wie eine Erleichterung“, sagt sie. „Ich | |
konnte lernen, niemand fasste mich an.“ | |
Dann schickte man sie zurück nach Hause. Schließlich landete sie im | |
Jugendwerkhof Torgau, ein gefängnisähnliches DDR-Spezialheim, in dem Drill | |
und Misshandlungen an der Tagesordnung waren. „Zu meinem Geburtstag bekam | |
ich nächtlichen Besuch vom Direktor. Als ich von der Vergewaltigung | |
erzählte, bekam ich fünf Tage Arrest wegen Belügens.“ Von da ab, erzählt | |
Viehrig-Seger, habe sie nur noch funktioniert. „Ich war gebrochen.“ | |
## Neue Fallstudie zur Aufarbeitung | |
Biografien wie diese bilden die Basis der „Fallstudie Sexueller | |
Kindesmissbrauch in Institutionen und Familien in der DDR“, die am Mittwoch | |
von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen | |
Kindesmissbrauchs in Berlin vorgestellt wurde. Insgesamt 75 Anhörungen und | |
27 Berichte von Betroffenen wurden dafür ausgewertet. | |
29 von ihnen wurden in staatlichen Institutionen wie Kinderheimen, Schulen | |
und Jugendwerkhöfen missbraucht, die übrigen in ihren Familien. Manche von | |
ihnen haben ihre Familie nie kennengelernt und wuchsen unter der Obhut des | |
Staats auf, einige landeten erst durch den häuslichen Missbrauch im | |
Jugendhilfesystem, wo sie dann erneut missbraucht wurden. Eine Minderheit | |
erlebte kommerzielle sexuelle Ausbeutung. | |
Über sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der DDR war lange | |
nichts bekannt. Die DDR-Behörden erfassten solche Straftaten nicht, | |
Vorfälle lassen sich höchstens aus Akten rekonstruieren. Das änderte sich | |
erst mit der Arbeit des Runden Tisches: Die 2010 von der Bundesregierung | |
mit der Untersuchung von sexuellem Kindesmissbrauch beauftragte | |
Arbeitsgruppe erkannte hier dringenden Aufarbeitungsbedarf. | |
## „Die Öffentlichkeit muss das erfahren“ | |
Die 2015 eingesetzte Unabhängige Kommission widmete ihre erste Laufzeit der | |
Erforschung des Missbrauchs im DDR-Kontext. Nach vertraulichen Anhörungen, | |
bei denen viele erstmals über ihre Erlebnisse sprachen, gab es 2017 ein | |
öffentliches Hearing in Leipzig, auf dem auch Renate Viehrig-Seger vor etwa | |
150 Gästen erzählte, was ihr widerfahren war. Das sei nicht leicht gewesen, | |
sagt sie, aber befreiend. „Die Öffentlichkeit muss das erfahren“, findet | |
sie. „Viele wissen immer noch nicht, welches Unrecht da ablief.“ | |
Heute ist in den Räumen des Jugendwerkhofs, den bis zu seiner Schließung | |
Ende 1989 mehr als 4.000 Jugendliche durchlaufen haben, [1][eine | |
Gedenkstätte], die an die Auswüchse der repressiven DDR-Heimerziehung | |
erinnert. Auch Renate Viehrig-Seger besuchte 2013 zusammen mit anderen | |
ehemaligen Heimkindern die Gebäude, in denen sie gequält worden war. Sie | |
engagiert sich in der Betroffeneninitiative „Verbogene Seelen“ und spricht | |
als Zeitzeugin vor Schulklassen. | |
Die neue Studie, die auch Elemente ihrer Lebensgeschichte aufnimmt, begrüßt | |
sie. „Die Aufarbeitung steht noch ganz am Anfang. Noch immer reden nicht | |
alle, und viele Heimakten sind weg.“ | |
Die Fallstudie kann zu einer qualitativen Analyse nur bedingt beitragen. | |
Sie basiert nicht auf systematisch erhobenen Daten, was angesichts der | |
schlechten Aktenlage auch kaum möglich ist. Vielmehr versucht sie anhand | |
von individuellen Schicksalen herauszuarbeiten, welche speziellen | |
Rahmenbedingungen in der DDR Missbrauch begünstigten, in welcher Situation | |
die Betroffenen heute sind und welche Botschaft ihre Geschichten an die | |
heutige Gesellschaft senden. | |
## Mehrfach tabuisiert: Offiziell gab es so etwas nicht | |
Sexuelle Gewalt an Kindern, so stellen die ForscherInnen fest, war [2][in | |
der DDR mehrfach tabuisiert]. Offiziell gab es so etwas im sozialistischen | |
Staat nicht, ebenso wie Kindesmisshandlung oder Kindstötung, die als | |
Auswüchse bürgerlicher Gesellschaften galten. Zudem gab es in der DDR kaum | |
Wissen über das Thema Kindesmissbrauch, weswegen Alarmsignale nicht erkannt | |
oder ignoriert wurden. Auch in den Familien war das Bewusstsein für die | |
Bedürfnisse von Kindern wenig ausgeprägt – die AutorInnen der Studie führen | |
das zum Teil auf die Doppelbelastung der meist voll berufstätigen Mütter | |
und den allgemeinen Arbeitszwang zurück. | |
Festgestellt wird, dass der Staat einen starken ideologischen | |
Anpassungszwang auf das Familienleben ausübte und das Jugendhilfesystem zur | |
politischen Disziplinierung missbrauchte. Wegen „abweichenden Verhaltens“ | |
wurden Kinder ihren Familien entzogen und von linientreuen Adoptiveltern | |
oder in Heimen aufgezogen. Eine Heimkarriere galt als Stigma, die | |
Betroffenen erlebten sich selbst als ohnmächtig in den „geschlossenen | |
Systemen innerhalb eines geschlossenen Systems“, wie die DDR-Heime in der | |
Studie genannt werden. | |
Wie dieses System funktionierte, zeigt die Biografie von René Münch, der | |
bereit ist, sich am Rande einer Konferenz im Familienministerium mit der | |
taz zu treffen. Der kräftige Mann, graues Haar, gewinnendes Lächeln, wirkt | |
wie einer, den so schnell nichts umhaut. Und doch wurde der 57-Jährige | |
seine gesamte Kindheit über in DDR-Heimen misshandelt. | |
## Mit Hepatitis infiziert, um Medikamente zu testen | |
Als Sohn einer „Republikflüchtigen“ im Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf | |
geboren, wo man ihn mit Tuberkulose und Hepatitis infizierte, um | |
Medikamente an ihm zu testen. Dann kam er ins Dauersäuglingsheim, | |
anschließend in das Normalkinderheim, wo die Tests weitergingen. Münch | |
erinnert sich an Aufenthalte in Quarantänestationen und Schwächephasen. | |
Mit sechs Jahren schickte man ihn für einige Monate zur Mutter. „Die Frau | |
war schwer krank, ich hatte keine Beziehung zu ihr“, sagt Münch. Der | |
Lebensgefährte der Mutter war Alkoholiker, schlug den Jungen und | |
vergewaltigte ihn. Im Rückblick vermutet Münch, dass ihn das Jugendamt ins | |
offene Messer laufen ließ: Man wollte die Mutter, die jahrelang um ihr Kind | |
stritt, als Erziehungsberechtigte ausschalten. | |
Danach kam Münch in ein Spezialheim für schwierige Kinder. Dort wurde er | |
von zwei Erziehern und älteren Kindern misshandelt und missbraucht. „Mit | |
mir konnten sie tun, was sie wollten, ich hatte keine Geschwister, keinen | |
Rückhalt, keinen Rückzugsort.“ | |
## Die Schuld des DDR-Staates auf 500 Seiten | |
Münch, der sich selbst als Kämpfer bezeichnet, suchte nach seiner | |
Entlassung Kontakt zur Mutter. Als erwachsener Mann rekonstruierte er | |
später seine Familiengeschichte und erfuhr von mehreren Geschwistern, von | |
denen einige auch in Heimen aufwuchsen. Als man ihm sagte, seine Heim- und | |
Krankenakten seien unauffindbar, drohte er den Behörden mit Hungerstreik | |
und erhielt daraufhin 500 Seiten, die dokumentieren, wie umfassend sich der | |
DDR-Staat an ihm und seiner Familie schuldig gemacht hatte. | |
Heute arbeitet Münch in der Clearingstelle mit und sichtet Anträge anderer | |
Betroffener. Seinen eigenen Missbrauch und die Medikamententests zeigte er | |
2013 an, 2014 stellte er einen Antrag auf Opferentschädigung. Passiert ist | |
bis heute nichts. | |
Auch die VerfasserInnen der am Mittwoch vorgestellten Studie bemängeln, | |
dass die Akteneinsicht für Betroffene oft nur mit kundiger Unterstützung | |
gelinge. Eine Empfehlung ist das Aussetzen der Verjährungsfrist für | |
sexuellen Missbrauch. Betroffene brauchten 10 bis 15 Jahre, bis sie in der | |
Lage seien, zu sprechen. | |
## Nur zwei Anzeigen – und keine Verurteilung | |
Außer René Münch hat nur ein weiterer der Befragten Anzeige erstattet. Eine | |
Verurteilung gab es in beiden Fällen nicht, weil nach so langer Zeit die | |
Erinnerung der Betroffenen die Bedingungen für die Glaubwürdigkeitsprüfung | |
nicht mehr erfüllen. Da Übergriffe in den Heimen wie in den Familien meist | |
nicht dokumentiert seien, gälten sie als unbewiesen, weswegen auch Anträge | |
auf Opferentschädigung abgelehnt worden seien. Auch Rehabilitierung erfolge | |
nur für politische Verfolgung, nicht aber für Übergriffe in Heimen. Zudem | |
sei die Antragstellung oft retraumatisierend, die Erfahrung, dass man ihnen | |
nicht glaube, verletzte die Betroffenen tief. | |
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Opfer sexueller Gewalt in DDR-Heimen | |
nur unzureichende Entschädigung erfahren. Nur acht Betroffenen sei es | |
gelungen, je 10.000 Euro Sachmittel aus dem Heimkinder-Fonds (Ost) zu | |
bekommen, doch sei dieser nur für kurze Zeit abrufbar gewesen, von Juli | |
2012 bis September 2014. | |
Nur fünf der Betroffenen hätten ein gutes Einkommen – die meisten hätten | |
mehrfach gebrochene Erwerbsbiografien, litten unter körperlichen und | |
psychische Folgeschäden, viele seien auf Sozialleistungen angewiesen. | |
Zu den Missständen, die die Studie bemängelt, gehören zu wenige passende | |
Therapieangebote, vor allem im ländlichen Raum, und zu bürokratische | |
Genehmigungsverfahren. Selbsthilfestrukturen müssten gefördert und gestärkt | |
werden, auch die Zeitzeugenprogramme, besonders im Rahmen lokaler | |
Erinnerungskultur, müssten ausgebaut werden. | |
## Sexueller Missbrauch kein DDR-Spezifikum | |
Trotz aller nötigen Aufarbeitung, so das Schlussfazit der Studie, sei | |
sexueller Missbrauch aber kein DDR-Spezifikum – und auch nicht historisch | |
abgeschlossen. So sieht es auch René Münch: „Über mich ist ja nicht der | |
gesamte Staatssozialismus hergefallen, sondern einzelne Personen – und die | |
müssen sich verantworten“, sagt er. | |
Die gewonnenen Erkenntnisse, so die Studie weiter, seien jetzt zu nutzen, | |
um den Blick zu schärfen für die geschlossenen Räume in unserer | |
Gesellschaft. Für Renate Viehrig-Seger heißt das: Nicht aufhören, Zeugnis | |
abzulegen und zu kämpfen. „Damit nie wieder ein Kind erleben muss, was ich | |
erlebt habe.“ | |
6 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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